Angst vor Spritzen ist behandelbar |
Spritzen-Phobie ist eine Erkrankung, die weitreichende negative Konsequenzen haben kann, wenn Betroffene aus Angst und Scham nicht mehr zum Arzt gehen. / Foto: Getty Images/michaeljung
Etwa 3 Prozent der Bevölkerung sind nach Expertenschätzungen über die gesamte Lebensspanne gesehen von einer sogenannten Blut-Spritzen-Verletzungsphobie betroffen. Was viele dieser Menschen nicht wissen: Sie können lernen, diese Ängste zu kontrollieren – und das sogar per Kurztherapie.
Das Max-Planck-Institut (MPI) für Psychiatrie in München beispielsweise bietet ein solches Kurztherapie-Programm gegen Spritzen-Phobie an, wie die Oberärztin der psychiatrischen Ambulanz des MPI, Angelika Erhardt, erklärt. Diese werde sogar von den Krankenkassen übernommen. »Das ist eine Erkrankung. Wir bewegen uns dann nicht im Rahmen von einem bisschen Angst vor der Spritze«, sagte Erhardt. Betroffene hätten wegen der Phobie negative Konsequenzen.
Bei Kindern und jungen Erwachsenen liege die Zahl der Betroffenen bei bis zu 20 Prozent. Über die gesamte Lebensspanne seien etwa 3 Prozent betroffen, da die Erkrankungshäufigkeit im höheren Alter soweit bekannt absinke, erklärt Erhardt. Die Besserungschancen seien gut: 90 Prozent der Teilnehmer verließen das Programm mit einer Impfung oder einer Blutabnahme. Sie hätten dann vielleicht trotzdem noch Angst vor Spritzen, wüssten aber damit umzugehen.
Menschen, die unter einer Spritzen-Phobie leiden und sich – vor allem im Hinblick auf Covid-19 – schnell impfen lassen möchten werden beim MPI in Einzelsitzungen unter anderem über die Erkrankung und die Symptome aufgeklärt, wie die Oberärztin der psychiatrischen Ambulanz des MPI und Projektgruppenleiterin des Programms, Angelika Erhardt, erläutert. In den Sitzungen werden demnach Fotos und Videos von Spritzen angeschaut sowie Spritzen in die Hand genommen. Kern der Kurztherapie sei die Exposition, in der Betroffene direkt mit der Angst konfrontiert werden.
Das Interesse an dem Programm sei hoch, sagt Erhardt. Zehn Patienten könne das MPI gleichzeitig in Einzeltherapien behandeln. Seitdem auch jüngere Generationen geimpft werden, hätten die Anfragen zugenommen – vorwiegend Patienten zwischen 20 und 35 Jahren zeigten Interesse.
Auch der Psychotherapeut Enno Maaß behandelt in seiner Praxis im niedersächsischen Wittmund Menschen mit einer Spritzen-Phobie. Er sieht Betroffene in seiner Praxis, die manchmal schwere Folgeerkrankungen haben – beispielsweise einen schlechten Zahnzustand oder unerkannte Diabetes-Erkrankungen. Aus Scham und Angst gingen manche Betroffene gar nicht mehr zum Arzt, sagt der stellvertretende Bundesvorsitzende der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung (DPtV).
Die Entscheidung und Motivation, eine Therapie zu machen, sei der größte Schritt für Betroffene. »Der Rest ist dann in der Regel gut behandelbar«, so Maaß. Es spiele zudem eine Rolle, wie lange jemand von der Phobie schon geplagt sei. Vom ersten Auftreten einer psychischen Erkrankung bis zur Psychotherapie würden bei vielen Erkrankungen zwischen sieben und zwölf Jahren vergehen, erklärt der psychologische Psychotherapeut. In manchen Fällen helfe eine Langzeittherapie besser als ein Kurzprogramm. In einer ambulanten Therapie erhalte man im Gegensatz zum Kurzprogramm ein zugeschnittenes und individuelles Angebot, das sich auch mit dem persönlichen Kontext wie dem familiären Umfeld und den bisherigen biografischen Erfahrungen beschäftige.
Ein Problem ist laut Maaß, dass sich Angststörungen über Vermeidungsverhalten verstärken. Bei jedem Vermeiden sei eine Lernkurve dabei, die dem Betroffenen bestätige, dass die Situation wirklich etwas Gefährliches an sich habe. »Dadurch, dass ich etwas vermeide, gebe ich mir selbst das Signal, dass es wohl besser ist, das zu vermeiden«, erklärt er.
Dass man die Phobie mithilfe von Vernunft nicht kontrollieren kann, ist dem Angsterkrankungs-Experten Borwin Bandelow zufolge typisch. Phobien spielten sich in einem Teil des Gehirns ab, über den man keine Kontrolle habe. Die Ursprünge solcher Ängste lägen weit in der Vergangenheit, erklärt der Psychiater und Psychologe an der psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen. Einst habe man sich möglichst nicht verletzen dürfen – schon, sich an einem Dorn zu stechen, habe im Zuge von Infektionen den Tod bedeuten können. »Alle Menschen haben eben einen Piks vermieden wie die Pest.«
Betroffenen rät Angstforscher Bandelow, sich mit der Angst direkt zu konfrontieren und sich impfen zu lassen. Bei einer sehr starken Phobie könne man sich notfalls ein Beruhigungsmittel verschreiben lassen und zur Impfung mitnehmen. Angehörige sollten behutsam mit Betroffenen umgehen und sie zu einem Impftermin begleiten. »Das Tun und Machen ist wichtiger als das Reden«, erklärt er.