Alle Kinder gegen Grippe impfen? |
Ulrich Enzel |
01.02.2021 12:30 Uhr |
Nur chronisch kranke Kinder oder alle gegen Grippe impfen? Die Meinungen gehen auseinander. / Foto: Getty Images/ER Productions Limited
Anders als bei der Weltgesundheitsorganisation WHO zählen Kinder hierzulande laut den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission nicht zu den Gruppen, die vakziniert werden sollten. Die STIKO-Empfehlung zur jährlichen Influenzaimpfung im Herbst mit einem quadrivalenten Impfstoff zielt ausschließlich auf Kinder, Jugendliche und Erwachsene »mit erhöhter gesundheitlicher Gefährdung infolge eines Grundleidens« wie detailliert aufgeführten chronischen Erkrankungen und/oder einer Immundefizienz – und Personen ab dem 61. Lebensjahr. Die Experten der STIKO bekräftigen diese Empfehlung auch in Bezug auf die Coronavirus-Pandemie – vor allem mit dem Argument, dass bei einer begrenzten Menge an zur Verfügung stehenden Influenzaimpfdosen diese vor allem den Risikogruppen appliziert werden sollen. Die Sächsische Impfkommission (SIKO) empfiehlt dagegen die jährliche Influenzaimpfung bei allen Personen ab dem 7. Lebensmonat. Ab diesem Alter sind einige der inaktivierten Influenzimpfstoffe zugelassen (siehe Tabelle).
Details zur Dosis und Frequenz bei der Erstimmunisierung sind den jeweiligen Beipackzetteln zu entnehmen, denn bei einigen Impfstoffen sollen kleinen Kindern nur halbe Impfdosen injiziert werden, bei manchen wird die Erstimpfung zweimal appliziert. Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 2 und 17 Jahren können alternativ auch mit einem attenuierten Influenza-Lebendimpfstoff nasal (Fluenz Tetra®) geimpft werden, etwa wenn Hindernisse gegen eine Injektion vorliegen, wie eine Spritzenphobie oder eine Gerinnungsstörung. Der Hühnereiweiß-freie Impfstoff Fucelvax® Tetra ist ab einem Alter von 2 Jahren zugelassen.
Bereits in den vergangenen Jahren lag der Schwerpunkt der Grippesaison stets im Frühjahr (Beginn 2. KW, Höhepunkt 8.- 9. KW, Ende 14. KW). Die derzeit noch sehr geringen Influenza-Erkrankungszahlen lassen einen ähnlichen Verlauf auch für die jetzige Saison erwarten, doch könnte aufgrund der derzeitigen Pandemie-Beschränkungen die Influenza-Welle auch deutlich milder verlaufen. Da der Impfschutz 14 Tage nach der Injektion aufgebaut ist, kann zumindest bis Anfang Februar eine solche empfohlen werden.
Ende August empfahl der Kinderarzt Professor Dr. Johannes Hübner, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie, medienwirksam allen Eltern, ihre Kinder in diesem Jahr gegen Influenza impfen zu lassen. Auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, dem hohe Impfquoten gegen Grippe wichtig sind, wich von der STIKO-Linie ab und sprach sich dafür aus, dass jeder, der sich impfen lassen will, auch eine Grippeimpfung erhalten sollte.
Könnte eine generelle Impfung bei Kindern aller Altersgruppen sinnvoller sein, als diese auf die von der STIKO benannten Risikogruppen zu beschränken? Auch Kinder erkranken nicht selten selbst an Influenza und die meisten Fälle schwerer und komplizierter Verläufe treten bei solchen ohne chronische Erkrankungen oder Immundefizienz auf. Doch weit wichtiger als ein Individualschutz ist die durch eine solche Impfung zu erreichende »Gemeinwohl-Herden-Immunisierung«. Kinder sind der Hauptüberträger, der »Feuerbrand« der Influenza. Über alle Altersgruppen hinweg finden sich 80-mal mehr gegen Influenza-Seropositive als symptomatisch Erkrankte – und diese Rate dürfte bei Kindern noch höher liegen. Wer symptomlos Influenzaviren – oftmals über mehrere Wochen – trägt, ist der ideale, da gefährlichste Inkognito-Influenza-Verbreiter.
Aktuelle Studien aus Großbritannien beweisen gerade in jungen Jahren eine höchste Effizienz der Influenzaimpfung. In den geimpften Altersgruppen der 2- bis 17-Jährigen konnte eine Verringerung der Grippe-Erkrankungen um 94 % erreicht werden. Und über alle (auch die gar nicht Geimpften) Altersgruppen hinweg kam es in diesen »Kinder-Impf-Regionen« zu einer 74%-igen Reduktion der Notaufnahmen aufgrund bestätigter Influenzainfektionen. Das dürfte ein trefflicher Beweis der Wirksamkeit einer Herden-Immunisierung sein.
Auch jüngst in den Niederlanden publizierte Daten zum Schutz von 2- bis 18-Jährigen vor Influenzainfektionen durch den quadrivalenten Zell-basierten Impfstoff Flucelvax® Tetra beweisen eine hohe Wirksamkeitsrate (zwischen 47,6 % gegen die im Impfstoff enthaltenen Influenza B- und 42,1 – 80,7 % gegen Influenza A-Typen).
