Chancen und Risiken |
26.02.2009 11:31 Uhr |
Chancen und Risiken
von Rolf-Günther Westhaus
Arzneimittel verlieren zunehmend ihren besonderen Status. Dies liegt daran, dass es viele Medikamente in Drogerien oder im Internet zu kaufen gibt. Damit sinkt auch die Hemmschwelle, diese Mittel auszuprobieren, ohne vorher den Arzt oder Apotheker zu befragen. Auf mögliche Gefahren der Selbstmedikation sollten PTA oder Apotheker die Patienten hinweisen.
Fast alle im Gesundheitswesen Tätigen befürworten den Trend zur Selbstmedikation. Allerdings lässt sich so mancher Kunde durch die Werbeaussagen der Pharmafirmen in seiner Kaufentscheidung beeinflussen. Die scheinbar wissenschaftliche Werbung gibt ihm das Gefühl, gut informiert zu sein. So kennen PTA und Apotheker aus ihrem Berufsalltag die Situation, dass sie einem Kunden vom Kauf des gewünschten Arzneimittels abraten und ihm stattdessen ein wirksameres Medikament empfehlen.
Kurzfristig ist die Einnahme der meisten Präparate aus der Selbstmedikation unbedenklich. Langfristige Anwendungen sind per se riskant. Des Weiteren sollten ältere Personen, Schwangere, Kinder und chronisch Kranke mit Medikamenten aus der Selbstmedikation besonders vorsichtig und zurückhaltend agieren. Verlangt ein Patient in der Apotheke selbstsicher ein Medikament gegen seine Beschwerden, müssen PTA oder Apotheker die Eigendiagnose kritisch hinterfragen. Eventuell müssen sie ihm von der Selbstbehandlung abraten und ihn an den Arzt verweisen.
Etwa ein Achtel der frei verkäuflichen Medikamente entfällt auf Arzneimittel gegen Beschwerden im Magen-Darm-Trakt. Die häufigsten Indikationen, die den Verbraucher zum Kauf von Magen-Darm-Präparaten veranlassen, sind Sodbrennen, Durchfall und Verstopfung.
Durchfall selbst behandeln
Durchfall vergeht oft ohne Behandlung. Arzneimittel aus der Selbstmedikation lindern aber die Beschwerden und verkürzen den Heilungsprozess. Folgender Fall aus dem Apothekenalltag verdeutlicht, wann PTA oder Apotheker hellhörig werden sollten: Ein Patient leidet wiederholt unter Durchfall und geht davon aus, dass es sich um eine harmlose Sache handelt. Das Medikament, das er ab und zu in der Apotheke kauft, bessert die Beschwerden. Doch nach Absetzen des Arzneimittels tritt die Diarrhö erneut auf. Theoretisch ist es möglich, dass der Patient bestimmte Lebensmittel nicht verträgt und diese den Durchfall verursachen. Doch bei häufigerem Durchfall könnte sich auch eine schwerwiegende entzündliche Darmschleimhauterkrankung, beispielsweise Morbus Crohn, Colitis ulcerosa oder das Reizdarm-Syndrom, dahinter verbergen. Mit den freiverkäuflichen Medikamenten behandelt der Patient zwar erfolgreich seine Symptome, von einer Heilung der eigentlichen Krankheit ist er jedoch weit entfernt.
Das Verschleppen der Krankheit könnte sogar noch fatalere Folgen haben. Darmschleimhautentzündungen weisen im Extremfall auf einen Tumor hin. So wäre es theoretisch denkbar, dass die dauerhafte Einnahme der Antidiarrhoika den Patienten vom Arztbesuch abhält und dadurch die Diagnose Darmkrebs verzögert. Bei der frühzeitigen Diagnose eines Darmtumors bestehen große Chancen auf Heilung. Zur Abklärung der Ursache sollten PTA oder Apotheker dem Patienten den Arztbesuch empfehlen.
