Tragischer Verlust |
23.03.2012 16:40 Uhr |
Von Hildegard Tischer / Wenn ein Kind stirbt, bedeutet das immer eine Tragödie für die Eltern. Noch unfassbarer ist der Verlust für sie, wenn ihr Baby zuvor gesund war und mitten im Schlaf aus dem Leben gerissen wird. Ganz verhindern lässt sich solch ein plötzlicher Säuglingstod vermutlich nicht, aber Eltern können das Risiko erheblich senken.
Manche erinnern sich vielleicht noch an die Schlagzeilen vor einigen Monaten, als der Schauspieler Hardy Krüger junior seinen acht Monate alten Sohn verlor. Der Säugling lag morgens tot in seinem Bettchen, obwohl er kerngesund war. Auch im Nachhinein konnten die Ärzte keine Erkrankung erkennen, die den Tod erklärt hätte. Die Diagnose lautete: »plötzlicher Säuglingstod«. Dabei ersticken die Kinder im Schlaf, weil ihr Atemreflex aussetzt oder weil sie sich nicht aus einem Kissen oder einer Decke befreien können. Sie scheinen jedoch nicht zu leiden. Eltern trifft dieses Unglück besonders hart, weil es aus heiterem Himmel kommt und ein gerade erst begonnenes Leben, auf das sie sich so sehr gefreut hatten, beendet. Manchmal belastet der Tod des Kindes die ganze Familie über Jahrzehnte oder zerstört sie sogar, zumal die Eltern die Schuld oft bei sich suchen. Das Unglück kann aber grundsätzlich auch Eltern passieren, die alles richtig gemacht haben.
So schrecklich der plötzliche Kindstod im Einzelfall für die Familie ist: Die Zahl der Kinder, die daran sterben, geht zurück. Im Jahr 1998 wurden in Deutschland noch 602 Fälle erfasst, zehn Jahre später 215, und laut den neuesten Erhebungen des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2010 nur noch 164: 103 Jungen und 61 Mädchen. Das ist ein deutlicher Fortschritt. Zwar ging die Säuglingssterblichkeit insgesamt signifikant zurück, aber nicht so stark wie die Todesfälle aufgrund des plötzlichen Kindstods. »Bis vor Kurzem starben mehr Kinder am SIDS als bis zum 15. Lebensjahr an Verkehrsunfällen«, sagt Dr. Volker Sodell, Chefarzt der Klinik für Kinder und Jugendliche in Solingen. SIDS steht für die englische Bezeichnung des plötzlichen Säuglingstodes: »Sudden Infant Death Syndrom«. »Lange Zeit war der plötzliche Säuglingstod die häufigste Todesursache im Kindesalter«, fährt Sodell fort, der sich stark in der Prävention des SIDS engagiert. Habe er einmal 20 Prozent der Todesfälle ausgemacht, so seien es mittlerweile nur noch 10 Prozent. »Wir waren doch erfolgreich darin, den plötzlichen Säuglingstod zu reduzieren, das heißt, den Tod zwischen dem 28. und 360. Lebenstag.« Der erfreuliche Rückgang beruht darauf, dass die Risikofaktoren inzwischen weitgehend bekannt sind und sich entsprechende Präventionsempfehlungen daraus ableiten ließen.
Das kritische Alter
Am häufigsten tritt SIDS zwischen dem zweiten und vierten Lebensmonat auf. Es scheint demnach mit dem Alter beziehungsweise der Entwicklungsphase zusammenzuhängen. »Bei Frühgeborenen kommt es deutlich häufiger zum plötzlichen Kindstod«, so Sodell. »Das lässt vermuten, dass es etwas mit der Reife zu tun hat. Auch die Tatsache, dass es nach dem vierten Lebensmonat seltener zum plötzlichen Tod kommt und dieser nach dem ersten Lebensjahr kaum noch auftritt, unterstützt die Vermutung.« Erst mit Vollendung des zweiten Lebensjahres lässt sich SIDS ausschließen.
Ein weiterer Risikofaktor ist das Geschlecht: Jungen sind stärker gefährdet als Mädchen, das Verhältnis liegt nach Angaben der »Kinderärzte im Netz« bei 60 zu 40, wie auch die obenstehenden Zahlen des Statistischen Bundesamtes belegen. Erstgeborene sterben seltener am plötzlichen Kindstod als Geschwisterkinder, vor allem nach dem dritten Kind einer Frau steigt das Risiko.
