Waisenkinder der Medizin |
20.04.2012 15:16 Uhr |
Von Ute Koch / Weltweit gibt es circa 6000 bis 7000 seltene Krankheiten. Ihre internationale Bezeichnung ist Orphan Diseases (engl. Orphan = Waise) und das nicht ohne Grund: Nur gegen wenige dieser Leiden sind bisher Medikamente, Orphan Drugs genannt, verfügbar. Trotz einiger medizinischer Fortschritte ist der Leidensweg vieler Patienten lang und beschwerlich.
Unabhängig davon, um welche seltene Krankheit es sich handelt, sind die Probleme der Patienten und ihrer Angehörigen ähnlich. Der Diagnose geht oft ein langer und von vielen Umwegen geprägter Leidensweg voraus. Dieser ist im Allgemeinen auch dann noch nicht beendet, wenn ein Arzt die Ursache der Beschwerden diagnostiziert hat: Wirksame und gut verträgliche Therapien sind nur selten verfügbar; ebenso qualifizierte Fachärzte und Pflegekräfte in der nahen Umgebung. Denn nicht nur die Patienten sind eine Seltenheit, auch die für sie wichtigen Experten und deren Fachwissen.
Nur einzelne Wissenschaftler, Institutionen und pharmazeutische Unternehmen forschen über Orphan Diseases, einschließlich ihrer Diagnose- und Therapiemöglichkeiten. So wurde nicht ohne Grund der 29. Februar, der nur in Schaltjahren vorkommt, zum »Internationalen Tag der Seltenen Erkrankungen« erklärt.
Bisher sind weltweit rund sechs- bis siebentausend seltene Krankheiten beschrieben worden. Hierzu gehören vor allem Erbkrankheiten, Krebsleiden, Autoimmunerkrankungen und Infektionskrankheiten. Bei welcher maximalen Patientenzahl die Einstufung als Orphan Disease erfolgt, hängt von der Wirtschaftsregion ab: In der EU erhält eine Krankheit diesen Status, wenn nicht mehr als fünf von 10 000 Personen davon betroffen sind. Das bedeutet für ein Land wie Deutschland weniger als 40 000 Erkrankte.
Manche Krankheit kommt in Gesamteuropa sogar nur bei einer einzigen Familie oder nur einer einzigen Person vor. Zusammengefasst sind Orphan Diseases jedoch gar nicht so selten: In Deutschland leben etwa 4 Millionen Menschen mit einem seltenen Leiden und in der EU rund 30 Millionen.
Jeder Kranke hat das gleiche Recht auf Linderung oder Heilung seiner Beschwerden, also auch Menschen mit einer seltenen Krankheit. Gemessen an der Vielzahl der Orphan Diseases sind wirksame und verträgliche Therapien jedoch Raritäten. Eine dramatische Situation für die Erkrankten, da viele dieser Krankheiten äußerst schwerwiegend verlaufen, sich oftmals schon im Kindesalter manifestieren und die Lebenserwartung enorm verkürzen. Eines der wenigen, mittlerweile gut behandelbaren Beispiele ist die Mukoviszidose, auch zystische Fibrose genannt. Während die Patienten früher die Einschulung nicht erlebten, erreichen heute die meisten das Erwachsenenalter. Auch die Systemische Sklerodermie, bei der sich überschüssiges Bindegewebe in der Haut und in den inneren Organen bildet, ist dank intensiver Forschung therapierbar geworden.
Programme zeigen Erfolge
Die Entwicklung und Vermarktung von Orphan Drugs ist für Arzneimittelhersteller nicht rentabel, eine Kostendeckung und Gewinnerwirtschaftung der immensen Entwicklungs- und Zulassungskosten oft aussichtslos. Daher wurden schon vor Jahren weltweit verschiedene Förderprogramme etabliert, die Pharmaunternehmen bei der Entwicklung und Vermarktung von Orphan Drugs unterstützen: in den USA seit 1983, in Japan seit 1993 und in Australien seit 1998. In der EU können Unternehmen seit Anfang 2000 für einen Arzneistoff den »Orphan-Drug«-Status beantragen und erhalten. Damit verbunden sind ermäßigte Zulassungsgebühren, ein beschleunigtes Zulassungsverfahren durch die europäische Zulassungsbehörde EMA, ein zehnjähriges exklusives Vermarktungsrecht sowie weitere Vorteile. Seit Inkrafttreten der EU-Verordnung ist die Zahl der zugelassenen Orphan Drugs deutlich gestiegen. In der EU gibt es derzeit 62 Medikamente mit diesem Status, die meisten davon wurden zugelassen für die Indikationen Krebsleiden und Stoffwechselerkrankungen. Außerdem haben laut Angaben des vfa, des Zusammenschlusses forschender Pharmaunternehmen, bis Februar dieses Jahres rund 880 Entwicklungsprojekte für Wirkstoffe den Orphan-Drugs-Status erhalten.