»Wir impfen mit den über 60-Jährigen die Falschen!« Dieser Vorwurf steht im Raum, und zwar vor allem deshalb, weil ab diesem Alter die Immunoseneszenz den Impferfolg beeinträchtigt. Zwar hat die STIKO auf diese Tatsache reagiert und empfiehlt die Influenzaimpfung ausdrücklich bei allen Personen, die als mögliche Infektionsquelle im selben Haushalt lebende oder von ihnen betreute Risikopatienten gefährden könnten. Aber selbst in dieser erweiterten Empfehlung werden die »Feuerbrand«-Kinder nicht ausdrücklich erwähnt, obgleich gerade diese eine großes Influenzagefahr für solche Risikopatienten darstellen.
In den vergangen Jahren erlauben immer bessere Untersuchungsmethoden einen sich ständig erweiternden Blick in die Welt der Immunreaktionen. Dies hat zu einer Abkehr von der strikten Einteilung des Immunsystems in ein unspezifisches und ein spezifisches geführt. Die Auseinandersetzung mit Bakterien und Viren und gleichermaßen mit Impfstoffen induziert weit über spezifisch gegen den jeweiligen Krankheitskeim oder Impfstoff hinausgehende Reaktionen. So konnte gesichert werden, dass eine Erst-Exposition mit Influenzaviren unser Immunsystem für das ganze Leben prägt. Weit effizienter erfolgt eine solche basale Immunstimulation, wenn der Influenza-Erstkontakt mit einem quadrivalenten Impfstoff erfolgt als durch die Infektion, bei der nur ein einziger Influenzavirus-Wildtyp abzuwehren ist.
Regelmäßige Grippeimpfungen vom Kindesalter bis zur Adoleszenz können noch weitere segensreiche Immunreaktionen induzieren. Denn symptomatische Influenza-Erkrankungen hinterlassen vor allem im Jugendalter ein breites Repertoire Influenza-spezifischer T-Zellen, die teilweise auch auf EBV(Epstein-Barr-Viren)-Viren reagieren, den Erregern nicht nur des gefürchteten Pfeifferschen Drüsenfiebers. Bei einer Neuinfektion mit EBV-Viren könnte diese immunologische Präformierung dienlich sein. Die Erkrankung mit einem Pfeifferschen Drüsenfieber erhöht das Risiko, in der Folge eine Autoimmunerkrankungen wie Multiple Sklerose zu entwickeln um das Zwei- bis Dreifache. Regelmäßige Impfungen gegen Influenza können möglicherweise das Risiko für eine solche komplexe Immunreaktion und sogar deren Autoimmunfolgen reduzieren.
Könnte die Grippeimpfung auch einen gewissen Schutz vor Covid-19 bieten? Zwei Studien aus Italien und den Niederlanden haben erste Auswirkungen der Grippeimpfung auf Häufigkeit und Schweregrad einer Covid-19-Infektion gesichert. Beide haben eine deutliche Reduktion gravierender Covid-19-Erkrankungen in der vergangenen Wintersaison gegen Influenza geimpfte Personen gegenüber Nichtgeimpften finden können. Während sich die italienische Studie auf über 65-Jährige konzentriert hat, war beim gesamten Personal eines niederländischen Krankenhauses eine Reduktion der Covid-19-Erkrankungen bei Geimpften um 39 % festzustellen. Zu bedenken: Auch aufgrund der nur sehr geringen Covid-19-Erkrankungen bei Kindern liegen ähnliche Daten für diese Altersgruppe nicht vor. Aber da als – zumindest eine – Ursache für diese generell verbesserte Immunantwort eine erhöhte Zytokin-Produktion eruiert werden konnte, dürfte auch für Kinder und Jugendliche ähnlich Positives zu erwarten sein.
Bezeichnung | Art des Impfstoffes | Herstellung | Applikation | Indikationsgruppe |
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Flucelvax Tetra | Influenza-Untereinheiten-Impfstoff aus Oberflächenantigen (Virusimpfstoff, inaktiviert, aus Zellkulturen) | Zellkultur | intramuskulär | ab zwei Jahre |
Fluenz Tetra | Influenza-Impfstoff (Virusimpfstoff, lebend-attenuiert) | Hühnereier | nasal | ab zwei Jahre bis einschließlich 17 Jahre |
Influsplit Tetra | Influenza-Spaltimpfstoff (Virusimpfstoff, inaktiviert) | Hühnereier | intramuskulär | ab sechs Monate |
Influvac Tetra | Influenza-Untereinheiten-Impfstoff aus Oberflächenantigen (Virusimpfstoff, inaktiviert) | Hühnereier | intramuskulär oder tief subkutan | ab drei Jahre |
Vaxigrip Tetra | Influenza-Spaltimpfstoff (Virusimpfstoff, inaktiviert) | Hühnereier | intramuskulär oder subkutan | ab sechs Monate, auch für Schwangere |
Xanaflu Tetra | Influenza-Untereinheiten-Impfstoff aus Oberflächenantigen (Virusimpfstoff, inaktiviert) | Hühnereier | intramuskulär oder tief subkutan | ab drei Jahre |
Coronaviren lösten bereits 2002 eine Pandemie aus: SARS. Ende 2019 ist in der ostchinesischen Millionenstadt Wuhan eine weitere Variante aufgetreten: SARS-CoV-2, der Auslöser der neuen Lungenerkrankung Covid-19. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronaviren.