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Vorsicht bei Polymedikation
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Arzneimitteltherapie im Alter verbessern

Ältere Menschen werden häufig übertherapiert, Polymedikation ist das Schlagwort und birgt Gefahren. PTA können mit ihrer Fachkenntnis dazu beitragen, sie zu verringern.
AutorKontaktCaroline Wendt
Datum 31.10.2025  16:00 Uhr

In Deutschland leben derzeit etwa 19 Millionen Menschen, die älter als 65 Jahre sind. Sie machen 23 Prozent der Gesamtbevölkerung aus – ein Anteil, der dank guter medizinischer Versorgung und des demografischen Wandels weiter zunehmen wird. Senioren stellen somit eine große Patientengruppe in den Apotheken dar – mit besonderen Anforderungen. Denn genau wie Kinder brauchen auch ältere Menschen unter Umständen angepasste Therapien. Hinzu kommt, dass viele Senioren mehr als nur ein Arzneimittel einnehmen. Die ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände berichtet in einem Faktenblatt zur Polymedikation, dass 42 Prozent der über 65-Jährigen täglich fünf oder mehr Medikamente einnehmen. Bei den 75- bis 80-Jährigen sind es demnach sogar mehr als acht Arzneimittel pro Tag.

»An erster Stelle stehen natürlich Medikamente gegen die sogenannten Zivilisationskrankheiten«, so Dr. med. Thea Laurentius, Leitende Oberärztin in der Geriatrie am Klinikum Oldenburg im Gespräch mit PTA-Forum. Neben Antihypertensiva, Antidiabetika, Cholesterinsenkern & Co. kämen zudem oft noch Arzneimittel gegen Demenz, Depressionen oder Morbus Parkinson hinzu. Viele Patienten würden außerdem Schmerzmittel – sowohl nicht-Opioide als auch opiathaltige – sowie Koanalgetika wie Gabapentin oder Pregabalin einnehmen.

Mit die meisten Probleme verursachen die anticholinerg wirksamen Medikamente, berichtet Laurentius, die gemeinsam mit Dr. med. Birgit Deutsch die Arbeitsgruppe Arzneimitteltherapie der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) leitet. »Anticholinergika können Mundtrockenheit verursachen und somit zu Appetitsminderung führen«, so Laurentius. Darüber hinaus kann diese Arzneimittelgruppe Darmträgheit und Obstipation, Herzrhythmusstörungen sowie Störungen im Zentralnervensystem (ZNS) wie Verwirrtheitszustände hervorrufen. »Kommt dann noch ein akuter Infekt dazu, kann das schnell im Delir münden«, weiß Laurentius zu berichten. Erkrankungen wie Harnwegsinfekte oder Lungenentzündungen gelten als sogenannte organische Stressoren. Sie können das Gehirn beeinträchtigen und dadurch das Risiko für arzneimittelbedingte Verwirrtheitszustände erhöhen.

Doch auch Diuretika können die kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigen. »Diuretika brauchen wir natürlich, aber es ist immer ein Balanceakt«, so die Medizinerin. Elektrolytentgleisungen und Exsikkose – also eine starke Austrocknung des Körpers – müssen stets im Blick behalten werden. Insbesondere bei der Einnahme mehrerer Diuretika oder der gleichzeitigen Therapie mit Antidepressiva kann der Elektrolythaushalt leicht entgleisen, das Natrium gefährlich sinken. »Gerade bei extremer Hitze muss man das im Hinterkopf behalten«, so die Expertin.

Problematisch sind auch Medikamente, die die QT-Zeit verlängern – also den Zeitraum von der elektrischen Erregung der Herzkammern bis zu deren Wiedererregung. Und auch die allseits beliebten Protonenpumpenhemmer (PPI) sollten der Medizinerin zufolge nur bei einer entsprechend abgesicherten Indikation eingesetzt werden: »Das sind tolle Medikamente, allerdings können sie beispielsweise das Osteoporoserisiko oder das Risiko für Clostridioides difficile-Infektionen erhöhen«, so Laurentius.