Liegt den Beschwerden keine ernsthafte Erkrankung zugrunde, helfen Probiotika-Präparate, die zum Teil den Status eines Nahrungsergänzungsmittels haben. Sie unterstützen den Aufbau einer gesunden und intakten Darmflora, beispielsweise nach einer Antibiotika-Therapie. Sie vermindern oder beheben Verstopfung, Blähungen, Übelkeit und Durchfall. Probiotika eignen sich auch als Begleitmedikation bei entzündlichen Darmschleimhauterkrankungen .
Das richtige Magenmittel
Auch Magenschleimhautentzündungen behandeln Patienten oft nur rein symptomatisch und damit falsch. Werden sie nicht rechtzeitig und richtig therapiert, können sie sich zu einem Magengeschwür entwickeln. Noch schwieriger ist es selbst für Fachleute, eine Bauchspeicheldrüsenentzündung als Ursache der Magenbeschwerden zu erkennen. PTA oder Apotheker sollten Patienten beim Kauf eines Arzneimittels aus der Selbstmedikation also immer darauf hinweisen, das Präparat nur kurzfristig anzuwenden. Kehren die Beschwerden nach Absetzen des Medikaments jedoch wieder, verbergen sich möglicherweise schwerwiegendere Krank-heiten hinter der harmlosen Symptomatik.
Manche Patienten halten oft über viele Jahre an einem altbekannten Arzneimittel fest und wissen nicht, dass in der Zwischenzeit sehr viel wirksamere oder besser verträgliche Medikamente entwickelt worden sind. So vertrauen einige Kunden auf Natriumhydrogencarbonat-haltige Produkte. Als Hausmittel gegen Sodbrennen erfreuen sie sich nach wie vor großer Beliebtheit. Tatsächlich neutralisieren sie auch die Magensäure. Doch bei dieser Neutralisation entsteht CO2, so dass die Betreffenden nach der Einnahme der Tablette oder des Pulvers mehrfach aufstoßen müssen. Außerdem bewirken die Produkte eine kompensatorische Hypersekretion, das heißt, als Folgereaktion wird mehr Salzsäure produziert. Daher sollten PTA oder Apotheker den Patienten ein Präparat empfehlen, das die Magensäure schonend neutralisiert. Geeignet sind Arzneimittel mit Aluminium- und/oder Magnesiumsalzen oder ein nicht rezeptpflichtiger H2-Rezeptorenblocker wie Famotidin oder Ranitidin. Allerdings dürfen diese nur über einen kurzen Zeitraum eingenommen werden.
Wechselwirkungen beachten
Eine wichtige Information für die Patienten, die Antacida in der Selbstmedikation kaufen, ist der Hinweis auf mögliche Wechselwirkungen mit verordneten Arzneimitteln. Die enthaltenen Aluminium- oder Magnesiumsalze können durch Komplexbildung die Wirkung anderer Arzneistoffe vermindern oder ganz verhindern. Bei Unsicherheiten zeigt ein Blick in die Interaktionsdatenbank, beispielsweise der ABDA, ob der Patient das Antacidum gleichzeitig mit seinen anderen Medikamenten nehmen darf oder einen zeitlichen Abstand einhalten muss.
Unsinnig sind Präparate, die angeblich den Säure-Base-Haushalt beeinflussen beziehungsweise der »Übersäuerung« des Körpers entgegenwirken. Manche Hersteller propagieren, dass die meisten Menschen in einer permanenten Acidose leben, das heißt, ihr Körper »zu sauer« ist. Die empfohlenen Tabletten können nicht das leisten, was sie versprechen: eine Neutralisation des Organismus. Denn weder die pH-Werte des Blutes noch die der Gewebeflüssigkeit lassen sich verändern.
Abführen ohne Teufelskreis
Abführmittel nehmen eine Sonderstellung innerhalb der OTC-Präparate gegen Beschwerden des Magen-Darm-Trakts ein. Es hört sich zwar banal an, aber Abführmittel sind nur mit größter Vorsicht zu gebrauchen. Untersuchungen zufolge ist bereits bei jedem vierten Patienten, der Abführmittel nimmt, der Tatbestand des Arzneimittelmissbrauchs erfüllt. Diese Patienten benötigen bis zu 100 Tabletten in drei Wochen und können den Teufelskreis nicht mehr ohne fachmännische Hilfe durchbrechen.
