Sucht, die heimliche Krankheit |
26.02.2009 11:17 Uhr |
Sucht, die heimliche Krankheit
von Annette van Gessel, Isny
Die Grenzen zwischen einem gesunden Verlangen und krankhafter Sucht sind nicht immer leicht zu ziehen. Ist die Frau schon kaufsüchtig, weil sie wöchentlich einen Einkaufsbummel macht, oder der Mann onlinesüchtig, weil er jeden Abend drei Stunden im Internet surft? Dem Thema Sucht waren die 31. Isnyer Fortbildungstage für PTA gewidmet.
»Beim Wort Drogensucht denken Laien meist an Junkies und viele PTA wahrscheinlich an die Substitutionstherapie«, eröffnete Dr. Ernst Pallenbach, Krankenhausapotheker aus Villingen-Schwenningen, sein Einführungsreferat. Seit 2003 leitet Pallenbach den Arbeitskreis Sucht der Landesapothekerkammer Baden-Württemberg. Kaum jemand denke beim Stichwort Sucht an die Droge Nummer 1, das Nikotin. Eine stille Sucht sei die Arzneimittelabhängigkeit, weil sie den Betroffenen meist nicht bewusst sei. Auf die zunächst sinnvolle Einnahme folge erst der Missbrauch, dann die Gewöhnung und zum Schluss die psychische und auch physische Abhängigkeit. Häufig nähmen alte Menschen viele Jahre lang Tranquillanzien in der Überzeugung: »Das Arzneimittel hat mir mein Arzt verordnet, das kann mir doch nicht schaden.« Pallenbach forderte die Zuhörerinnen auf, bei Verdacht auf eine Arzneimittelabhängigkeit die Patienten anzusprechen. Es sei wissenschaftlich belegt, dass bereits eine kurze Ansprache genügt, Zweifel an der Richtigkeit des eigenen Verhaltens zu säen.
Nicht immer bedarf es einer chemischen Substanz, um süchtig zu werden. Als Beispiele nannte der Krankenhausapotheker die Spiel- und Sexsucht, Arbeits- und Internetsucht. In Deutschland seien derzeit etwa 650.000 Menschen süchtige Internetnutzer, die durchschnittlich 35 Stunden pro Woche online sind.
Drei Faktoren beteiligt
Als Erklärungsmodelle für die Entstehung einer Sucht existierten verschiedene Theorien, so der Apotheker. Das sogenannte Trias-Modell geht davon aus, dass an diesem Prozess immer drei Faktoren beteiligt sind: erstens die »Droge«, zweitens die Umwelt, also der Freundeskreis und die Eltern, drittens die Persönlichkeit, das heißt deren Resistenz gegenüber einer Verführung. Andere Experten sind davon überzeugt, dass für die Lebensgeschichte Süchtiger eine lange Episode ausweichenden Verhaltens typisch ist. Statt sich einem Konflikt zu stellen oder eigene Schwächen einzugestehen, griffen Süchtige zu Alkohol, Nikotin oder illegalen Drogen und entzögen sich so schwierigen Situationen. Als illegale Drogen mit einem hohen Suchtpotenzial nannte Pallenbach Heroin, Cocain und Ecstasy, als legale Drogen Alkohol, Nikotin und Benzodiazepine.