FRIDs

Einen besonderen Stellenwert in der Medikation älterer Menschen nehmen die sogenannten fall risk increasing drugs (FRIDs) ein – also Arzneimittel, die die Sturzgefahr erhöhen. »Dazu gehören beispielsweise Medikamente, die antiarrhythmisch wirken«, so die Expertin. Diese senken die Herzfrequenz und verringern zusätzlich die Kontraktionskraft des Herzens (negativ inotrop). »Während das bei einem jüngeren Menschen nur dazu führen würde, dass er vielleicht seine Straßenbahn verpasst, weil er nicht mehr so gut sprinten kann, kann einem älteren Patienten bereits beim normalen Aufstehen von einem Stuhl schwindelig werden«, beschreibt Laurentius das Problem.

Zu den FRIDs gehören klassischerweise auch Schlaf- und Beruhigungsmittel wie Benzodiazepine oder Z-Substanzen. »Diese Medikamente wirken muskelrelaxierend – das ist besonders dann problematisch, wenn die Patienten nachts auf Toilette müssen«, berichtet Laurentius. Selbst eine minimale Dosis reiche aus, um die Sturzgefahr zu erhöhen. Darüber hinaus würden die Substanzen die physiologischen Schlafphasen beeinflussen. Das Ergebnis: die Patienten sind am folgenden Tag nicht erholt und verspüren einen Überhang (Hangover). Zudem führen der Ärztin zufolge Benzodiazipine und Z-Substanzen schon nach wenigen Tagen und auch in niedriger Dosis zu Abhängigkeit.

Besonders kompliziert wird es, wenn Patienten mehrere Medikamente einnehmen. Neben der Wirkverstärkung oder -abschwächung können durch unpassende Medikamente auch sogenannte Verschreibungskaskaden in Gang gesetzt werden. Dabei werden Unerwünschte Arzneimittelwirkungen von Medikamenten fehlgedeutet und als eigenständiger, therapiebedürftiger Zustand betrachtet, erklärt Laurentius. Beispiel Amlodipin: »Der Calciumkanalblocker, der gerne bei Bluthochdruck verordnet wird, kann im Alter isolierte Unterschenkelödeme verursachen«, berichtet die Ärztin. Die richtige Herangehensweise sei der Wechsel zu einem anderen Blutdruckmedikament – beispielsweise Lercanidipin – und nicht die zusätzliche Verordnung eines Diuretikums. »Hier heißt es mitdenken und die Historie der Medikamente im Blick behalten«, betont die Laurentius.

Notfalldose im Kühlschrank

Bei Patienten, die ins Krankenhaus eingeliefert werden, ist das mitunter nicht immer leicht. »Ein großes Problem ist, dass es häufig keinen Gesamtmedikationsplan gibt«, bemängelt die Oberärztin. Sie hofft darauf, dass die elektronische Patientenakte bald flächendeckend – auch bei älteren Patienten – genutzt wird. Alternativ rät sie, den Bundesmedikationsplan in Papierform zu verwenden. »Raten Sie den Patienten, diesen Plan zusammengefaltet im Portemonnaie mit sich zu führen«, empfiehlt Laurentius.

Und zu Hause? Hier gibt es vom Deutschen Roten Kreuz (DRK) das System der Notfalldose. In diese Dose kommen der Medikationsplan und alle relevanten Patientendaten – die Dose selbst kommt in die Kühlschranktür. An der Innenseite der Wohnungstür informiert ein entsprechender Aufkleber.

»So weiß der Rettungsdienst direkt bei seiner Ankunft Bescheid«, so Laurentius. Und warum sollen die Patienten die Dose mit ihrem Medikationsplan gekühlt lagern? »Jede Wohnung hat einen Kühlschrank und der steht immer in der Küche, so muss der Rettungsdienst nicht lange nach dem Medikationsplan suchen«, erklärt die Expertin.

