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Gender-Health-Gap

Alle Geschlechter im Blick

Die Medizin macht in der Regel keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Dieser Gender-Health-Gap kann dazu führen, dass Krankheiten falsch diagnostiziert und behandelt werden. Wo die Risiken liegen und was sich in der Versorgung ändern muss.
AutorKontaktBarbara Döring
Datum 14.08.2023  08:30 Uhr

Klingt es sinnvoll, einer hochbetagten zierlichen Frau die gleiche Dosis eines Arzneimittels zu verabreichen wie einem zwei Meter großen, jugendlichen Bodybuilder? Sicherlich ist das ein extremes Beispiel, bei dem es logisch klingt, dass Ärzte oder Ärztinnen bezüglich der Medikation noch einmal genauer hinschauen sollten. Doch auch wenn es keine gravierenden Abweichungen im Körperbau gibt, so macht allein schon das Geschlecht einen großen Unterschied. Und nicht nur Frauen sind diesbezüglich oft benachteiligt. Gerade bei der Diagnose bestimmter Krankheiten, die eher dem weiblichen Geschlecht zugeordnet werden, sind es die Männer, an die oft nicht ausreichend gedacht wird.

»Allein wenn wir vom biologisch binären Geschlecht – männlich und weiblich – ausgehen, sind die Unterschiede sehr groß und müssen berücksichtigt werden«, sagt Privatdozentin Dr. Ute Seeland, Fachärztin für Innere Medizin und Gendermedizinerin an der Charité Berlin im Gespräch mit PTA-Forum. Frauen sind nicht nur meist etwas kleiner und leichter als Männer, ihre Leber verstoffwechselt auch manche Wirkstoffe langsamer und andere schneller, sodass sie leicht über- oder unterdosiert werden können. Männliche Zellen haben dagegen zum Beispiel weniger Andockstellen für bestimmte Schmerzmittel, sodass sie höher dosiert werden sollten.

Die Tatsache, dass Männer und Frauen bei vielen Krankheiten unterschiedliche Symptome zeigen und anders behandelt werden müssen, ist inzwischen im Bewusstsein von Medizinerinnen und Medizinern angekommen. So stimmen in einer aktuellen Untersuchung der AXA-Versicherung, für die zwei repräsentative Umfragen durchführt wurden, 96 Prozent der Hausärzte und Hausärztinnen der Aussage zu, dass das Geschlecht bei der Behandlung eine Rolle spielt. Anders steht es um das Wissen in der Gesamtbevölkerung: Nicht einmal die Hälfte (49 Prozent) glaubt, dass dies relevant sei. Wenn es um konkrete Krankheitsbilder geht, ist das Wissen auch in Fachkreisen schon weniger ausgeprägt: 73 Prozent der Mediziner und Medizinerinnen sagten, dass das Geschlecht bei der Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie einem Herzinfarkt eine Rolle spielt. Dem stimmten nur 21 Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung zu. Auch bei psychischen Krankheiten sind sich 75 Prozent der Medizinerinnen und Mediziner der geschlechtsspezifischen Unterschiede bewusst. In der Gesamtbevölkerung sehen das allerdings nur 20 Prozent so.

Die Befragung zeigt aber auch, dass für eine geschlechtersensible Behandlung in der Praxis noch viele Fragen offen sind. So gaben mehr als die Hälfte (55 Prozent) der befragten Ärztinnen und Ärzte an, sich nicht sicher zu sein, ob sie aufgrund geschlechtsspezifischer Unterschiede schon einmal eine fehlerhafte Diagnose gestellt haben. Die Kluft, die sich durch Fehldiagnosen und falsche Behandlungen zwischen den Geschlechter auftut, wird als Gender-Gap-Health bezeichnet.

Herzinfarkt und Depression

Ein bekanntes Beispiel, dass Frauen eine schlechtere Prognose als Männer haben können, obwohl sie ein geringeres Erkrankungsrisiko haben und seltener betroffen sind, ist der Herzinfarkt. Während bei Männern das »typische« Alarmzeichen plötzlich starker Schmerzen im Brustkorb überwiegt, ist dieser bei Frauen weniger stark ausgeprägt. Bei ihnen sind die Symptome eher unspezifisch und äußeren sich unter anderem mit starker Müdigkeit, Atemnot, Übelkeit oder Rückenschmerz. Sie selbst, aber auch Ärztinnen und Ärzte nehmen die Zeichen deshalb oft nicht ernst, sodass ein akuter Herzinfarkt bei Frauen leichter übersehen wird und das Risiko höher ist, daran zu versterben als bei gleichaltrigen Männern.

Dagegen sieht es bei Männern bezüglich der Diagnose und Behandlung einer Osteoporose schlechter aus als bei Frauen. Denn in der Medizin hat die Osteoporose-Diagnostik bei Männern einen geringeren Stellenwert, da der Knochenschwund bei Frauen häufiger vorkommt. »Auch bei Depressionen ist inzwischen bekannt, dass Männer eher unterdiagnostiziert sind, da sie sich bei ihnen oft anders äußern als in den Lehrbüchern beschrieben«, sagt Seeland. Hier würde die Depression mit der weiblichen Symptomatik wie etwa Traurigkeit oder Zurückgezogenheit dargestellt, während Männer häufig eher aggressiv oder mit Suchtverhalten reagieren. Auch in der Rheumatologie gibt es sehr viele geschlechtsspezifische Unterschiede. So sind Frauen von rheumatischen Erkrankungen insgesamt häufiger betroffen als Männer und auch die Symptome sind oft unterschiedlich, sodass Männer hier eher unterdiagnostiziert sind. »Die geschlechtersensible Medizin ist also keine Frauenmedizin, sondern eine Medizin, die alle Geschlechter im Blick hat«, betont Seeland.