Aus eigenen Erfahrungen in der Suchtprophylaxe berichtete der Apotheker, es mache wenig Sinn, bei Vorträgen in Schulen Kinder und Jugendliche auf die gesundheitlichen Gefahren von Alkohol und Nikotin hinzuweisen und ihnen ein Schreckensbild an die Wand zu malen nach dem Motto: »Mit 50 stirbst Du an Lungenkrebs.« Das liege außerhalb ihres Erfahrungshorizontes. Er rechne den Schülern stattdessen vor, wie viel Geld sie für ihre Nikotin- oder Alkoholsucht ausgäben: »Im Jahr kommen leicht 2000 bis 3000 Euro zusammen. Dafür könntest Du Dir viele Wünsche erfüllen.«
Die Zahl der Arzneimittel-Abhängigen schätzen Experten in Deutschland auf 1,4 bis 1,5 Millionen. Mit 1,0 bis 1,2 Millionen stellen die Benzodiazepin-Abhängigen die größte Gruppe, davon sind zwei Drittel Frauen im mittleren bis höheren Lebensalter. Unbestritten hätten Hypnotika und Sedativa ein relativ hohes Suchtpotenzial, doch auch die Psychostimulanzien, Analgetika, Antitussiva, Appetitzügler, Grippemittel, Anabolika spielten eine Rolle. Laxantien und Nasentropfen ständen auf der Liste relativ weit unten, weil sie kein psychogenes Potenzial besitzen, berichtete der Apotheker. Entgegen weit verbreiteter Vorurteile verursachten retardierte Opiodanalgetika bei Patienten mit chronischen Schmerzen keine psychische Abhängigkeit. Das setze allerdings voraus, dass die Patienten die Analgetika nach einem festen Schema einnehmen und auf keinen Fall Schmerzen erleben. Patienten, die peripher wirksame Analgetika missbräuchlich anwenden, sollten sich in die Hände eines Schmerztherapeuten begeben, wenn sie das Arzneimittel absetzen wollen. Bei der Suche nach einem Schmerztherapeuten hilft die Deutsche Schmerzhilfe e.V., zu finden unter www.schmerzinfo.de.
Schlafstörungen trotz Medikament
Als ernst zu nehmendes Problem nannte Pallenbach den Missbrauch von Schlafmitteln. In Deutschland nähmen 5 Prozent der Männer und 12 Prozent der Frauen regelmäßig rezeptpflichtige Beruhigungs- und Schlafmittel ein, berichtete der Apotheker. Dennoch litten weiterhin 45 Prozent unter Schlafstörungen. Viele Frauen nähmen in den Wechseljahren zum ersten Mal ein Hypnotikum, weil sie durch die Hormonumstellung plötzlich Schwierigkeiten beim Ein- und Durchschlafen haben.
In der Konsequenz schluckten sie dann jahrelang Benzodiazepine. Vor allem ältere Menschen verstoffwechselten diese Substanzen langsamer, sodass die Sedierung länger anhält und sich das Sturzrisiko erhöht. Pallenbachs Rat: »Empfehlen Sie den Patienten, eine Tablette zwei bis drei Wochen lang eine halbe Stunde vor dem Schlafengehen einzunehmen und nicht erst, nachdem sie sich bereits mehr als eine Stunde schlaflos im Bett von einer Seite auf die andere gedreht haben.« Viele Patienten wären sich der potenziellen Suchtgefahr dieser Arzneimittel nicht bewusst.
PTA und Apotheker seien oft unsicher, wie sie das Thema Sucht bei den Patienten ansprechen sollten. Es gäbe verschiedene Punkte, um mit dem Patienten ins Gespräch zu kommen: Man könnte den Wirkungsverlust ansprechen, das erhöhte Sturzrisiko, eventuell morgendlichen Schwindel und Gehunsicherheiten. Pallenbach berichtete, dass er das Problem an seinem Arbeitsplatz, dem Schwarzwald-Baar-Klinikum in Villingen-Schwenningen thematisiert hat. In einer Gruppe von insgesamt 38 Patienten beendeten 21 die Einnahme und 7 reduzierten die Dosis. In allen Fällen wurde das Verhältnis zwischen Patient und Hausarzt gestärkt und nicht geschwächt. PTA und Apotheker sollten die regelmäßigen Besuche der Patienten mit einer Arzneimittelabhängigkeit als Chance verstehen, ihnen aus der Sucht herauszuhelfen. Dazu müssten sie viel Sensibilität für den Einzelnen entwickeln. »Bringen Sie einen Stein ins Rollen«, ermunterte Pallenbach die Zuhörerinnen.
