Krankheit der Könige |
30.01.2017 13:10 Uhr |
Von Edith Schettler / Die Hämophilie B verdankt ihren Beinamen »Krankheit der Könige« der Tatsache, dass sie in den letzten Jahrhunderten gehäuft in den europäischen Adelshäusern auftrat. An der seltenen Bluterkrankheit erkranken fast ausschließlich Männer – vererbt wird sie allerdings durch Frauen. Trotz intensiver Forschung fehlt bis heute eine kausale Therapie.
Bei Hämophilie-Patienten ist die natürliche Blutgerinnung gestört. Die häufigste Form der Erkrankung ist die Hämophilie A, von der 85 Prozent der Patienten betroffen sind. Die sehr viel seltenere Hämophilie B tritt statistisch gesehen bei 1 von 25 000 bis 30 000 männlichen Neugeborenen auf. So waren in Deutschland im Jahr 2014 etwa 700 Menschen behandlungsbedürftig erkrankt.
Menschen mit Hämophilie B fehlt der Gerinnungsfaktor IX, Menschen mit Hämophilie A der Faktor VIII-C. Weitere fünf Formen der Hämophilie führt die Tabelle auf. Äußerst selten fehlt auch der Faktor X (= Stuart-Prower-Faktor oder Thrombokinase) in der Gerinnungskaskade. Alle Hämophilie-Formen machen sich durch verlängerte Blutungszeiten und eine verstärkte Blutungsneigung bemerkbar.
Ein komplexes Geschehen
Der lebenswichtige Prozess der Blutgerinnung, auch Hämostase genannt, verläuft extravaskulär (extrinsisch) innerhalb von Sekunden und intravaskulär (intrinsisch) innerhalb von Minuten. Zu Beginn der ersten Phase treten aus dem verletzten Gefäßendothel Gewebshormone aus. Sie bewirken, dass sich die Arterien am Ort der Blutung verengen und so möglichst wenig Blut austritt. In Minutenschnelle heften sich zahlreiche Thrombozyten an die freigelegten Kollagenfasern, vernetzen sich miteinander und verschließen die Wunde – zunächst noch relativ instabil.
Die verschiedenen Gerinnungsfaktoren sind vor allem in der zweiten Phase wichtig, bei der ein stabiler Wundverschluss gebildet wird: In einer Kaskade aktivieren sich die einzelnen Gerinnungsfaktoren gegenseitig – wie in einem Dominospiel, sobald sie bei Zerstörung von Gewebe freigesetzt werden. Im Endergebnis führt diese Kaskade zur Umwandlung des inaktiven Prothrombins in seine Wirkform Thrombin. Das Thrombin wiederum spaltet mithilfe von Calcium-Ionen das Fibrinogen in kurze Fragmente, die sich zu Fibrinfasern zusammenschließen (siehe Grafik). Daraufhin bilden diese Fasern untereinander ein stabiles Netz und damit einen stabilen Wundverschluss, den Thrombus.
Sobald einer der Faktoren in der Gerinnungskaskade fehlt oder in zu geringer Menge vorhanden ist, kommt die Blutgerinnung zum Stillstand. Je nach Art und Ort der Wunde verlieren Hämophilie-Patienten oberflächlich größere Blutmengen oder diese sammeln sich im Körper an.
Vererbter Mangel
In fast allen Fällen beruht die Hämophilie auf einem veränderten Gen auf dem X-Chromosom, das die Information für die Synthese der Gerinnungsfaktoren trägt. Bei Hämophilie-B-Kranken ist der Gen-Abschnitt für die Bildung des Gerinnungsfaktors IX mutiert, sodass dieser Faktor gar nicht oder nur in geringen Mengen gebildet wird. Diese Mutationen können zwar auch spontan auftreten, werden aber weitaus häufiger rezessiv vererbt.
