Allergiekollaps und was dagegen hilft |
Was fliegt denn da? / © Getty Images/noelbesuzzi
Pollen befinden sich im wahrsten Sinne des Wortes im Aufwind; das belegen etwa sämtliche Analysen der Stiftung Deutscher Polleninformationsdienst (PID). Dr. Matthias Werchan stellte bei der ECARF-Pressekonferenz eindrückliche Zahlen für das vergangene Jahr vor. »Die Erle hatte 2024 eine außergewöhnlich frühe und trotz vieler Regentage intensive Pollensaison. Es war die drittstärkste seit mindestens dem Jahr 2000. Auch die Birkenpollen flogen früh und intensiv. Das gipfelte am Wochenende nach Ostern mit einem eindrucksvollen Peak. Dieser überschritt die Schwelle zur hohen Belastung im deutschlandweiten Mittel gleich mal um das 50-Fache – ein Novum in der Messhistorie seit Beginn dieses Millenniums und an zahlreichen Messstationen ein neuer Rekord.«
Und auch die Gräserpollenallergiker erlebten 2024 laut Werchan ein starkes Pollenjahr – »das zweitstärkste seit wenigstens 25 Jahren«. Im September, sonst eher für ein allmähliches Ausklingen der Pollensaison bekannt, wurden zum einen die bisher höchsten Ambrosiapollen-Konzentrationen der Messhistorie in Deutschland (seit 2006) sowohl an einem einzelnen Tag als auch in der Saisonbilanz registriert. Zum anderen legte der Beifuß nochmal richtig los und bescherte Deutschland nach dem üblichen Maximum während der ersten Augusthälfte ein zweites und gleichzeitig höheres Maximum gegen Ende September. »Dieses Phänomen hatten wir bislang in Deutschland noch nie. Die Betroffenen waren im vergangenen Herbst arg belastet.«
Und noch eine interessante Zahl stellte Werchan vor: Ein Kubikmeter Berliner Luft enthielt im vergangenen Jahr rund 122.000 Pollen und lag damit weit über dem Durchschnitt der Vorjahre. »Für die Jahre 2014 bis 2024 lag dieser Wert der Berliner Luft bei knapp 80.000 Pollenkörnern, wenn man alle Pollenarten berücksichtigt.« Der PID erfasst in der Hauptstadt seit vielen Jahren detailliert den Pollenflug von bis zu 70 verschiedenen Pollenarten.
»Allergien sind nicht nur eine medizinische Herausforderung. Wir müssen sie auch auf gesellschaftspolitischem Wege angehen. Wir brauchen mehr Aufklärung und Präventionsinitiativen, gezielte Bildungsprogramme bereits in den Schulen, außerdem angepasste Konzepte bei der Stadtplanung, allergikerfreundliche Zonen und angepasste Arbeitsplätze«, sagte Professor Dr. Torsten Zuberbier. Bei der Stadtbegrünung müsse etwa das allergene Potenzial von Bäumen stärker berücksichtigt werden, forderte der Vorstandsvorsitzende der ECARF-Stiftung.
Ein Konzept, das auch die Hauptstadt verfolgt. »Berlin setzt jetzt mehr auf nachhaltige Grün- und Blauflächen und strebt an, die erste Großstadt weltweit zu werden, die als allergikerfreundlich zertifiziert wird.« Bekannt ist das Label bislang von Urlaubsorten wie Galtür im österreichischen Tirol oder der Nordseeinsel Borkum. »Mit Maßnahmen wie dem ECARF-Qualitätssiegel, nachhaltiger Stadtbegrünung und gezielten Bildungsprogrammen reagiert die Hauptstadt auf die Herausforderungen des Klimawandels und schafft Lebensräume, die gesundheitliche, soziale und ökologische Aspekte vereinen«, meint Zuberbier.
Ein zentrales Element der Initiative sollen Bildungsprogramme sein, die mit speziell entwickelten Lehrmaterialien für Schulen und andere Bildungseinrichtungen im 'Allergie-Koffer‘ gebündelt werden. Darin enthalten sollen Informationsmaterialien sowie ein Notfall-Adrenalin-Pen zu Übungszwecken sein.
»Obwohl ein allergischer Schock genauso lebensbedrohlich wie ein Herzinfarkt ist, fehlt es bislang an öffentlichen Einrichtungen und Plätzen wie Schulen, Sportplätzen oder Schwimmbädern an Adrenalin-Autoinjektoren. Wir müssen dringend sicherstellen, dass sich das ändert und die Bevölkerung weiß, wie sie im Ernstfall richtig handelt«, fordert der Allergologe.
