Essen bewusster genießen |
30.01.2017 13:10 Uhr |
Von Ulrike Becker / Fast jeder isst im umtriebigen Alltag zu schnell und unkonzentriert. Nebenbei checken viele das Smartphone oder lesen in der Zeitung. Die Methode der Achtsamkeit setzt auf das bewusste Handeln im Hier und Jetzt – auch beim Essen. Das erleichtert, ein neues Essverhalten zu entwickeln – hin zu mehr Ruhe, Genuss und Bekömmlichkeit.
Achtsam sein heißt, sich auf den Augenblick zu fokussieren. Diese Praxis der Meditation praktizieren Buddhisten schon seit Jahrhunderten. Die Entwicklung eines speziellen Achtsamkeitstrainings für Menschen in den westlichen Industriegesellschaften ist dem amerikanischen Mediziner Professor Jon Kabat-Zinn zu verdanken. Bereits 1979 führte ihn seine Arbeit als Molekularbiologe zu Erkenntnissen über die Interaktionen zwischen Körper und Geist sowie über die Auswirkungen von Stress auf den Stoffwechsel.
So beobachtete der Mediziner unter anderem, dass die Verminderung von Stress Menschen mit chronischen Schmerzen half. Daraufhin entwickelte Kabat-Zinn Achtsamkeitsübungen und nannte die Methode Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR), Stressreduktion durch Achtsamkeit. Nach Kabat-Zinn ist Achtsamkeit die Kunst, bewusst zu leben – im gegenwärtigen Augenblick – ohne zu urteilen. Die nicht wertende Haltung soll die Möglichkeit eröffnen, eingefahrene Verhaltensweisen zu erkennen, neue Erfahrungen zuzulassen und ungünstige oder belastende Muster langfristig zu verändern.
MBSR ist ein Trainingsprogramm mit meditativen Übungen. Es bietet dem Übenden die Chance zu erkennen, was er durch einfache Verhaltensänderungen bewirken kann. Dass er gerade durch diese Eigeninitiative wieder Verantwortung für seine Gesundheit übernimmt, stufen Experten als besonders erfolgversprechend ein. Mittlerweile ist MBSR in der Komplementärmedizin weit verbreitet. Zahlreiche Studien weisen auf die Erfolge von MBSR hin, nicht nur auf Stressreaktionen des Körpers, sondern auch im Hinblick auf die psychische Gesundheit, den Umgang mit Schmerzen und auf das Essverhalten.
Essen mit Gespür
Viele Menschen sind im Hinblick auf die richtige Ernährung sehr verunsichert, unter anderem auch durch unzählige Buchveröffentlichungen und Medienberichte. Sollen sie Weizen oder Gluten weglassen, ganz auf Kohlenhydrate verzichten, fettarm oder fettreich essen? Dies sind typische Fragen, die vielen Zeitgenossen bei der Auswahl ihrer Lebensmittel durch den Kopf gehen. Hinzu kommen aufwendig gestaltete Lebensmittelwerbungen und die Tatsache, dass ständig irgendwo Snacks und Knabbereien zum Kaufen oder Zugreifen verlocken – beispielsweise in Backshops oder auf dem Schreibtisch des Kollegen. Doch ganz unabhängig von den unterschiedlichen äußeren Reizen haben viele schlicht verlernt, auf ihre Körpersignale zu achten. Bin ich wirklich hungrig oder brauche ich einfach nur eine Pause? Manche Menschen essen aus Langeweile, andere als Trost oder aus Frust, aus Geselligkeit, um sich abzulenken oder aus einer anderen Motivation.
Wer achtsam isst, kann wieder ein Gespür für seine Bedürfnisse entwickeln: Bei genauem Hinspüren fühlt sich Hunger anders an als Appetit, angenehme Sättigung anders als ein ungutes Völlegefühl. Achtsames Essen bedeutet auch, den Gründen für den aktuellen Essenswunsch auf die Spur zu kommen. Achtsamkeit beginnt daher schon vor dem Essen: Wer sich fragt, ob er wirklich hungrig ist oder sich nur ablenken möchte, lässt den Süßriegel vermutlich eher liegen und bereitet sich stattdessen lieber einen Tee. »Wenn Sie zuerst erkennen können, was Sie fühlen, bevor Sie handeln, haben Sie eine größere Chance, eine klügere Entscheidung zu treffen«, bringt die Wissenschaftlerin Jennifer Daubenmier vom Osher Zentrum für Integrative Medizin der Universität in San Francisco den Achtsamkeitseffekt auf den Punkt.