Da Männer über nur ein X-Chromosom verfügen, tritt die Krankheit im Fall einer Mutation bei ihnen zwangsläufig auf. Von den zwei X-Chromosomen der Frauen ist in den allermeisten Fällen eines intakt und sorgt dafür, dass genügend Faktor IX entsteht. Frauen leiden deshalb nur dann an Hämophilie B, wenn beide X-Chromosomen an der gleichen Stelle verändert sind. Das ist äußerst selten der Fall, wenn sie von Vater und Mutter jeweils ein mutiertes Faktor-IX-Gen erben oder eine Spontanmutation auftritt.
Frauen mit einem mutierten X-Chromosom vererben die Krankheit als sogenannte Konduktorinnen (Überträgerinnen) an ihre Kinder weiter. Die Töchter erkranken nicht, wenn sie ein intaktes X-Chromosom von ihrem Vater erhalten, sind aber ebenfalls Konduktorinnen. Die Söhne erkranken mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent an Hämophilie B, je nachdem, ob sie von ihrer Mutter das intakte oder das mutierte X-Chromosom erhalten haben.
Berühmtheit erlangte die Hämophilie B in Folge der Erbpolitik europäischer Königshäuser. Die erste bekannte Konduktorin war die britische Königin Victoria (1819–1901). Ihre 40 Enkel und 88 Urenkel heirateten in beinahe alle europäischen Königshäuser ein, sodass Victoria den Beinamen »Großmutter Europas« erhielt. Victorias Tochter Alice (1843–1878) gab die Krankheit an ihre Tochter Alix weiter, die spätere Zarin Alexandra Fjodorowna (1872–1918). Deren einziger Sohn Alexej Nikolajewitsch Romanow (1904–1918) erkrankte an Hämophilie B. Obwohl die Familie die Krankheit geheimhalten wollte, bemerkte der deutsche Kaiser Wilhelm II. (1859–1941) anlässlich eines Staatsbesuches in St. Petersburg bei dem Jungen Symptome der Hämophilie B, die er aus seiner eigenen Familie kannte.
Sichtbare Symptome
Wilhelm II. hatte auf der Stirn von Alexej ein Hämatom entdeckt, das sich während seines gesamten Staatsbesuches nicht zurückbildete. Tatsächlich führen bei Hämophilie-Patienten bereits kleine Prellungen oder Stöße zu Blutungen. Wie stark diese ausfallen, hängt von der Restaktivität des Gerinnungsfaktors IX ab. Danach werden unterschiedliche Schweregrade der Erkrankung unterschieden: Subhämophilie, leichte, mittelschwere und schwere Hämophilie. Im letzten Fall treten bereits ohne äußere Einwirkung vor allem schmerzhafte, wochenlang anhaltende Blutungen in Gelenke auf, sodass sich diese daraufhin verformen und steif werden.
Meist bemerken die Eltern die Erkrankung ihres Kindes erst gegen Ende des ersten Lebensjahres, wenn es körperlich aktiver wird und sich verletzt. Ein wichtiges Symptom ist Blut im Urin, die sogenannte spontane Hämaturie. Ob ihr Sohn an Hämophilie B erkrankt ist, können Eltern inzwischen in spezialisierten Zentren durch einen Bluttest untersuchen lassen.
Oberflächliche Schnitt- und Schürfwunden sind für die Patienten ungefährlich, da die erste Phase der Blutgerinnung nicht gestört ist und ein Wundverschluss aus Thrombozyten entstehen kann. Verhängnisvoll sind innere Blutungen, die oft spät erkannt werden. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts betrug die durchschnittliche Lebenserwartung eines Patienten mit Hämophilie B nur zwölf Jahre, der Tod trat meist durch innere Blutungen ein. Alexej N. Romanow starb allerdings nicht an Hämophilie B, sondern wurde mit seiner Familie nach der Oktoberrevolution im Jahr 1918 hingerichtet. Vor 100 Jahren hatten die russischen Ärzte den Thronfolger nur symptomatisch behandeln können, indem sie ihm körperliche Ruhe und Morphin gegen die Schmerzen verordneten. Die Möglichkeit einer Bluttransfusion stand für Notfälle zur Verfügung, nachdem Karl Landsteiner im Jahr 1901 die Blutgruppen entdeckt hatte und damit das Risiko einer Transfusion geringer geworden war.