Und nicht nur das Geschlecht, auch andere Diversitätsfaktoren müssen Forscher und Mediziner künftig stärker mitdenken. »Alter, Ethnizität, Religion, Bildungsniveau und Bildungsverhalten wirken sich ebenfalls auf die Entstehung von Krankheiten und den Erhalt der Gesundheit aus«, betont Seeland, die am Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie an der Charité die biologischen und soziokulturellen Unterschiede zwischen den Geschlechtern in Bezug auf Gesundheit und Krankheit untersucht. Statt von Gendermedizin spricht sie deshalb lieber von »geschlechtssensibler Medizin unter Berücksichtigung der weiteren Diversitätsfaktoren«.

Mehr Rückenwind

Der systembiologische Ansatz, den männlichen und weiblichen Körper als eigenen Organismus zu sehen, wird inzwischen auch von der Politik unterstützt. So soll Gendermedizin im Medizinstudium als eigenes Fach etabliert werden. »Damit haben wir Rückenwind bekommen und die Forschungsanträge und Forschungsfragen werden immer differenzierter, um das fehlende Wissen zu den Geschlechtsunterschieden zu schließen.« Bislang wurden in Studien zur Entwicklung von Arzneimitteln vorwiegend männliche Versuchstiere und in der ersten Phase mit Probanden überwiegend Männer eingeschlossen. Denn bei Frauen, die an Medikamentenstudien teilnehmen, muss sicher sein, dass sie verhüten oder keinen Zyklus mehr haben. Das ist laut Seeland an sich schon sehr fragwürdig, angesichts der Tatsache, dass später alle Frauen vom Arzneimittel profitieren sollen.

Soll ein Arzneimittel auch für Frauen zugelassen werden, ist es erst in einer späteren Studienphase erforderlich, das weibliche Geschlecht aufzunehmen. »Ob und wie viele Frauen mit in eine Studie eingeschlossen werden, das passierte bislang sehr zufällig, sodass die Fallzahlen oft nicht ausreichen, um später eine differenzierte Auswertung machen zu können«, erklärt Seeland. Nicht selten ist bei einem neuen Arzneimittel deshalb die Nebenwirkungsrate bei Frauen höher als bei Männern. Manche Präparate müssten dann sogar wieder vom Markt genommen werden. Doch es kommt nicht nur darauf an, ausreichend viele Frauen in eine Studie aufzunehmen, sondern die Fallzahl so zu kalkulieren, dass für beide Geschlechter eine signifikante Aussage gemacht werden kann. »So waren in einer Studie zu einem Antikörper-Medikament zwar ebenso viele Frauen wie Männer eingeschlossen, doch es gab keine differenzierte Auswertung. Die Daten zeigten schließlich, dass der Antikörper bei Frauen sehr viel schlechter wirksam ist«, kritisiert die Expertin.

Ethische und finanzielle Frage

»Abgesehen von der ethisch-moralischen Frage, bei Frauen in Kauf zu nehmen, dass mehr Nebenwirkungen auftreten, weil die Dosierung zu hoch ist oder dass ein Medikament vielleicht gar nicht wirkt, ist es auch ein finanzielles Verlustgeschäft, wenn ein Medikament nach sehr hohen Entwicklungskosten wieder vom Markt genommen werden muss«, sagt Seeland. Letztlich käme man heute zu dem Schluss, dass es sehr viel günstiger ist, wenn Geschlechterunterschiede schon in der Grundlagenforschung mitgedacht würden.

Dass Erkenntnisse der geschlechtersensiblen Medizin nach und nach auch in der Praxis ankommen, zeigt das Beispiel der neuen Leitlinie für Bluthochdruck der European Society of Hypertension (ESH). »Das Wort ‚Women‘ kommt tatsächlich mehr als 200-mal vor«, sagt Seeland. »Das war bisher nicht der Fall, weil die Daten fehlten und auf einen Einheitsmenschen ausgerichtet waren.« Am geringsten sei das Wissen über Transpersonen, doch auch hier gebe es inzwischen große Forschungsansätze und erste Ergebnisse. »Je mehr wir den Fokus dahinsteuern, dass geschlechtssensible Fragen in der Forschung aufgenommen werden, umso mehr Daten können wir generieren und umso mehr können die Erkenntnisse in der Versorgung umgesetzt werden«, sagt Seeland.

Dosierung ansprechen

Was kann Kundinnen in der Apotheke geraten werden, wenn sie Bedenken haben, die richtige Dosierung zu erhalten? »Ich würde Patientinnen dazu motivieren, ihren Arzt oder ihre Ärztin darauf anzusprechen, ob ein Arzneimittel für Frauen überhaupt geprüft wurde«, sagt Seeland. »Auch wenn noch viele Daten dazu ausstehen, kann das Nachfragen zumindest dazu beitragen, dass mehr über geschlechtssensible Medizin nachgedacht wird«, sagt Seeland mit Blick in die Zukunft. Das große Ziel sei es, eine sehr viel mehr geschlechtergerechte und damit letztlich stärker personalisierte Medizin zu erreichen.

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