Innovative Arzneistoffe
Die seltensten Orphan Diseases, für die in Deutschland Arzneimittel mit Orphan-Drug-Status zugelassen wurden, sind die Mukopolysaccharidosen (MPS). Alle sechs Haupttypen gehören zu den lysosomalen Speicherkrankheiten und sind erblich bedingt.
Bei Patienten mit MPS wird ein bestimmtes Stoffwechselenzym nicht oder nur ungenügend gebildet. Dadurch werden Glykosaminoglykane, zum Beispiel die Hyaluronsäure, nicht ausreichend abgebaut und in den Lysosomen abgelagert. Die Folgen sind Funktionseinbußen wichtiger Organe wie des Herzens, der Lunge, der Milz, der Leber, des zentralen Nervensystems, des Skelettsystems und der Augen. Je nach Typ und Schweregrad einer MPS sind die einzelnen Symptome unterschiedlich stark ausgeprägt. Viele Patienten sind geistig behindert und sterben schon im Jugendalter.
Derzeit haben drei zugelassene gentechnisch erzeugte Arzneimittel zur Enzymersatztherapie einen Orphan-Drug-Status: Laronidase (Aldurazyme®) bei MPS I, Idursulfase (Elaprase®) bei MPS II (auch Hunter-Syndrom genannt) und Galsulfase (Naglazyme ®) bei MPS VI. MPS I, II und VI sind schwere Verlaufsformen der Erkrankung. Nennenswert ist auch der Wirkstoff Imatinib, der sogar für sechs verschiedene Orphan Diseases zugelassen wurde, unter anderem die chronisch myeloische Leukämie (CML), die akute lymphatische Leukämie (ALL) und gastrointestinale Stromatumoren, seltene Bindegewebstumoren des Magen-Darm-Traktes.
Bewährte Wirkstoffe
Den Orphan-Drug-Status erhalten nicht zwangsläufig nur innovative Arzneistoffe. Ein Beispiel hierfür ist das bekannte Ibuprofen. Seit Jahren wird das nicht-steroidale Antirheumatikum zur Behandlung von verschiedenen Schmerzzuständen und Fieber eingesetzt – auch im Rahmen der Selbstmedikation. Unter dem Handelsnamen Pedea® 5 mg Injektionslösung erhielt Ibuprofen einen Orphan-Drug-Status – bezogen auf die Indikation »hämodynamisch wirksamer offener Ductus arteriosus Botalli bei Frühgeborenen vor der 34. Schwangerschaftswoche«. Für Ungeborene ist der Ductus arteriosus Botalli, die Verbindung zwischen der Lungenschlagader und der Aorta, lebensnotwendig, weil ihre Lunge und ihr Kreislauf noch nicht funktionsfähig sind. So stellt der Ductus die direkte Verbindung zwischen Herz- und Körperkreislauf her. Normalerweise verschließt er sich nach der Geburt spontan innerhalb von Stunden bis Tagen. Geschieht dies nicht, sprechen Mediziner von einem fortbestehenden (persistierenden) Ductus arteriosus. Je nach Schweregrad treten Symptome einer Herzschwäche auf.
Ein weiteres Beispiel ist der Wirkstoff Sildenafil, das erste Arzneimittel zur oralen Therapie der erektilen Dysfunktion. Als Orphan Drug unter dem Handelsnamen Revatio® ist Sildenafil zur Therapie der pulmonalen, arteriellen Hypertonie (Lungenhochdruck) zugelassen.
Organisationen helfen
Verschiedene Organisationen haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Situation von Patienten mit seltenen Krankheiten zu verbessern. Hierzu gehört die Allianz Chronisch Seltener Krankheiten (ACHSE, www.achse-on line.de) mit Schirmherrin Eva Luise Köhler, der Ehefrau des ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler. Unter dem Dach der ACHSE haben sich rund 90 Selbsthilfeorganisationen zusammengeschlossen, die im Jahr 2010 zusammen mit dem Bundesgesundheits- und Bundesforschungsministerium das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) ins Leben gerufen haben. NAMSE ist als Koordinations- und Kommunikationsgremium gedacht, das bestehende Initiativen bündelt, um Forscher und Ärzte besser zu vernetzen und Informationen für Fachpersonal und Betroffene leichter verfügbar zu machen. Auf der europäischen Ebene finden Interessierte in der Datenbank Orphanet (www.orpha.net) auf französisch, englisch, spanisch, deutsch und italienisch Informationen zu Orphan Diseases, Orphan Drugs, Spezialambulanzen und -kliniken, Diagnostik, Forschung und klinischen Studien, Selbsthilfegruppen und vieles mehr. /
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