Alkoholsucht ist auch ein weibliches Problem |
Verena Schmidt |
19.10.2023 14:50 Uhr |
Immer mehr Frauen trinken zu viel Alkohol. Die Übergänge von riskantem Trinken zu einer Alkoholabhängigkeit sind dabei oftmals fließend. / Foto: Adobe Stock/Danil Nikonov
Statistisch gesehen trinken Männer nach wie vor mehr Alkohol als Frauen und entwickeln auch häufiger ein Suchtproblem. Aber die Frauen holen auf: Die Zahl derer, die riskante Mengen trinken, steigt Experten zufolge seit Jahren. Laut dem Alkoholatlas Deutschland 2022 des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) führten die Corona-Lockdowns dazu, dass vor allem Frauen und Personen, die bereits vor der Pandemie riskante Mengen tranken, mehr Alkohol konsumierten. Stress, die Betreuung von Kindern sowie negative Auswirkungen der Pandemie auf den Beruf und auf die finanzielle Situation steigerten demnach die Wahrscheinlichkeit, dass die Menschen ihren Alkoholkonsum während des Lockdowns erhöhten.
Dem Alkoholatlas zufolge konsumieren rund 11 Prozent der erwachsenen Frauen wöchentlich zu viel Alkohol, bei den Männern sind es 16 Prozent – insgesamt entspricht das knapp 8 Millionen Menschen in Deutschland. Bei beiden Geschlechtern stieg der Anteil riskant konsumierender Menschen von 2018 auf 2021 an.
Als riskanter Alkoholkonsum gilt bei Frauen mehr als ein Standardglas Alkohol pro Tag, bei Männern mehr als zwei Standardgläser. Ein Standardglas enthält zwischen 10 und 12 g reinen Alkohol, zum Beispiel ein kleines Bier (0,3 l), ein Glas Weißwein (0,125 l), Sekt (0,1 l) oder Schnaps (4 cl).
Als risikoreich gilt auch die Einnahme von großen Alkoholmengen innerhalb von kurzer Zeit. Als Rauschtrinken (Binge Drinking) gilt bei Männern, wenn sie fünf oder mehr Standardgetränke bei einer Gelegenheit konsumieren, bei Frauen gilt das ab vier Getränken.
Die Übergänge von einem riskanten zu einem missbräuchlichen Alkoholkonsum und zu einer Abhängigkeit sind fließend (siehe auch Kasten). Als Alkoholmissbrauch wird per Definition jeder Alkoholkonsum bezeichnet, der – unabhängig von der getrunkenen Menge – zu Schäden führt. Das können soziale, psychische und gesundheitliche Schäden sein, beispielsweise Unfälle im Straßenverkehr, Probleme am Arbeitsplatz sowie Aggression und Gewalt als Folge von Alkoholkonsum. Eine Abhängigkeit schließlich ist eine Krankheit, die sich meist schleichend entwickelt, oft über Jahre hinweg. Die Sucht ist nicht prinzipiell eine Frage der konsumierten Alkoholmenge, kennzeichnend ist vielmehr die Unfähigkeit, willentlich zu kontrollieren, wie viel getrunken wird. In Deutschland gelten Schätzungen zufolge 1,7 Millionen Menschen als alkoholabhängig.
Die Wirkung von Alkohol unterscheidet sich bei Frauen und Männern grundsätzlich nicht. Doch weil Frauen einen geringeren Anteil an Körperflüssigkeit haben, verteilt sich die getrunkene Menge Alkohol im Körper bei ihnen weniger als bei Männern. Die Blutalkoholkonzentration ist bei gleicher Alkoholmenge bei Frauen also höher. Zudem bauen Frauen Alkohol langsamer ab, da bei ihnen das Enzym Alkoholdehydrogenase in geringerer Menge vorliegt. Daher kann es bei ihnen auch schneller zu alkoholbedingten Leberschäden und auch Leberkrebs kommen. Darüber hinaus steigert Alkoholkonsum bei Frauen das Risiko, an Brustkrebs zu erkranken. Studien zeigen, dass Alkohol die Produktion des weiblichen Geschlechtshormons Östrogen im Körper fördert, wodurch das Risiko steigt.
Und das ist noch nicht alles: Alkoholkonsum ist prinzipiell an der Entstehung von mehr als 200 Krankheiten beteiligt. Dazu gehören neben Leber- und Brustkrebs auch bösartige Geschwulste in Mundhöhle, Rachen, Kehlkopf und Speiseröhre sowie Darm. Mehr als 20.000 Krebsneuerkrankungen ließen sich in Deutschland im Jahr 2022 Schätzungen zufolge auf den Konsum von Alkohol zurückführen (rund 14.000 bei Männern und 6200 bei Frauen), heißt es im Alkoholatlas. Darmkrebs macht mit etwa 45 Prozent den größten Anteil aller durch Alkoholkonsum mitbedingten Fälle aus.
