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Das Klistier

Im Kämmerlein oder als Spektakel

Datum 20.01.2012  15:45 Uhr
Bitte beachten Sie

Dies ist ein Beitrag aus unserem Archiv. Die Inhalte sind unter Umständen veraltet. Aktuelle Informationen zum Thema finden Sie auf unserer Themenseite Darm.

Von Ernst-Albert Meyer / Das Klistier, auch Klysma oder Einlauf genannt, gehört zu den ältesten bekannten Arzneiformen. Bereits 3000 Jahre vor Christus applizierten Ärzte ihren Patienten Flüssigkeiten in den Enddarm. Der Höhepunkt der Einläufe und entsprechenden Gerätschaften liegt allerdings zur Zeit des Barocks.

Der Begriff Klistier hat seinen Ursprung in dem griechischen Wort klysteer = Spüler. Zu einem Klistier gehören eine Flüssigkeit, die in den Enddarm eingespritzt wird, und das dazu notwendige Gerät, meist eine Klistierspritze. Seit 5000 Jahren haben Ärzte Klistiere zur Stuhlentleerung eingesetzt, aber auch zur Applikation von Arzneimitteln und Nährstoffen. Auf diese Weise wurden Kranke ernährt, die keine Speisen mehr aufnehmen beziehungsweise im Körper behalten konnten. Nährklistiere ­bestanden beispielsweise aus Brühe, Wein, Schleim, Milch, Eidotter oder püriertem Kapaunfleisch. Kapaune sind kastrierte und gemästete Hähne.

Hüter des Darmes des Pharao

Die alten Ägypter sahen im heiligen Ibis, einem storchenähnlichen Vogel, den Erfinder des Einlaufs. Sie beobachteten ihn bei der Körperpflege und vermeinten zu sehen, dass er seinen langen, mit Wasser gefüllten Schnabel in den After steckte. In Wahrheit führte der Vogel jedoch keine Darmspülung durch, sondern fettete nur sein Gefieder mit dem Sekret seiner Steißdrüse.

In Ägypten, 3000 Jahre v. Chr., waren die Heilkundigen und auch ihre Patienten davon überzeugt, dass Krankheiten durch Stauungen der Körpersäfte entstünden, beispielsweise von Blut und Schleim sowie der Atemluft, und nicht zuletzt durch eine Darmverstopfung. Aber auch »Krankheitsdämonen« verließen ihrer Meinung nach den Körper durch den Darm. Daher glaubten sie, ein Einlauf könne den Heilungsprozess beschleunigen.

Als Klistierflüssigkeiten verwendeten sie bei Verstopfung Ochsengalle, Öle oder wässrige Pflanzenauszüge. Die Verfasser des ägyptischen Papyrus Ebers beschrieben im 16. Jahrhundert v. Chr. unter anderem die Arzneiform des Klistiers und die dazu verwende­-ten Arzneimittel. Dieses wichtige Dokument der Medizin- und Pharmaziegeschichte ist eine der ältesten schriftlichen Aufzeichnungen der Mensch­-heit. Zu damaligen Zeiten goss der Arzt Flüssigkeiten durch ein Rinderhorn, dessen Spitze abgeschnitten war, in den Mastdarm.

Bei Ausgrabungen im Pyramidenfeld von Gizeh fanden die Archäologen im Jahr 1926 eine türartige Steinplatte. Sie zeigt auf verschiedenen Abbildungen den altägyptischen Hofarzt Iry. Ihm hatte der Pharao den Titel »Hüter des königlichen Darmausgangs« verliehen. In dieser Eigenschaft war er für die geregelten Ausscheidungen des Herrschers verantwortlich.

Der Einfluss des Hippokrates

Auch im alten Mesopotamien und im antiken Griechenland waren Einläufe sehr beliebt. Der berühmte griechische Arzt Hippokrates von Kos (460 bis 377 v. Chr.) lehrte, Gesundheit beruhe auf einem Gleichgewicht der Körpersäfte, und maß daher der geregelten Funktion der Verdauungsorgane eine besondere Bedeutung bei. Eine Obstipation wertete er als Ausdruck für ein Ungleichgewicht der Körpersäfte. Deshalb sollte ein Einlauf nicht nur die Verstopfung beseitigen, sondern auch die überschüssigen, krank machenden Körpersäfte entfernen. Typische Einlaufflüssigkeiten bestanden im Wesentlichen aus Wein, Öl, Milch, Honig und Wasser, die gemischt und bei Bedarf durch Pflanzenauszüge angereichert wurden.