Gleichzeitig wird die Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung des Essens gelenkt: Wie sieht es aus, wie riecht es, wie schmeckt es, wie fühlt es sich im Mund an? Diese Fragen unterstützen eine neue Herangehensweise an das Thema Ernährung. Zudem registrieren achtsame Esser dabei auch die auftauchenden Gefühle: Welche Empfindungen löst das Essen aus? Dadurch spielt der Geschmack des Essens eine größere Rolle. Wer bewusst isst, versucht, alle Nuancen des Schmeckens zu erfassen. Das unterstützt auch den Verdauungsprozess. Denn in der Regel wird das Essen gründlicher gekaut und die Vorverdauung in Gang gesetzt. Der Körper entspannt sich, was sich wiederum auf den Magen-Darm-Trakt überträgt.
Vieles im Argen
Wie nötig es ist, dem Essen mehr Aufmerksamkeit und Zeit zu schenken, dokumentieren regelmäßig die Ernährungsstudien der Techniker Krankenkasse, in denen deutschsprachige Erwachsene zu ihrem Ernährungsverhalten befragt werden. Mehr als die Hälfte gibt in der aktuellen Studie an, für gesünderes Essen fehle ihnen Zeit und Ruhe. Zeitmangel wird auch als Hauptgrund genannt, nicht selbst zu kochen. Nur in jedem zweiten Haushalt kommt täglich eine selbst zubereitete Mahlzeit auf den Tisch. In einem Viertel der Haushalte wird noch drei- bis fünfmal die Woche gekocht, bei den übrigen bleibt die Küche überwiegend kalt. 30 Prozent der Befragten gibt an, Kochen mache ihnen keinen Spaß.
Von Achtsamkeit ist beim Essen keine Spur: Ein Drittel der Befragten schaut während des Essens auf das Smartphone oder in den Fernseher, surft im Internet oder blättert in einer Zeitschrift, vor allem Singles lenken sich beim Essen gerne ab. Aus der Studie lässt sich auch ablesen, dass insbesondere Frauen häufig aus Frust oder Stress essen. 30 Prozent gaben an, bei schlechter Laune deutlich mehr zu essen als nötig. Bei den Männern finden sich nur etwa halb so viele stressabhängige Mehresser.
Wer sich ehrlich beobachtet, wird feststellen, wie oft das Essen tatsächlich Nebensache ist: Beim Frühstück wird gleichzeitig in der Zeitung geblättert, das Mittagessen ist dominiert von Gesprächen mit Kollegen. Jeder kennt sicher entsprechende Beispiele aus dem eigenen Alltag. Ganz unmerklich setzen sich ungesunde Ernährungsmuster fest. Hatte ich tatsächlich schon wieder Hunger auf das Stück Kuchen? Schmeckt es eigentlich? Macht es satt? Möchte ich nicht lieber etwas Salziges? Vertreter der Achtsamkeitsmethode sind überzeugt: Wer sich bewusst für das Essen entscheidet, sich dabei auf den Geruch, das Aussehen und den Geschmack konzentriert, bekommt den Kopf frei von anderen Gedanken und entspannt sich – und das lässt sich trainieren.
Hilfe beim Abnehmen
Roland Schweppe, Gründer des Instituts für achtsames Essen, nennt in seinem Buch »Schlank durch Achtsamkeit« drei Verhaltensmuster, die Übergewicht begünstigen: Erstens zu viel Ablenkung, zweitens zu hastiges Essen, bei dem der Genuss auf der Strecke bleibt und Sättigungssignale nicht wahrgenommen werden und drittens emotionales Essen zum Spannungsabbau, als Ausgleich bei Ärger oder Frust oder als Ersatz für fehlende Liebe. Achtsamkeitstrainer halten es für überaus hilfreich, wenn die Teilnehmer ihrer Kurse erkennen, dass ständiges Essen viel mit Gefühlen wie Stress, Trauer oder Einsamkeit zu tun hat und nicht nur mit mangelnder Willensstärke. Diese Erkenntnis macht die Teilnehmer sich selbst gegenüber toleranter, wenn sie trotz anders lautender Vorsätze doch wieder zu Chips vor dem Fernseher gegriffen haben. Mit Achtsamkeitsübungen – alleine oder unter Anleitung eines Trainers – können Übergewichtige ihre persönlichen Trigger, also die Auslöser für ihr übermäßiges Essen ermitteln. Und wer die Gründe für sein Verhalten versteht, kann dieses leichter ändern.