Dazu erhöht Alkohol das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Typ-2-Diabetes sowie Schädigungen des Gehirns und des Nervensystems. Das kann sich durch Konzentrations- und Gedächtnisstörungen bis hin zur Demenz, Persönlichkeitsveränderungen und Polyneuropathien zeigen. Auch Magengeschwüre, eine Entzündung der Bauchspeicheldrüse (Pankreatitis), Hypertonie oder Depressionen können sich als Folge von langjährigem Alkoholkonsum entwickeln.
Definition nach DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders IV): Missbrauch besteht bei Erfüllung von mindestens einem der folgenden Kriterien im Zusammenhang mit Alkoholkonsum, sofern keine gleichzeitige Alkoholabhängigkeit besteht:
Abhängigkeit besteht bei Erfüllung von mindestens drei der folgenden Kriterien im Zusammenhang mit Alkoholkonsum:
Die wohl typischste Folge eines langjährigen Alkoholmissbrauchs ist eine Leberentzündung, eine Alkoholhepatitis mit Symptomen wie Druckgefühl im Oberbauch, Mattigkeit und Leistungsschwäche. Im weiteren Verlauf der Entzündung kommt es zu einem Umbau der Leber: Funktionsfähige Leberzellen werden durch narbiges, hartes Bindegewebe ersetzt. Das gesunde Lebergewebe wird dabei quasi verdrängt und Funktionen der Leber bei Stoffwechsel und Entgiftung werden zunehmend eingeschränkt.
Im fortgeschrittenen Stadium produziert die Leber dann unter anderem nicht mehr genügend Blutgerinnungsfaktoren, es kann zu Blutungen kommen. Die Hepatozyten bilden auch nicht mehr ausreichend Albumin und andere Transporteiweiße, es können Ödeme in den Beinen und eine Bauchwassersucht (Aszites) auftreten. Eine besonders gefürchtete Komplikation ist die hepatische Enzephalopathie, eine Schädigung des Gehirns durch Giftstoffe wie Ammoniak, die in der Leber nicht mehr ausreichend abgebaut werden. Bei andauerndem, langjährigem Alkoholismus ist die Leberzirrhose mit ihren Komplikationen die häufigste Todesursache.
Alkoholismus ist eine Erkrankung. Und deshalb ist ohne fachliche Hilfe der Ausstieg nur schwer zu schaffen. Ziel einer Therapie ist primär die vollständige Abstinenz, vor allem, wenn die Betroffenen schon an Folgeschäden des Alkoholkonsums leiden. Ist dies nicht möglich, wird zumindest versucht, die getrunkene Alkoholmenge zu reduzieren: Das kann natürlich auch ein Zwischenziel auf dem Weg zur Abstinenz sein.
Die S3-Leitlinie »Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen« unterscheidet bei der Therapie zwischen Kurzinterventionen und der sogenannten qualifizierten Entzugsbehandlung (QE). Bei der in der Regel ambulant durchgeführten Kurzintervention geht es darum, Menschen mit problematischem Alkoholkonsum in therapeutischen Gesprächen zu motivieren, weniger oder bestenfalls gar nichts mehr zu trinken. Hierfür können maximal fünf Sitzungen à 60 Minuten in Anspruch genommen werden. Studien zeigen, dass diese Maßnahme gute Erfolge erzielen kann.
Die echte Entzugsbehandlung, die QE, ist deutlich länger und aufwendiger. Sie gliedert sich in vier Phasen, die jeweils teils Monate bis Jahre dauern können: Motivationsphase, Akuttherapie, Rehabilitation und Stabilisierung. Die wichtigste Voraussetzung für eine Therapie ist, dass der Patient selbst einsehen muss, dass er ein Problem hat. Und er muss bereit sein, sein Verhalten zu ändern. Prinzipiell gilt auch: Je kürzer die Sucht besteht, desto besser ist die Prognose. Und eine stationäre Behandlung ist Erfolg versprechender als eine ambulante.
In der anfänglichen Motivationsphase geht es darum, den Patienten über seine Behandlungsmöglichkeiten zu beraten und in seiner Entscheidung für die Therapie zu bestärken. Im Anschluss daran folgt dann der körperliche Entzug für rund eine Woche unter ärztlicher Aufsicht, meist stationär in einer spezialisierten Klinik. Bei dieser akuten Entgiftung kommen auch Medikamente zum Einsatz. Häufig eingesetzt werden etwa Benzodiazepine, die Schwere und Häufigkeit von Alkoholentzugssymptomen, darunter auch Delirien oder Entzugskrampfanfälle, reduzieren. Bei Delir-Symptomen wie Halluzinationen, Wahn oder Agitation kommen zusätzlich Antipsychotika, laut Leitlinie insbesondere Butyrophenone wie Haloperidol zum Einsatz.
Auch das Sedativum Clomethiazol reduziert Schwere und Häufigkeit von Alkoholentzugssymptomen. Wegen seines Abhängigkeits- und Missbrauchspotenzials und einer geringen therapeutischen Breite darf es laut Leitlinie allerdings nur bei einer stationären Entgiftung, keinesfalls ambulant und in Kombination mit Benzodiazepinen, eingesetzt werden.
