Kein Lifestyle-Problem |
04.01.2017 11:17 Uhr |
Von Ulrike Viegener / Die verbreitete Auffassung, Patienten mit chronischer Verstopfung könnten ihren Darm durch mehr Bewegung, große Trinkmengen und ballaststoffreiche Ernährung auf Trab bringen, ist ein Irrglaube. Laxanzien sind besser als ihr Ruf und je nach Wirkstoff dürfen die Arzneimittel durchaus auch über längere Zeiträume angewendet werden.
Tatsächlich scheint ein Zusammenhang zwischen Bewegung und Obstipation zu bestehen, denn laut großen Kohortenstudien leiden körperlich aktive Menschen seltener unter chronischer Verstopfung als Bewegungsmuffel. Der Umkehrschluss, mehr Bewegung könne chronische Obstipation bessern oder gar beheben, ist jedoch falsch: Keine der vorliegenden Studien ergab einen signifikanten Effekt von Bewegungsprogrammen auf die Darmmotilität.
Ähnlich ist es mit dem Trinken: Zwar kann Obstipation mit zu geringer Flüssigkeitszufuhr in Zusammenhang stehen. Als therapeutische Maßnahme wirkt sich vermehrtes Trinken jedoch nur bei dehydrierten Menschen günstig auf Verstopfung aus. Liegt die tägliche Trinkmenge ohnehin im Rahmen der empfohlenen 1,5 bis 2 Liter, bringt noch mehr Flüssigkeit in aller Regel nichts.
Auch die Empfehlung, mit mehr Ballaststoffen einen trägen Darm wieder in Gang zu bringen, entbehrt einer soliden wissenschaftlichen Grundlage. Richtig ist, dass faserreiche Kost bei gesunden Menschen Stuhlfrequenz und Stuhlvolumen erhöht. Nicht richtig ist jedoch die Vermutung, Obstipierte würden sich eher ballaststoffarm ernähren. Bezogen auf die Ballaststoffzufuhr ergaben Studien keinerlei Unterschied zwischen Menschen mit normalem Stuhlgang und Menschen mit chronischer Verstopfung. Daher verwundert es nicht, dass der erhöhte Verzehr ballaststoffreicher Lebensmittel in vielen Fällen nicht zum gewünschten Erfolg führt.
Schuss nach hinten
Die Autoren der aktuellen S2k-Leitlinie zur chronischen Obstipation empfehlen zwar einen Therapieversuch mit Ballaststoffen, räumen aber gleichzeitig ein, dieser Schuss könnte nach hinten losgehen: Nicht selten werden die Beschwerden dadurch noch verschlimmert, das heißt, die Aufnahme von mehr Ballaststoffen führt vermehrt zu Blähungen und Bauchkrämpfen.
Die Wirksamkeit von löslichen Ballaststoffen wie Flohsamen ist hingegen besser belegt als die von Kleie und Leinsamen. Speziell für das Reizdarm-Syndrom ist zudem nachgewiesen, dass die löslichen Ballaststoffe besser verträglich sind. Ganz wichtig: PTA oder Apotheker sollten die Anwender darauf hinweisen, dass sie Flohsamen immer mit einem großen Glas Wasser im Mischungsverhältnis von mindestens 1:10 zu sich nehmen sollen.
Ende eines Mythos
Laut Untersuchungen leiden in Deutschland bis zu 15 Prozent an chronischer Obstipation. Damit zählt dieses Problem zu den häufigsten Gesundheitsstörungen. Die Zahl der Erkrankten steigt mit dem Alter, Frauen sind deutlich häufiger betroffen als Männer. Und um mit einem weiteren Mythos aufzuräumen: Geschlechtshormone spielen – abgesehen von der Schwangerschaft – für die verringerte Darmmotilität eine untergeordnete Rolle.
Definitionsgemäß liegt Obstipation vor, wenn die Stuhlentleerung seltener als dreimal pro Woche erfolgt. Experten sind sich jedoch darüber einig, dass sich das Pathophänomen über die Stuhlfrequenz nicht ausreichend charakterisieren lässt. So haben manche obstipierte Patienten unter größten Anstrengungen täglich Stuhlgang. Außerdem ist erwiesen, dass die Transitzeit des Nahrungsbreis im Darm eher von der Stuhlkonsistenz abhängt.
Laut der aktuellen Leitlinie besteht chronische Obstipation, wenn die Stuhlentleerungen mindestens drei Monate lang unbefriedigend waren und mindestens zwei der folgenden Leitsymptome vorliegen:
Diskretion gefragt
Viele Betroffene fragen erst einmal in der Apotheke nach frei verkäuflichen Arzneimitteln, um ihren Darm auf Trab zu bringen. Das Beratungsgespräch sollte möglichst in einem geschützten Bereich abseits von anderen Kunden erfolgen, denn viele Menschen scheuen sich, über Verdauungs- beziehungsweise Stuhlprobleme zu sprechen. Zunächst einmal gilt es zunächst zu klären, ob tatsächlich eine Obstipation besteht. Wer nicht jeden Tag »Verdauung hat«, ist deshalb nicht gleich obstipiert.