Niedrigere Stressmarker
Auch wissenschaftliche Ergebnisse weisen auf den Erfolg von Achtsamkeitsübungen in der Gewichtskontrolle hin. In einer kleinen Studie mit leicht bis stark übergewichtigen Frauen, die sich selbst als Stress-Esser einstuften, untersuchten amerikanische Wissenschaftler 2011 die Wirkung achtsamkeitsbasierter Übungen. Die Frauen wurden nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen aufgeteilt, eine Gruppe erlernte unter Anleitung Achtsamkeitsübungen zur Stressreduktion. Die Frauen, die über vier Monate meditative Übungen absolvierten, konnten ihr stressbesetztes Essverhalten besser kontrollieren. Die Frauen der Kontrollgruppe legten dagegen noch an Gewicht zu.
Neben dem Gewicht bestimmten die Wissenschaftler auch die Cortisolwerte im Blut, als Marker für die Stressbelastung. In der Gruppe mit Achtsamkeitstraining lagen diese Werte niedriger. Da höhere Cortisolspiegel die Einlagerung von viszeralem Fett fördern, stuften die Wissenschaftler den Effekt auch im Hinblick auf eine Verringerung des problematischen Bauchfetts als günstig ein. Sie plädieren daher dafür, Achtsamkeitstraining in der Therapie von Übergewichtigen mit stressbedingtem Essverhalten einzusetzen.
Manche Ernährungsexperten merken jedoch kritisch an, beim achtsamkeitsbasierten Ansatz fehlten Anhaltspunkte bezüglich der Lebensmittelauswahl oder der Höhe der Energiemenge. So könnten Übergewichtige auch Zuckerreiches wie Kuchen oder Fettreiches wie Bratwurst bewusst genießen. Vertreter des Achtsamkeitsgedankens gehen jedoch davon aus, dass das verstärkte Beachten der Körpersignale automatisch zu einem besseren Körpergefühl führe. Dann verlange der Körper nach wohltuendem, gesundem Essen. Weil kein Lebensmittel grundsätzlich verboten ist, käme es ferner zu weniger Diätfrust. Darüber hinaus verringere das Achtsamkeitstraining unbewusstes Nebenbei-Essen sowie durch Stress oder negative Gefühle induziertes Essen.
Mit ein paar einfachen Veränderungen kann jeder seine Mahlzeiten entschleunigen und bewusster gestalten. Achtsamkeitstrainer raten dazu, die Mahlzeit in Ruhe zu beginnen, vor dem ersten Bissen ganz bewusst in sich hinein zu spüren und dann mit allen Sinnen den Geschmack wahrzunehmen. Jeden Bissen sollte man gründlich kauen und zwischendurch immer einmal wieder das Besteck aus der Hand legen, kurz innehalten und sich fragen, ob man bereits satt ist. Diese Übung hilft, bewusst Reste zu lassen und für später aufzubewahren.
Alle Ablenkungen sollten außer Reichweite liegen und Radio oder Fernseher ausgeschaltet sein. Doch nicht jede einzelne Mahlzeit muss zur Achtsamkeitsübung werden. Laut Empfehlung von Achtsamkeitstrainern reicht es völlig aus, regelmäßig bestimmte Situationen achtsam zu gestalten, zum Beispiel jedes zweite Abendessen.
Plädoyer für mehr Genuss
Die Vertreter dieser Methode gehen zudem davon aus, dass mehr Achtsamkeit beim Essen dazu führt, dass man Lebensmittel mit einer besseren Qualität auswählt. Wer sein Essen mit Bedacht aussucht, mit allen Sinnen genießt, greift vermutlich eher zu einem Bund Möhren aus dem Bioladen als zu einem billigen Fertigprodukt aus dem Discounter. Möglicherweise bewirkt dann auch der höhere Preis des qualitativ hochwertigen Lebensmittels einen bewussteren Konsum. Achtsames Essen kann dafür ein Türöffner sein und so letztlich zu mehr Genuss beim Essen führen.
Da dem Essvorgang selbst mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird, erfahren auch das Einkaufen, Kochen sowie Anrichten einer Mahlzeit eine höhere Wertschätzung. Das macht vielleicht auch wieder mehr Lust auf Selbstkochen. Im Unterschied zu einer Fertigmahlzeit können dann Zutaten, Geschmack und Konsistenz ganz nach den eigenen Bedürfnissen bestimmt werden. Das bewusste Zubereiten und das Genießen der Mahlzeit schaffen darüber hinaus Zufriedenheit und eine andere Beziehung zum Essen. Und wer beim Essen häufiger in sich hinein spürt, der bekommt vielleicht generell auch in anderen Situationen leichter Zugang zu seinen Emotionen. /
Quelle: Von unachtsamem zu achtsamem Essen. Food Today 04/2016, www.eufic.org