Der Faktor IX wurde erst im Jahr 1952 an dem fünfjährigen Patienten Stephen Christmas entdeckt. Seitdem heißt der Faktor IX auch Christmas-Faktor und die Hämophilie entsprechend Christmas-Krankheit. Daraufhin erhielten Hämophilie-Patienten Blutplasma, um die fehlenden Faktoren zu ersetzen. Ein wichtiger weiterer Schritt war die Isolation der Gerinnungsfaktoren aus dem Blut. So gelang im Jahr 1955 der US-Amerikanerin Judith Pool die Gewinnung des Faktors VIII. Ab den 1970er-Jahren konnten sich die Patienten selbst gefriergetrocknete Faktor-Präparate intravenös verabreichen. Zunächst nutzten sie diese Möglichkeit nur bei einer Blutung, später dann auch prophylaktisch.
Folgenschwere Therapie
Obwohl die Substitution der Gerinnungsfaktoren vielen Hämophilie-Patienten ein Weiterleben ermöglichte, war die Therapie in den Anfangsjahren mit einem hohen Risiko behaftet. Denn mit dem Spenderblut konnten auch Viren übertragen werden, die beim Empfänger schwere Erkrankungen wie Hepatitis C und Aids auslösen. Erst im Jahr 1988 wurden diese Zusammenhänge wissenschaftlich aufgedeckt. Doch erst seit 1997 ist eine Virenübertragung durch Faktor-IX- Präparate vollständig ausgeschlossen.
In Deutschland sind mehrere aus Plasmaspenden gewonnene Produkte mit Gerinnungsfaktor IX im Handel. Das jeweilige Präparat muss zweimal wöchentlich unter ärztlicher Kontrolle intravenös appliziert werden. Nach entsprechender Schulung können die Patienten oder ihre Eltern die Behandlung zu Hause vornehmen. Die Produkte sind praktisch virenfrei und unterliegen der Kontrolle durch das Paul-Ehrlich-Institut.
Seit Juni 2016 ist das gentechnisch hergestellte Arzneimittel Idelvion® zur Therapie und Prophylaxe von Blutungen der Hämophilie B auf dem deutschen Markt. Es muss nur einmal wöchentlich verabreicht werden, bei manchen Patienten reicht sogar die Infusion alle zwei Wochen. Bei dem Präparat wurde die Halbwertszeit des rekombinanten Faktor IX durch Fusion mit rekombinantem Albumin verlängert. Neben dem Vorteil der mikrobiellen Sicherheit ist Idelvion im Unterschied zu den meisten Plasmaprodukten für alle Altersgruppen zugelassen.
Auch unter einer Arzneimitteltherapie sollen die Patienten möglichst jede Situation meiden, in der sie sich verletzen könnten. Das ist vor allem bei Kindern schwierig. Für Hämophilie-Patienten sollten alle Sportarten mit intensivem Körperkontakt sowie alle Sportarten oder Berufe mit hohem Verletzungsrisiko tabu sein. Arzneimittel, die die Blutgerinnung hemmen wie Acetylsalicylsäure oder Ibuprofen, dürfen Hämophilie-Patienten verständlicherweise keinesfalls einnehmen. Von ihrem Arzt erhalten sie einen Notfallausweis, den sie jederzeit mit sich führen sollten. Chirurgische Eingriffe, auch Zahnextraktionen, sollten sie nur in spezialisierten Zentren vornehmen lassen. Mit entsprechender Schulung und frühzeitiger Substitutionstherapie leben die Patienten heute fast ebenso lange wie Gesunde. /
Name | fehlender Faktor der Blutgerinnung |
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Hämophilie A | Faktor VIII-C |
Hämophilie B | Faktor IX = Christmas-Faktor |
Hämophilie C | Faktor XI = Rosenthal-Faktor |
Parahämophilie | Faktor V |
Angiohämophilie | von-Willebrand-Faktor, Trägerprotein des Faktors VIII-vWF |