Vermutlich hängt die Veranlagung für den plötzlichen Kindstod mit dem Serotoninspiegel zusammen. Bei Kindern, die an SIDS verstorben sind, lag dieser circa 25 Prozent unter dem Durchschnittswert. Dies könnte dazu führen, dass ihr Atemreflex schwächer ausgeprägt ist, denn Serotonin ist auch für die Atemregulierung wichtig. Ein zu niedriger Spiegel verhindert, dass das Kind bei Sauerstoffmangel aufwacht und nach Luft schnappt. Forscher entdecken nach und nach Gene, die für den verminderten Atemreflex verantwortlich sind, für die Praxis haben diese Erkenntnisse aber (noch) keine Bedeutung, da sich die Gene weder verändern lassen noch die alleinige Ursache sind.
Weitere Risikofaktoren sind eine schlechte Sauerstoffversorgung bei der Geburt, verzögertes Wachstum in der Embryonalzeit, niedriges Geburtsgewicht, Stoffwechselstörungen oder gastroösophagealer Reflux. Besonders gefährdet sind Kinder, die bereits ein sogenanntes ALTE (Apparent Life-Threatening Event) hatten, ein Beinahe-SIDS, das sich in Atemnot, Blässe bis zur bläulichen Verfärbung der Haut und Muskelerschlaffung äußert.
Auch die Jahreszeit erhöht anscheinend das Risiko, denn im Winter versterben mehr Kinder am SIDS als im Sommer. Vor allem ein rascher Temperaturanstieg im Winter und Föhn macht den Kleinkindern offenbar zu schaffen. Möglicherweise legen Eltern ihr Baby im Winter allzu dick eingepackt schlafen. Wird es dem Baby zu warm oder fällt die dicke Decke über seinen Kopf, steigt die Gefahr für SIDS. Diese Gegebenheiten können die Eltern beeinflussen und somit das Risiko eines SIDS senken. Andere Faktoren, die sich vermeiden lassen, sind:
Keine alleinige Ursache
Grundsätzlich müssen für SIDS mehrere Faktoren zusammentreffen. »Oft ist der Auslöser ein banaler Infekt. Wenn dann andere Faktoren dazukommen, zum Beispiel Bauchlage, Rauchen in und nach der Schwangerschaft, dann kann dies das Fass zum Überlaufen bringen«, erklärt Soditt. Wäre es reine Veranlagungssache, müssten die Kinder, die zu einem plötzlichen Kindstod neigen, schon am ersten Tag nach ihrer Geburt sterben, was nicht der Fall sei. »Sie sterben erst dann, wenn bestimmte Faktoren zusammenkommen. Das sind individuelle Faktoren, das heißt Reife, genetische Faktoren, Umgebungsbedingungen, oder ein Infekt, der das ganze System aus der Balance bringt.«
Da genetische oder reifebedingte Faktoren im Einzelfall nicht oder nur zum Teil bekannt sind, lässt sich das Risiko für ein bestimmtes Kind nicht vorhersagen. Statistisch gesehen liegt es zurzeit bei 1 zu 3000, das heißt, eins von 3000 Kindern stirbt am SIDS.
Eine Zeitlang stand die Sechsfachimpfung, die alle Säuglinge zur Grundimmunisierung erhalten, im Verdacht, das SIDS-Risiko zu erhöhen. Inzwischen sind sich aber die Mediziner einig, dass dieser Verdacht völlig unbegründet ist. Auch Soditt bestätigt das. Die Impfung, die Säuglinge standardmäßig im zweiten oder dritten Lebensmonat bekommen, falle lediglich in die Zeit, in der die meisten Babys am plötzlichen Kindstod sterben. Nach Überprüfung der Europäischen Behörde für medizinische Sicherheit bestünde jedoch keine kausale Beziehung zwischen den beiden Ereignissen.
Säuglinge ins eigene Bett
Der Rückgang des plötzlichen Kindstods in Deutschland ist zum Teil einem allgemein gesünderen Lebensstil Schwangerer und junger Mütter zu verdanken. Viele verzichten zum Beispiel auf Alkohol und Rauchen während der Schwangerschaft und in Gegenwart von Kindern. Einen weitaus größeren Präventionseffekt hat aber das richtige Betten des Kindes. »In den Betten von Erwachsenen herrscht unter Umständen viel zu viel Hitze«, sagt Kinderarzt Soditt. »Wenn es Erwachsenen zu warm wird, strampeln sie ihre Decke weg. Das können Kleinkinder nicht. Die Decken und Kopfkissen für Erwachsene sind viel zu dick und viel zu schwer, sie sind nicht für Kinder gemacht und nicht für die Sicherheit schlafender Kinder getestet.« Eltern setzten die strengen Sicherheitsvorschriften für Kinderbetten außer Kraft, wenn sie ihr Kind mit ins Bett nähmen.