Ist der körperliche Entzug geschafft, wird die psychische Abhängigkeit angegangen. In der Rehabilitationsphase sollen die Weichen für eine langfristige Abstinenz gestellt werden. Wichtig ist in dieser Phase vor allem eine kognitive Verhaltenstherapie. Stationär dauert diese Therapiephase etwa 6 bis 16 Wochen, ambulant rund ein bis anderthalb Jahre.
Auch die letzte Therapiephase, die Stabilisierungsphase, kann mehrere Wochen bis Jahre andauern. Um längerfristig abstinent zu bleiben und den neuen Alltag ohne Alkohol bestreiten zu können, brauchen viele Patienten eine engmaschige ambulante Nachbetreuung, etwa durch eine Suchtambulanz oder einen Facharzt. Auch regelmäßige Treffen mit einer Selbsthilfegruppe (zum Beispiel Anonyme Alkoholiker, Blaues Kreuz, Guttempler) sind in dieser Phase und auch darüber hinaus hilfreich.
Während Rehabilitation und Stabilisierung kann ergänzend immer auch eine medikamentöse Rückfallprophylaxe gegeben werden. So können der Glutamatmodulator Acamprosat (Campral®) und der Opioidantagonist Naltrexon (Adepend®) die Abstinenz unterstützen: Acamprosat soll das Alkohol-induzierte Ungleichgewicht zwischen exzitatorischer und inhibitorischer neuronaler Transmission ausgleichen. Naltrexon besetzt Opioid-Rezeptoren im Gehirn, sodass die nach dem Alkoholgenuss ausgeschütteten körpereigenen Belohnungsmoleküle nicht mehr wirken. Die angenehme, berauschende Wirkung des Alkohols bleibt aus.
Sind Acamprosat und Naltrexon nicht erfolgreich, kann Disulfiram versucht werden. Der Wirkstoff ruft eine Alkoholintoleranz hervor, indem er das alkoholabbauende Enzym Aldehyddehydrogenase hemmt. Nach der Einnahme von Disulfiram funktioniert der normale Abbauweg von Ethanol über Acetaldehyd zu Essigsäure in der Leber nicht mehr, er bleibt auf der Zwischenstufe Acetaldehyd stehen. Die Anreicherung von Acetaldehyd im Körper führt dann zu unangenehmen Unverträglichkeitsreaktionen wie Übelkeit, Brechreiz und Kopfschmerzen. »Trotz der nur sehr schwach belegten Evidenz für Disulfiram wünschen sehr schwer abhängige PatientInnen oft selbst eine Verordnung«, heißt es in der Leitlinie. Da das entsprechende Präparat Antabus® in Deutschland seit 2011 keine Zulassung mehr hat, kann das Medikament nur über das Ausland importiert werden. Der Einsatz erfolgt dann off Label, die Kosten werden nicht von den Krankenkassen erstattet.
Nalmefen (Selincro®) wirkt ähnlich wie Naltrexon als Antagonist an µ-Opioidrezeptoren. Es hat jedoch eine etwas andere Indikation, und zwar ist es zugelassen zur Reduktion des Alkoholkonsums bei Männern, die mehr als 60 g Alkohol pro Tag trinken, und bei Frauen mit mehr als 40 g pro Tag. Eingenommen wird das Medikament nach Bedarf: An jedem Tag, an dem der Patient das Risiko verspürt, Alkohol zu trinken, sollte er möglichst ein bis zwei Stunden vor dem voraussichtlichen Konsum eine Tablette einnehmen. Wenn der Patient bereits begonnen hat, Alkohol zu trinken, ohne Nalmefen eingenommen zu haben, sollte er so bald wie möglich eine Tablette einnehmen.
Off Label wird auch Baclofen bei Alkoholabhängigkeit eingesetzt. Zugelassen ist der Wirkstoff eigentlich zur Behandlung von Spasmen der Skelettmuskulatur bei neurologischen Erkrankungen wie Multiple Sklerose. Baclofen soll dafür sorgen, dass kein Dopamin ausgeschüttet wird, wenn der Patient an Alkohol denkt. Das sogenannte Craving, das starke Verlangen nach dem Suchtmittel, soll verschwinden. Laut Leitlinie gibt es zu Baclofen allerdings widersprüchliche Ergebnisse, von den Autoren gibt es aktuell keine Empfehlung.
Prinzipiell gilt: Die Therapie der Alkoholabhängigkeit ist oft ein langer, nicht ganz einfacher Weg. Sie ist sehr individuell und muss immer an den Patienten und seine Lebensumstände angepasst sein. Auch psychische Begleiterkrankungen wie etwa Schizophrenie, Depressionen, Angststörungen, eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) oder eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sollten dabei berücksichtigt und entsprechend angegangen werden.