Mehr Fett, weniger Wasser

Woran liegt es, dass ältere Patienten so viel sensibler auf Medikamente reagieren? »Zunächst einmal altern alle Systeme unseres Körpers mit uns mit«, so Laurentius. Dadurch sind sie unter Umständen sensitiver. Zudem nimmt die Funktion verschiedener Organe mit dem Alter ab – speziell sind hier die Leber und noch expliziter die Nieren zu nennen. Lässt ihre Eliminations- und Entgiftungsleistung nach, muss dies bei der Dosierung einiger Medikamente unbedingt berücksichtigt werden. Rückschlüsse darauf liefern die Laborergebnisse der Nieren- und Leberwerte sowie der allgemeine Gesundheitszustand des Patienten. Auch andere Systeme im Organismus verändern sich.

»Mit zunehmendem Alter sinkt der Anteil des Körperwassers, dafür steigt der Fettgehalt«, erklärt Laurentius. In der Folge wirken wasserlösliche Arzneistoffe wie Digitalisglykoside oder einige Antidiabetika stärker und fettlösliche Medikamente – etwa Benzodiazepine – werden länger im Körper gespeichert. Zudem sinkt auch der Anteil des Eiweißes, an das viele Arzneistoffe normalerweise gebunden sind und dadurch nicht für die Interaktion mit der Zielstruktur zur Verfügung stehen. Weniger Eiweiß bedeutet in diesem Fall also mehr Wirkung.

»Vieles ist da auch noch gar nicht so richtig verstanden – eventuell funktionieren sogar einige Ionenkanäle anders«, berichtet die Expertin. Ein großes Problem ist ihrer Meinung nach auch, dass die meisten Arzneimittelstudien nicht mit betagten Probanden durchgeführt werden. »Die Studienteilnehmer sind in der Regel Männer um die 50 Jahre, maximal sind sie vielleicht 70 Jahre alt«, bemängelt die Oberärztin. Für Patienten jenseits der 80 gäbe es ähnlich wie bei Kindern kaum Untersuchungen, ob und wann eine höhere oder niedrigere Dosierung sinnvoll sei.

Nicht immer geeignet

Die veränderten körperlichen Gegebenheiten sind auch bei einigen Arzneiformen von Bedeutung, weiß Laurentius zu berichten, so etwa bei den transdermalen Systemen: »Schmerzpflaster sind eigentlich sehr gut, da sie den Wirkstoff kontinuierlich abgeben – aber mangelernährte Patienten haben oft zu wenig Unterhautfettgewebe«, erklärt die Expertin. Somit könne der Wirkstoff nicht ausreichend aus dem Pflaster resorbiert werden.

Auch bei Patienten mit einem schwankenden Volumenhaushalt kann ein Schmerzpflaster unter Umständen nicht die geeignete Therapieform sein: Ist die Haut aufgrund einer unzureichenden Hydrierung schlecht durchblutet, wird der Wirkstoff möglicherweise nur unzureichend resorbiert. Eine individuelle Dosisanpassung kann zudem in Phasen starker Hitze erforderlich sein, da hohe Außentemperaturen die Wirkstofffreisetzung aus dem Pflaster beschleunigen und somit zu einer Überdosierung führen können.

Tropfen und Säfte werden in der Regel als gut einzunehmen eingeschätzt. Doch viele dieser Zubereitungen sind extrem bitter – beispielsweise Metamizol. »Hier muss der Patient gefragt werden, ob er das akzeptieren kann«, so Laurentius.

Ein weiteres Problem flüssiger Arzneiformen: Sie sind häufig mit kindersicheren Verschlüssen versehen. »Diese Verschlüsse sind absolut sinnvoll, aber man muss schauen, ob der Patient in der Lage ist, die Flasche auch allein zu öffnen«, erklärt Laurentius. Ein Hilfsmittel wie ein Flaschenöffner-Hilfsmittel (zum Beispiel Tenura® Anti-Rutsch-Flaschenöffner) kann in solchen Fällen helfen.

Gleiches gilt für Augentropfen oder Asthmasprays: Tropfhilfen (wie Autodrop™) oder Spacer können unter Umständen einen entscheidenden Unterschied machen. »Hier muss man sich wirklich mal gemeinsam Zeit nehmen und mit dem Patienten besprechen, mit welchem Device er zurechtkommt«, so die Ärztin. Auch gezieltes Nachfragen, ob die Handhabung funktioniert, sei wichtig.