Eltern sind zwar oft davon überzeugt, dass sie spüren, wenn sich ihr Kind nicht wohl fühlt, dem ist aber nicht immer so. »Wir wissen, dass es relativ viele Unfälle im Elternbett gibt. Insofern ist die Empfehlung eindeutig: Schlafen im Zimmer der Eltern, neben dem Bett der Eltern, damit sie das Kind immer im Auge haben und die Mutter es, wenn nötig, stillen kann. Aber im eigenen Bettchen. Das scheint erheblich sicherer zu sein.«
Demgegenüber steht der Wunsch vieler Eltern, dem neuen Familienmitglied so viel Nestwärme wie möglich zu geben. Sodell rät zu einem Kompromiss: das Kind tagsüber öfter auf den Arm nehmen. In den ersten Lebensmonaten, wenn das Baby noch leicht ist, können Eltern es auch im Tragetuch oder Känguru-Sack statt im Kinderwagen transportieren, um ihm Körperkontakt zu vermitteln. Wenn es dafür zu schwer wird, können sie auf einen Tragerucksack umsteigen.
Auf den Rücken legen
Ebenfalls ein ganz wichtiger Bestandteil der Prävention ist die Rückenlage. Lange Zeit rieten Ärzte und Hebammen Eltern dazu, Säuglinge auf den Bauch zu betten, damit sich ihr Hinterkopf nicht verformt und sie nicht an Erbrochenem ersticken. Heute weiß man aber, dass die Bauchlage ein großer Risikofaktor für den plötzlichen Kindstod ist. In dieser Lage können sich Säuglinge oft nicht freistrampeln. Sie haben auch noch nicht die Kraft, sich umzudrehen, vor allem nicht, wenn sie mit dem Gesicht so tief ins Kissen gesunken sind, dass sie keine Luft mehr bekommen.
Auch die Seitenlage schützt das Baby nicht, da es herumrollen kann und dann doch auf dem Bauch liegt. Damit sich der Hinterkopf durch die Rückenlage nicht verformt, können Eltern ihr Kind immer dann auf den Bauch legen, wenn es wach ist. Außerdem empfiehlt es sich, das Baby abwechselnd auf dem rechten und dem linken Arm zu tragen, so dass das Köpfchen in verschiedenen Positionen zu liegen kommt. Tauscht man ab und zu Fuß- und Kopfende des Bettes, beugt das ebenfalls einer Deformation vor, da das Kind seinen Kopf beim Schlafen immer ein bisschen zur Seite neigt. Durch den Wechsel wird nicht immer auf die gleiche Seite Druck ausgeübt.
Schlafsack statt Bettdecke
Weiche Kopfkissen und Bettdecken empfinden Erwachsene als kuschelig und möchten ihr Kind deshalb auch damit verwöhnen, für einen Säugling sind sie aber absolut ungeeignet. Sie erhöhen das SIDS-Risiko um das Doppelte bis Dreifache. Wenn sie in der Nacht verrutschen, kann das Kind unter die Decke geraten oder mit dem Gesicht im Kissen versinken. Pädiater raten mittlerweile dazu, Babys ohne Kopfkissen in einem Schlafsack zu Bett zu legen. Ein Schlafsack macht die Bewegungen des Kindes mit, ohne zu verrutschen. Er muss allerdings der Größe des Kindes entsprechen. Schmusetücher und Plüschtiere gehören nicht ins Kinderbett. Ein Säugling kann damit noch gar nichts anfangen, erst recht nicht, wenn er schläft. Auch wenn Eltern eine plüschlose Umgebung kalt finden, sollten sie Vernunft walten lassen und alles aus dem Kinderbett entfernen, was ins Gesicht oder über den Kopf des Babys geraten könnte.