Substitutionstherapie erfolgreich
Einen wichtigen Beitrag, Heroinabhängigen den Weg aus ihrer Sucht zu erleichtern, leisten die in der Substitutionstherapie engagierten Ärzte und Apotheker. Seit 2002 hätten Heroinabhängige einen gesetzlichen Anspruch auf eine Substitutionstherapie, berichtete Dr. Brigitte Schuler-Kuon, Ärztin für innere Medizin in Leutkirch. »Wir sehen in der Substitutionstherapie die einzige reelle Alternative zum Konsum illegaler Drogen«, bezog die Ärztin Stellung. Die Erfolge der flächendeckenden Substitution seien offensichtlich: Die Zahl der Drogentoten sei zurückgegangen ebenso die Überdosierungsfälle, die Zahl der HIV- und Hepatitis-C-Infizierten und die Beschaffungskriminalität. Viele Süchtige brauchten einen niederschwelligen Zugang zu einer Alternative. Dieser bestünde in den Apotheken und auch in den Arztpraxen. »Ohne die Hilfe der Apotheken könnten wir die Substitutionstherapie nicht durchführen«, so die Medizinerin. Sie seien bei der sogenannten Sichtvergabe der Ersatzdrogen extrem wichtig und auch bei der Take-Home-Vergabe am Wochenende. Bei ihrer Arbeit lege sie großen Wert auf die enge Kooperation zwischen ihrer Arztpraxis und der Apotheke.
Sie könne sich vorstellen, ihre Patienten ein Leben lang zu substituieren. Doch nach ihrer Erfahrung äußerten die Süchtigen nach einer gewissen Zeit der Substitutionstherapie den Wunsch, einen Entzug zu machen. Ganz wichtig sei es, zu Beginn der Substitution mit jedem Patienten individuelle Therapieziele zu formulieren. Zu dieser Liste gehören: die gesundheitliche, soziale oder psychische Stabilisierung, der Erhalt des Arbeitsplatzes oder der Lehrstelle, die Entkriminalisierung oder auch die Entschuldung. Schuler-Kuon schließt mit jedem Patienten einen schriftlichen Behandlungsvertrag ab, der die individuellen Therapieziele enthält. Um die Situation vieler Süchtiger zu stabilisieren, sei außerdem eine psychosoziale Begleitung durch Mitarbeiter der Caritas oder der Diakonie unbedingt nötig.
Neue Therapieziele
Im Unterschied zu früher gelte heute die absolute, lebenslange Abstinenz nicht mehr als einziges Therapieziel bei der Behandlung Süchtiger, ergänzte Dr. Thomas Fritschi, Chefarzt der Abteilung Suchterkrankungen des Zentrums Psychiatrie Weissenau. Bei vielen chronisch Suchtkranken strebten Ärzte stattdessen die Linderung des Leidens und seiner Folgen an. Zunächst müsse geklärt werden, in welcher Phase der Krankheitsentwicklung sich der Suchtkranke gerade befindet und welche Hilfen er benötigt. Dies könne nur ein Netzwerk leisten, an dem unter anderem Selbsthilfegruppen, Suchtberatungsstellen, niedergelassene Ärzte, Fachkliniken, Nachsorgeeinrichtungen und auch Apotheken beteiligt sind. Im Umgang mit Suchtkranken sei wichtig, diese zu unterstützen, ohne in ein co-abhängiges Verhalten zu geraten. Wertungen und Schuldzuweisungen seien im Umgang mit Süchtigen unangebracht. Außerdem solle man keine endlosen Diskussionen führen, aber offen seine Meinung äußern und nichts beschönigen. Falsch sei, hinter dem Rücken des Abhängigen zu agieren oder sogar für ihn Entscheidungen zu treffen. Helfen solle man nur bei Dingen, die der Kranke nicht allein erledigen kann. »Zeigen Sie, dass Sie ihn als Mensch schätzen, den Missbrauch aber ablehnen«, riet der Psychiater. Wer in seinem Berufsalltag mit Suchtkranken umgehe, solle sich möglichst intensiv über die Erkrankung informieren. Das verbessere das Verständnis für die Kranken und gleichzeitig auch den Umgang mit ihnen, empfahl Fritschi.