Erhärtet sich der Verdacht auf eine Verstopfung, folgen Fragen nach der Dauer der Beschwerden und nach Begleitsymptomen. Bei akuter Obstipation – ohne erkennbare Ursache – sollte der Betroffene zeitnah einen Arzt aufsuchen, damit dieser ernste Ursachen abklärt. Dies gilt auch bei Blut im Stuhl. Dunkles Blut im Stuhl ist ein Hinweis auf eine Blutung im Magen-Darm-Trakt und damit ein Alarmsymptom, helles Blut stammt eher von Hämorrhoiden oder Analfissuren. Schleim im Stuhl sowie unklare Schmerzen und plötzlicher Gewichtsverlust können ebenfalls auf eine ernste Erkrankung hinweisen. Auch chronische Verstopfung sollten die Betroffenen nur dann selbst behandeln, wenn der Arzt die Selbstmedikation befürwortet.
Die Frage nach Medikamenten gehört ebenfalls zum Beratungsgespräch. Ergeben sich Verdachtsmomente, dass ein Arzneimittel die Verstopfung ausgelöst hat, kommt eine Dosisanpassung oder die Umstellung auf ein alternatives Medikament in Frage. Diese Entscheidung fällt selbstverständlich der behandelnde Arzt. Welche Arzneimittel Verstopfung hervorrufen sowie weitere Beispiele für Obstipationsursachen siehe Kasten.
In vielen Fällen chronischer beziehungsweise immer wiederkehrender Obstipation finden Ärzte bei der diagnostischen Abklärung allerdings keine konkrete Ursache. Diese Fälle heißen dann idiopathische chronische Obstipation. Auch das Reizdarm-Syndrom, bei dem es unter anderem einen sogenannten Verstopfungstyp gibt, galt lange als psychosomatische funktionelle Erkrankung ohne konkreten Befund. Die genaue Erforschung dieses Krankheitsbildes hat allerdings einige Normabweichungen ergeben: So scheinen bei den Patienten sowohl die Barrierefunktion als auch die Immunaktivität der Darmschleimhaut gestört zu sein. Diese Ergebnisse schließen allerdings einen Zusammenhang mit der Psyche nicht aus.
Grundsätzlich hat die Psyche großen Einfluss auf die Darmmotilität. Die gezielte Befragung von Menschen mit Obstipationsbeschwerden ergibt häufig Hinweise auf akuten oder chronischen Stress. Menschen mit chronischen Verdauungsproblemen sollten daher versuchen, Stress zu reduzieren oder lernen, anders mit ihm umzugehen.
Maximal zwei Wochen
Bei ärztlich nicht abgeklärter Verstopfung ohne verdächtige Begleitsymptome kommt die Selbstmedikation kurzfristig in Frage. Die Betroffenen müssen wissen, dass sie das empfohlene Arzneimittel nicht länger als zwei Wochen einnehmen sollten. Mittel der ersten Wahl sind laut der aktuellen Leitlinie Macrogol, Natrium-Picosulfat und Bisacodyl. Dieselben Wirkstoffe eignen sich – nach Arztkonsultation –auch für die längerfristige Anwendung.
Die Autoren der Leitlinien sprechen sich für ein stufenweises Vorgehen aus: An erster Stelle steht der Therapieversuch mit löslichen oder natürlichen Ballaststoffen. Auf der zweiten Stufe kommen die genannten Mittel der ersten Wahl zum Einsatz und Zuckerstoffe wie Lactulose beziehungsweise Anthrachinone als Mittel der zweiten Wahl. Ist mit diesen Substanzen kein befriedigendes Ergebnis zu erzielen, nennen die Experten auf der dritten Stufe das Prokinetikum Prucaloprid sowie den Guanylatcyclase-C-Agonisten Linaclotid. Suppositorien und Klysmen sind die erste medikamentöse Option, wenn eine Entleerungsstörung klar im Vordergrund steht.
Angst vor Gewöhnung
Die weit verbreitete Furcht vor Gewöhnungseffekten durch Laxantien ist laut Leitlinie unbegründet. Auch in der Schwangerschaft bestehen keine Einwände gegen die Anwendung von Macrogol, Natrium-Picosulfat und Bisacodyl. Die Dosierung sollte individuell angepasst werden, die Wahl der Darreichungsform sich nach den Vorlieben des Patienten richten. Elektrolytfreie Macrogol-Präparate sollten bevorzugt werden, zumal Elektrolytverluste bei Verstopfung ohnehin nicht zu erwarten sind.
Obwohl Probiotika im Stufenschema nicht erwähnt werden, spricht nichts gegen einen Therapieversuch, zum Beispiel mit Bifidobacterium animalis ssp. lactis DN-173010, Lactobacillus casei Shirota beziehungsweise Escherichia coli Stamm Nissle 1917, bei funktioneller chronischer Obstipation. Ihre gute Verträglichkeit macht diese Probiotika zu einer alternativen Therapieoption, vor allem bei Kindern und Schwangeren. /