Die Lehre von den Körpersäften bestimmte bis ins 19. Jahrhundert das Handeln der Ärzte. Aderlass, Schröpfen und Klistieren waren Jahrhunderte lang die gängigsten Methoden zur Prophylaxe und Therapie. Als sich die Mediziner Mitte des 19. Jahrhunderts von der Säftelehre distanzierten, verlor auch die Darmreinigung und damit das Klistier an Bedeutung. Jedoch blieben Teile der Säftelehre in der damals noch jungen Naturmedizin erhalten. So führen naturheilkundige Therapeuten auch heute noch unreine Haut sowie Kopfschmerzen oder Müdigkeit auf Verstopfung oder andere Funktionsstörungen des Darmes zurück. Ihre Theorie: Die im Stuhl vorhandenen Stoffwechselendprodukte könnten eine Selbstvergiftung des Organismus auslösen. Deshalb empfehlen einige naturheilkundige Therapeuten, bestimmte Kuren wie Frühjahrskuren mit Einläufen beziehungsweise Laxanzien zur Darmreinigung zu beginnen. Ein wissenschaftlicher Nachweis für diese Hypothese fehlt bis jetzt noch. Allerdings ist bekannt, welche wichtige Rolle der Darm bei der Immunabwehr des Körpers spielt.

Modelle zum Selbstgebrauch

Im Mittelalter entwickelten Ärzte, Chirurgen und Techniker interessante neue Klistiergeräte. Längst nicht mehr benutzten sie das Kuhhorn der Antike. Die ersten Klistierspritzen des 15. Jahrhunderts bestanden aus Metall und ließen sich in Kolben, Stempel und Kanüle zerlegen. Da immer der Apotheker das Klistier verabreichte, lehnten durchaus einige Patienten die Behandlung aus Schamgefühl ab. So schrieb der Arzt Reinier de Graaf (1641 bis 1673): »Häufig genug kam es bei unseren Patienten vor, dass sie sich aus Schamgefühl unter keinen Umständen dazu entschließen wollten, sich mit dieser Art rektaler Behandlung vor einem fremden Apotheker zu entblößen.«

Um auch verschämte Patienten für das Klistier zu gewinnen, verbesserte de Graaf das von dem französischen Chirurgen Ambroise Paré (1510 bis 1590) erfundene Gerät und entwickelte ein Selbstklistier für den Hausgebrauch. Denn das Vorläufermodell des Franzosen war unpraktisch in der Anwendung, sodass sich die Patienten häufig damit verletzten. De Graaf fügte zwischen Kolbenspritze und Einführungskanüle ein ausreichend langes und biegsames Zwischenröhrchen ein. Dieses bestand anfangs aus einem Geflügeldarm, später aus einem Lederschlauch. Mit dieser neuen Konstruktion konnte sich jeder selbst ein Klistier verabreichen, ohne auf die Hilfe einer anderen Person angewiesen zu sein.

Blütezeit am Hofe des Sonnenkönigs

Im 16. und vor allem im 17. Jahrhundert entwickelte sich eine regelrechte Klistier-Sucht. So predigte der Pariser Arzt Guy Patin 1652: »Man kann alle Krankheiten mit der Klistierspritze, der Aderlasslanzette und Cassia, Senna (Abführdrogen) und Sirup von hellen Rosen und Pfirsichblüten heilen.« Das Klistieren wurde zum Ritual, das tägliche Klistier zur wichtigen Gesundheitspflege. Der Einlauf reinigte nicht nur den Darm, sondern galt als probates Mittel, um jung und gesund zu bleiben und seine Haut jugendlich zu erhalten. So soll der französische König Ludwig XIII. (1601 bis 1643) von seinem Leibarzt Charles Bouvart in einem Jahr 212-mal klistiert und 47-mal zur Ader gelassen worden sein.