Genau dosiert

Und die gute alte Tablette? Hier lohnt es sich ebenfalls, genau hinzuschauen. So haben beispielsweise Patienten mit Mundtrockenheit Probleme beim Schlucken. Sind die Tabletten zu klein, kann es allerdings ebenfalls schwierig sein – beim Sehen und Greifen, insbesondere dann, wenn die Tabletten vorher noch halbiert werden müssen.

Hilfreich sind in vielen Fällen Wochendosetts, bei denen die Patienten selbst, Angehörige oder Pflegekräfte die Tabletten für eine Woche richten, so Laurentius. Schwierig ist hier allerdings die Handhabung mit Betäubungsmitteln, die aus Stabilitätsgründen und aus Gründen der (Kinder-)Sicherheit nicht vor der Einnahme aus ihrem Blister entnommen werden sollten. »Da muss man dann individuell schauen, wie man das macht«, sagt Laurentius. Eine Lösung sei beispielsweise, einen Erinnerungsaufkleber auf dem Dosett anzubringen. Wenn das nicht funktioniert, könne es auch sinnvoll sein, die Medikamente durch die Apotheke richten zu lassen.

Digitale Anwendungen zur Erinnerung an die Tabletteneinnahme steht Laurentius differenziert gegenüber: »Auch wenn viele Senioren inzwischen sehr geübt im Umgang mit dem Smartphone sind, haben sie dennoch oft das Handy nicht permanent zur Hand«, erklärt sie. Liegt das Gerät beispielsweise gerade in einem anderen Raum und wird daher nicht gehört, hilft auch die beste Erinnerungs-App nichts. Daher müsse genau geschaut werden, für wen sich eine solche Anwendung eigne. Einige Anwendungen lassen sich allerdings mit dem Hausnotrufsystem koppeln. Diese intelligenten Systeme kombinieren den Notrufknopf mit Funktionen wie der Erinnerung für die Tabletteneinnahme oder der Trinkerinnerung (zum Beispiel Caru Care oder KUUS.S2, AlmaPhil). »Die Patienten tragen dann nur eine Uhr, die alles regelt«, so Laurentius.

Vorteil Stammapotheke

»Das Schöne bei unseren älteren Patienten ist, dass sie meist eine Stammapotheke haben«, lobt Laurentius. »Man kennt sich«, und PTA sowie Apotheker können in vielen Fällen auf ihr Bauchgefühl vertrauen. Spricht der Patient weniger oder undeutlicher als üblich, wirkt er verwirrt oder stolpert er gar fast in die Apotheke hinein, lohnt es sich in jedem Fall, die Person darauf anzusprechen: »Ich kenne Sie anders – fühlen Sie sich gerade schlecht oder krank?« Oft helfe auch ein Blick in die Stammdaten, ob das neu verordnete Medikament vom Facharzt ein Interaktionspotenzial mit einem anderen Arzneimittel auf der Liste hat. »Die meisten Hausärzte sind total dankbar, wenn sie aus der Apotheke einen Hinweis bekommen«, so die Medizinerin.

Und gerade beim schwierigen Thema der freiverkäuflichen Arzneimittel und Nahrungsergänzungsmittel kommt es mitunter vor, dass Patienten den Apothekenmitarbeitern eher etwas anvertrauen als dem Haus- oder Klinikarzt, berichtet die Oberärztin. »Hier lohnt es sich, ganz gezielt nachzufragen«, betont die Medizinerin – auch nach Präparaten, die sich die Patienten gegebenenfalls in der Drogerie gekauft haben oder von Angehörigen mitbringen ließen. »Das geht sonst leicht vergessen«, so Laurentius. Insbesondere bei Johanniskraut mit seinen zahlreichen Wechselwirkungen oder Ginkgo, das die Blutungsneigung verstärken kann, ist es sinnvoll, nachzuhaken.

Laurentius ist der festen Überzeugung: Ohne Apotheken geht es nicht. »Ich bin immer dankbar, wenn meinen Stationsapothekern etwas auffällt«, betont sie. »Wir sind gemeinsame Player im Gesundheitswesen.« Eine gute Betreuung der Patienten sei nur zusammen möglich: »Wir können es nur gemeinsam – und wir machen es auch gerne gemeinsam.«

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