Abführmittel bergen grundsätzlich die Gefahr, dass der Konsument den leichtesten Weg geht. Die Dragees oder Tabletten ersparen ihm, sich mehr zu bewegen und ausgewogener sowie ballaststoffreicher zu ernähren. Neben der Tatsache, dass eine falsche Ernährung auf Dauer krank macht, ist die langfristige Einnahme von Abführmitteln ebenfalls schädlich. Die meisten Präparate wirken, indem sie die Darmperistaltik fördern und eine Rückresorption von Wasser und der darin gelösten Mineralien hemmen. Langfristig werden dem Körper auf diese Weise Salze und Flüssigkeit entzogen, was den Darm noch träger macht. Gerade pflanzliche Abführmittel verstärken oft die Passivität des Darms. Die Folge: Der Verbraucher reguliert seine Verdauung beziehungsweise den Stuhlgang ausschließlich mit Laxanzien.
Nimmt ein Patient Abführmittel, so hat dies Auswirkungen auf seinen Kaliumhaushalt. Kalium wiederum ist unter anderem für die Herzmuskelaktivität von großer Bedeutung. Patienten, die aufgrund einer Herzinsuffizienz Medikamente verordnet bekommen, sollten daher Abführmittel nur in Absprache mit ihrem Arzt einnehmen. Sie sind durch einen Kaliumverlust besonders gefährdet.
Unvermutete Nebenwirkungen
Pflanzliche Präparate, vor allem Tees, gelten bei den meisten Menschen als harmlose, sanfte Medizin. Dass auch Phytotherapeutika durchaus physiologische Wirkungen haben, wissen die meisten Laien nicht. Tees, die zur »Entschlackung« oder zur »Blutreinigung« angepriesen werden, enthalten oft pflanzliche Abführ- oder Entwässerungsmittel. Viele Menschen mit Verdauungsproblemen nehmen gerade diese als »harmlos« geltenden Präparate unreflektiert und dauerhaft ein. PTA und Apotheker müssen dann Aufklärung leisten, dass diese Produkte Nebenwirkungen haben und der langfristige Gebrauch mit Risiken verbunden ist. Außerdem ist die Bezeichnung »Blutreinigung« schlichtweg falsch und müsste verboten werden.
Zur Verharmlosung mancher pflanzlicher Präparate tragen oft auch die Namen bei. Nur zu häufig verführen die Produktnamen zu einem sorglosen und unreflektierten Gebrauch. Wer denkt bei Aloe-Extrakt nicht an ein unbedenkliches Hausmittelchen? Aloe-Extrakt ist ein drastisch wirkendes Abführmittel, das sich nicht zur Dauereinnahme eignet.
Besonderheiten kennen
Ein zentrales Problem der Selbstmedikation ist die nicht sachgemäße Einnahme beziehungsweise Anwendung von Medikamenten. Bei der Selbstbehandlung eines trägen Darms tritt relativ häufig das Problem auf, dass die Patienten Quellmittel mit zu wenig Flüssigkeit einnehmen. Doch bei zu geringer Flüssigkeitszufuhr hat das Quellmittel exakt den gegenteiligen Effekt: Statt abzuführen, kann es sich im Darm verfestigen und einen Pfropfen bilden, der den Darm komplett verschließt.
Bei Präparaten aus der Selbstmedikation sind PTA oder Apotheker oft die einzigen, die den Verbraucher über die möglichen Gefahren informieren und ihn fachlich beraten. Somit sind vornehmlich sie es, die durch ihre kompetente Beratung und Betreuung der Patienten zur Arzneimittelsicherheit beitragen. Die Selbstmedikation verpflichtet PTA und Apotheker dazu, auf die Produktwünsche und -bedürfnisse der Kunden einzugehen und sie therapie- und arzneimittelbezogen zu informieren. Nur so ist Selbstmedikation ethisch und gesundheitsökonomisch vertretbar.
E-Mail-Adresse des Verfassers:
info(at)apotheke-westhaus.de