Wunde muss vorhanden sein
»Grundsätzlich ist es der Mensch, der ein Mittel zur Sucht werden lässt«, behauptete Dr. Jürgen Groll, Chefarzt der Hochgrat-Klinik Wolfsried. »Ein Mittel muss auf Narben treffen, damit es zur Sucht kommt.« An welcher Stelle seines Lebens ein Mensch in den Kreislauf der Sucht gerät, hinge davon ab, wie oft seine Bedürfnisse nach Nähe und Eingebundensein in eine Gemeinschaft unerfüllt geblieben sind. In diesem Geschehen spielten die ersten Lebensjahre eine besondere Rolle. Je häufiger Kleinkinder erlebten, dass die Eltern ihre Grundbedürfnisse nach Nahrung, Wärme und Geborgenheit wahrnähmen und erfüllten, umso gefeiter seien sie gegenüber einer Sucht, so Groll. Im anderen Fall entstünden Gefühle der Wut und Angst, gefolgt von Selbstzweifel, Selbsthass, Scham, Verzweiflung und Resignation.
Die Entstehungsgeschichte und den Ausstieg aus der Sucht erläuterte Groll am Beispiel des Alkoholismus. »Alkoholismus ist wie jede andere Sucht nicht durch den Willen des Betroffenen heilbar«, räumte Groll mit einem verbreiteten Vorurteil auf. Der Abhängige müsse zunächst seine eigene Hilflosigkeit anerkennen. Erst das eröffne die Chance auf Heilung. Mit zunehmender Sucht falle es Alkoholikern immer schwerer, ihr Leiden abzuwehren, sich und andere zu belügen. »Ein Alkoholiker kann dann trocken werden, wenn er bereit ist, sein Gesicht zu verlieren, um seinen Arsch zu retten«, formulierte der Mediziner drastisch. Nach dem Entzug müssten sie die Tatsache akzeptieren lernen, nicht geheilt, sondern ihr Leben lang gefährdet zu sein. Unterstützung erhielten Alkoholiker in der Selbsthilfegruppe der Anonymen Alkoholiker.
Ein häufiges Problem stellten die Angehörigen und Freunde der Alkoholiker dar. Als Co-Abhängige hielten diese die Sucht ihres Partners oder Freundes aufrecht. Nur selten seien sie sich ihrer Rolle bewusst. Oft ließen sie sich unter ihrer Würde behandeln, beklagten sich zwar darüber, änderten die Situation aber dennoch nicht. In den meisten Fällen ließen eher die Süchtigen die Beziehung als der Co-Abhängige, berichtete Groll. In der Konsequenz müssten die Co-Abhängigen ebenfalls therapiert werden, damit auch sie lernten, ihr Verhalten zu ändern.
Schamerlebnisse prägend
Der Diplom-Psychologe Wolfram Kölling, ein Mitarbeiter Grolls, berichtete von seiner Arbeit mit Süchtigen. Nach seiner Auffassung liegt der Urgrund der Suchtentstehung in Beschämungserlebnissen im Kleinkindalter. Fehlt der gute, liebevolle Blick der Mutter, erschrickt das Kind und ist beschämt. Erlebt es diese Beschämung ständig neu, entsteht in ihm das Gefühl, als Mensch nichts wert zu sein. Daher seien schamgeprägte Persönlichkeiten besonders suchtgefährdet. Der bekannte Satz: »Ich könnte vor Scham im Boden versinken«, mache deutlich, wie sehr uns die Scham in unseren Grundfesten als Mensch erschüttert. Doch es sei wichtig, Schamgefühle zuzulassen. Schamgeprägte Menschen vermissten die Anerkennung ihrer Mitmenschen. Paradoxerweise könnten viele Süchtige Lob nicht ertragen. »Immer mehr Menschen sind auf der Suche nach Anerkennung, und immer weniger Menschen geben ihnen diese«, behauptete der Psychologe.
»Erst wenn man die Scham behandelt, kann man die Sucht durchbrechen«, so Kölling weiter. Die drei Schritte der Genesung eines schamgeprägten Menschen bestünden aus dem Erkennen der eigenen Situation sowie der Fähigkeit, diese zu benennen und zu bekennen. Erst in der letzten Phase sei der Betreffende in der Lage, sich einem anderen Menschen vertrauensvoll zuzuwenden: »Ich mute mich Dir zu mit meinen Schwächen, Wünschen und Sehnsüchten.«