Die ECARF-Stiftung arbeitet daran, Wissen über Allergien flächendeckend zu vermitteln. Schulen und Kindergärten spielen dabei eine zentrale Rolle. »Noch immer gibt es zu viele Notfälle auf Schulhöfen oder in Kindergärten, weil ein Kind in den Schokokeks des anderen gebissen hat.« Schätzungen zufolge treten rund 15 Prozent aller Reaktionen auf Lebensmittelallergien oder Anaphylaxien in der Schule auf. Lehrkräfte, Eltern und Kinder sollen lernen, Allergien und ihre Symptome zu erkennen und zukünftig im Notfall schnell und sicher reagieren zu können. Zuberbier stellte eine nationale Einführung von Adrenalin-Notfallboxen in Aussicht, die sich an der erfolgreichen Verteilung von den in Deutschland bekannten Früh-Defibrillatoren orientiert.
Allergikergeeignete Ernährung ist für Menschen mit einer Nahrungsmittelallergie essenziell. Schon kleinste Mengen eines Allergens können im schlimmsten Fall einen anaphylaktischen Schock auslösen. »Das ECARF-Allergiesiegel unterstützt Familien dabei, sichere, für sie verträgliche Lebensmittel zu erkennen«, informierte der Allergie-Experte. Das international renommierte Siegel zeichnet seit 2006 allergiefreundliche Produkte des täglichen Bedarfs wie Kleidung, Kosmetika oder Waschmittel , Dienstleistungen und Umgebungen aus.
Eine weitere Orientierung biete die Checkwise-App, die durch das Scannen von Verpackungen potenzielle Allergene schnell aufzeigt und so einen sicheren Einkauf ermöglicht. Im Gegensatz zu anderen Scanner Apps scannt Checkwise den Text auf Lebensmitteln sowie Kosmetik- und Pflegeprodukten und ist unabhängig vom Barcode. Die App erkennt alle deklarationspflichtigen Allergene auf Lebensmittelverpackungen, Zusatzstoffe (E-Nummern) und Inhaltsstoffe der INCI-Listen in Kosmetika und Pflegeprodukten in mehreren Sprachen. Ganz neu ist das Erkennen von Zucker. Der Scan verrät Usern direkt, ob das gescannte Produkt die ausgewählten Allergene enthält. Darüber hinaus zeigt die App auch alle weiteren Allergene an, die das Produkt enthält, auch wenn diese nicht im persönlichen Allergie-Profil markiert wurden.
Ab Herbst werden zwei neue Apfelsorten den Markt bereichern. Das Besondere: Sie enthalten einen äußerst geringen Allergengehalt und sind deshalb auch für Patienten mit Oralem-Allergie-Syndrom geeignet. »Beide Sorten, die noch keinen Handelsnamen tragen, konnten von Apfelallergikern bei klinischen Studien über drei Jahre ohne Probleme gegessen werden. Beiden Sorten werden am ECARF-Qualitätssiegel erkennbar sein« sagte Professor Dr. Karl-Christian Bergmann, der mit seiner Arbeitsgruppe die neuen Apfelsorten entwickelt hat.
Hintergrund: Laut dem Allergologen haben rund 10 Prozent der Bevölkerung spezifische Antikörper gegen das Hauptallergen in Äpfeln (Mal d 1) entwickelt. Weil die Allergene in Baumpollen von Hasel, Erle oder Birke Ähnlichkeiten mit Proteinstrukturen in Äpfeln aufweisen, reagieren die Betroffenen kreuzallergisch mit einer Apfelallergie. »Deshalb folgt nach einer Birkenpollenallergie oftmals die Entwicklung einer Allergie auf Äpfel.«
Eine weitere Beobachtung des Berliner Apfelforschungsteams: Bei regelmäßigem Verzehr allergenarmer Äpfel ist offenbar eine Toleranzentwicklung möglich. Allergiker vertragen häufig alte Apfelsorten besser, beispielsweise Gloster, Altländer oder Hammerstein.
Die Erklärung: Alte Apfelsorten enthalten mehr der für Aroma und Säure zuständigen Polyphenole und weniger Allergene. Die neueren, beliebteren Sorten sind dagegen reich an Allergenen und arm an Polyphenolen. Da die sekundären Pflanzenstoffe dafür sorgen, dass der Apel sauer und herb schmeckt und dieser beim Anschnitt braun wird – also Eigenschaften, die beim Verbraucher weniger gefragt sind –, hat man sie weggezüchtet. Dagegen wurde bei vielen Neuzüchtungen die für Apfelallergiker besonders problematische Sorte Golden Delicious eingekreuzt.