Zudem gilt es, das Kleinkind zum Schlafen nicht zu dick zu kleiden und das Schlafzimmer nicht zu stark zu heizen. Im Schlafzimmer reicht eine Temperatur von 16 bis 18 °C. Eine Kopfbedeckung erhöht das SIDS-Risiko auf das 28-Fache, da die Wärmeregulierung bei Kindern zu 20 Prozent über den Kopf erfolgt. Experten raten daher, dem Säugling zum Schlafen niemals eine Mütze anzuziehen. Auch kalte Hände seien kein Indiz dafür, dass das Kind friert. Viel aufschlussreicher sei die Temperatur zwischen den Schulterblättern. Die Haut dort sollte sich warm, aber nicht verschwitzt anfühlen.
Schnuller schützt
Säuglinge, die gerne einen Schnuller benutzen, tragen unbewusst selbst zu ihrem Schutz vor dem plötzlichen Kindstod bei. »Es gibt Studien, die deutlich gezeigt haben, dass Kinder, die einen Schnuller nehmen, seltener am plötzlichen Säuglingstod sterben«, sagt Soditt. Warum das so ist, wisse man nicht. »Möglicherweise stimuliert das Saugen die Gaumenmuskulatur und die Rachenhinterwand, sodass es weniger schnell zu einem Verschluss kommt.« Kindern, die nicht von selbst saugen, brauche man den Schnuller deswegen nicht aufzudrängen, aber »wenn das Kind ihn tagsüber nimmt, dann sollte es auch nachts damit schlafen«.
Auch Stillen scheint vor SIDS zu schützen, ein genauer Mechanismus ist jedoch nicht bekannt. Fest steht aber, dass Muttermilch die Abwehrkräfte des Kindes stärkt, sodass die Gefahr von Infektionen sinkt, die SIDS auslösen können. Da sich ein Säugling noch nicht schnäuzen kann, beeinträchtigt beispielsweise schon ein Schnupfen die Atmung erheblich. Möglicherweise sorgen bestimmte Bestandteile in der Muttermilch auch dafür, dass das Kind bei Sauerstoffmangel schneller aufwacht. Die übliche Empfehlung, Kinder sechs Monate lang zu stillen, gilt daher auch im Hinblick auf die SIDS-Prävention.
Prävention wirkt
Ein Ländervergleich der International Society for the Study and Prevention of Perinatal and Infant Death zeigt, dass in Deutschland viele Kinder an SIDS sterben, mehr als doppelt so viele wie beispielsweise in Finnland, Dänemark oder den Niederlanden. »Das ist kein Zufall«, meint Volker Soditt. Es habe vielmehr mit Traditionen zu tun, wie Eltern ihre Kinder betten. »In Holland zum Beispiel hat man die Kinder lange Jahre unter ein Spannbetttuch geklemmt. Dadurch war es relativ unwahrscheinlich, dass das Kind unter die Decke rutscht. In den 1980er-Jahren hat man dort auch begonnen, die Bauchlage einzuführen und schnell gemerkt, dass damit mehr Kinder sterben.« Die Behörden hätten gleich reagiert und wieder die Rückenlage empfohlen. Soditt lobte auch die Präventionskampagnen der skandivanischen Länder. Sie seien viel konsequenter durchgeführt worden als hierzulande. Allerdings sei das Gesundheitssystem in diesen Ländern auch zentraler organisiert.
Ein Hemmschuh bei der Prävention sind laut Soditt auch familiäre Traditionen. Eltern, in deren Familie schon über Generationen hinweg, Bauchlage und dicke Decken für Kleinkinder üblich waren, lassen sich kaum davon überzeugen, diese Gewohnheit zu ändern. Schließlich sind sämtliche Kinder damit groß geworden. Dass der plötzliche Säuglingstod das eigene Baby treffen könnte, erscheint unwirklich, deshalb blasen viele Eltern die Warnungen in den Wind.
Andererseits ist es nicht möglich, in Deutschland einfach per Verordnung die Empfehlungen auf Geburtsstationen und in Kinderkrippen durchzusetzen. »Wir haben es mit einem gesundheitspädagogischen Problem zu tun«, sagt Soditt. Obwohl im Grunde alle Beteiligten, wie Kinderärzte, Gynäkologen und Hebammen, die Präventionsempfehlungen theoretisch kennen, informieren sie in der Praxis nicht konsequent alle Mütter.
Auch wenn die statistischen Zahlen sich verbessert haben: Sie könnten noch deutlich besser sein. Jedes Kind, das stirbt, ist eins zu viel. Nach wie vor gilt, Mütter eindringlich darüber aufzuklären, was sie selbst zur Vorbeugung des plötzlichen Säuglingstodes tun können. /
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