Doch erst der Sonnenkönig Ludwig XIV. (1638 bis 1715), das Vorbild vieler Herrscher Europas, verhalf der Klistier-Mode in allen europäischen Ländern zum Durchbruch. Der Gesundheitszustand des Herrschers galt als Staatsangelegenheit und war damit von öffentlichem Interesse. Deshalb erfolgte die medizinische Behandlung des Königs, auch das Klistieren, in Anwesenheit des Hofstaates. Aus den Aufzeichnungen der Leibärzte ist bekannt, dass sich Ludwig während der 68 Jahre seiner Herrschaft etwa 2000 Kuren mit Abführmitteln, mehreren hundert Klistieren und 38 Aderlässen unterzog. Damit wollten die Ärzte vor allem der Esslust des Königs zu Leibe rücken.

Wer zu jenen Zeiten in Europa »in« sein wollte, machte das Klistier zum täglichen Gesundheitszeremoniell und sprach auch darüber. Adlige, Geistliche, reiche Bürger, Kaufleute, Akademiker und alle, die etwas auf sich hielten, ließen sich jeden Tag ein Klistier verabreichen. So verwundert es nicht, dass es damals sogar Klistierspritzen aus Silber, Schildpatt oder Perlmutt gab, und mancher Gutbetuchte über eine ansehnliche Sammlung dieser Gerätschaften verfügte.

Gutes Geschäft für Apotheker

Meist gehörte es zur Aufgabe der Apotheker, die Klistiere zu verabreichen. Die Ärzte schrieben nur das Rezept aus, die Apotheker stellten die Einlaufflüssigkeit her und übernahmen auch die Applikation. Entweder kamen die Patienten dazu in die Apotheke, oder die Apotheker führten Hausbesuche durch. Die Einlaufflüssigkeiten bestanden damals aus Gemischen von Kräuterdekokten, Weißwein, Orangenblütenwasser, Bergamotte-Öl, Knabenurin und wohlduftenden Wässerchen. Wie ein erfahrener Apotheker damals vorging, beschreibt der folgende Bericht: »Im Augenblicke der Operation muß der Kranke jeden hinderlichen Schleier heben: er wird sich auf die rechte Seite legen, die Kniee nach vorn ziehen und Alles das, was von ihm verlangt, ohne Scheu und falsche Scham zeigen. Der Operateur .... wird ... mit Geschicklichkeit und Umsicht handeln und nicht eher eine einzige Bewegung ausführen, bis er den Visirpunkt gefunden. Alsdann wird er mit Ehrerbietigkeit ein Knie zur Erde beugen, das Instrument mit der linken Hand ohne Überstürzung noch Ungestüm herbeibringen, die Druckpumpe amoroso niedersenken und mit Behutsamkeit und ohne Stöße in Bewegung setzen, pianissimo.«

Spott und Hohn für das Klistier

Das Verabreichen von Klistieren erwies sich für die Apotheker als einträgliches Geschäft. Doch es brachte dem Berufsstand auch viel Spott und Hohn ein, und das Thema bot genügend pikanten Stoff für Literatur, Schauspiel und ­Malerei. So zeigen viele Kupferstiche und Karikaturen den Apotheker bei der »Arbeit«. Außerdem konnten die Künstler auf diesen Abbildungen unter dem Deckmantel medizinischen Interesses auch die »rückwärtigen, nackten Ansichten« der Damen des Rokoko ­zeigen.

Am 10. Februar 1673 kam das Stück »Der eingebildete Kranke« des Schauspielers und Dramatikers Molière in Paris zur Uraufführung. Zu Beginn des Stückes studiert der eingebildete Kranke Argan eine Rechnung seines Apothekers und äußert sich wie folgt dazu: »Ferner …. ein gleitfreudiges, vorbereitendes, beruhigendes Klistierchen zwecks Erweichung, Befeuchtung und Erfrischung der Eingeweide des Herrn. Was mir an meinem Apotheker, Herrn Fleurant, gefällt, ist der höfliche Ton in seinen Rechnungen.«

In seinen Theaterstücken nahm Molière, der auch der Vergnügungsdirektor Ludwigs XIV. war, die Klistier-Manie seiner Zeit mehrfach aufs Korn. Die Komödie trug dazu bei, dass das Klistieren ein überall beliebter Gesprächsstoff und damit noch populärer wurde.

Die große Zeit des Einlaufs war nach etwa 200 Jahren mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts jedoch vorbei. Heute greifen Menschen bei Verstopfung ­lieber zu Suppositorien und Mikro­klysmen. /

E-Mail-Adresse des Verfassers

MedWiss-Meyer(at)t-online.de

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