Wenn die Gefühle Achterbahn fahren |
22.06.2010 09:51 Uhr |
Wenn die Gefühle Achterbahn fahren
von Annette Behr
»Kleine Kinder, kleine Sorgen – große Kinder, große Sorgen«, heißt es nicht umsonst. Kommen die Kleinen in die Pubertät, sind für Kinder und ihre Eltern emotionale Tief- und Höhenflüge an der Tagesordnung.
»Das kannst du vergessen. Ich komme nicht mit«, schnaubte meine Tochter, bevor sie Tür knallend in ihr Zimmer verschwand. Der gemeinsam geplante schöne Sonntagsausflug verwandelte sich für meine 13-Jährige urplötzlich in eine grässliche Zwangsveranstaltung. Von einer Sekunde auf die andere verweigerte sie ihre Teilnahme. Auslöser war offenbar, dass sie kurz zuvor die Gemüsesuppe trotz der ihr verhassten Zucchini essen musste. Zu laute Ess- und Trinkgeräusche, Gespräche über schulische Leistungen oder das Chaos in ihrem Zimmer sind weitere beliebte Anlässe für »Ausrastattacken«, nicht nur bei meiner Tochter. »Es ist nur ein hormoneller Schub, der Supergau in ihrem Hirn«, sage ich beruhigend zu meinem Liebsten. Der ist wieder einmal fassungslos und meint, er wäre aber nicht so gewesen.
Flegeljahre wurde die Pubertät früher genannt. Diese Phase zwischen dem 10. und 15. Lebensjahr haben wir alle durchlebt. Jeder anders, und auch wir sind unseren Eltern oft schrecklich auf die Nerven gefallen. »Die Pubertät ist der Lebensabschnitt, in dem man auf die Rechte seines Erwachsenseins pocht, obwohl man den Schnuller noch im Kopf hat«, lese ich in einem Elternhandbuch. Die »Nicht-Fisch-Nicht-Fleisch-Periode« währt leider mehrere Jahre. Dazu brauchen Eltern starke Nerven und flexible Strategien, um den Kontakt zu ihren Sprösslingen zu bewahren. Manchmal halte ich meiner Tochter einfach den Spiegel vor, wenn sie mich um etwas bittet. Dann reagiere ich genauso wie sie sonst wahlweise mit »Ja, gleich« oder »keine Lust«. Diese knappen Aussagen höre ich inzwischen kaum noch von ihr. Heutzutage nennt man pubertierende Teenager gerne auch Pubertisten. Das gefällt mir, klingt es doch dem Ereignis angemessen dramatisch. »Du bist eine schreckliche Pubertistin«, sage ich zu meiner Tochter, als ich morgens versuche, in ihr Zimmer zu gelangen. Umringt von auf dem Boden liegendem Schulmaterial, kosmetischen Accessoires, Textilien, Zeitschriften und leeren Kekspackungen schlägt sie die Augen auf. Ein Laken auf das Bett zu legen, hat sie am Abend ebenso vergessen wie ihre Zahnspange einzusetzen. Ich muss an meinen Opa denken, der in ähnlichen Situationen immer brummelte: »Gut, dass der Kopf angewachsen ist!«
In Kopf und Körper vollzieht sich aber gerade ein Neustart, der alles Vorherige über den Haufen wirft. Pubertierende sind wie riesige Baustellen: Um- und Ausbauarbeiten mit den dazugehörigen Schwierigkeiten beeinträchtigen nicht nur die Heranwachsenden, sondern die gesamte Familie. Der Anfang der Pubertät beginnt bei den Mädchen mit dem 10. Lebensjahr bei Jungen etwas später, zwischen dem 12. und 15. Lebensjahr. Lange vor den äußerlichen Veränderungen beginnt die Vorbereitung im Gehirn.
Hormonelle Schübe
Die Hormone FSH (follikelstimulierendes Hormon) und LH (luteinisierendes Hormon) werden dort gebildet und bewirken, dass sich der Körper langsam verändert. Die Sexualhormone, die Estrogene und das Testosteron, sind verantwortlich für das Reifen der Eizellen und die Produktion der Samenzellen. Durch die Hormone sprießen Mitesser und Pickel, was den Heranwachsenden das Leben zusätzlich schwer macht. Aus Kindern werden allmählich Erwachsene, die sich fortpflanzen und eine neue Generation gründen können. »Ich darf jetzt Sex haben!«, platzte neulich die 14-jährige Tochter meiner Freundin heraus. »Welche Errungenschaft«, entgegneten wir Mütter abgeklärt, wenn auch staunend. Wie langweilig wir doch auf die revolutionsbereiten Teenager wirken müssen.
Im Unterschied zu unserer Pubertät sind die heutigen Kinder und Jugendlichen allerdings einer Medienflut ausgesetzt, die wir nicht kannten. Selbst wer keinen uneingeschränkten Internetzugang hat, liest ein Kampfblatt für Kids »Bravo, Bravo Girl, Go Girl oder Mädchen.« Neugierig blättere ich die neueste Bravo durch und lese: »Sex ist erlaubt, wenn du 14 oder 15 bist, dein Sexpartner 14 oder älter, aber unter 21 Jahren ist.« Ich finde die Aussage etwas verwirrend, aber das Blatt klärt detailliert weiter auf über Rechtsfragen und zu jeder Sexpraktik, inklusive Tipps und Foto-Love-Story. Welchem großen Druck müssen die Jugendlichen ständig ausgesetzt sein, wenn die Medien permanent über Sexualität berichten? Dabei nehmen, besonders bei den Mädchenzeitschriften, die Tipps zum äußeren Erscheinungsbild den größten Stellenwert ein. In Fernsehsendungen wie »Deutschland sucht den Superstar« oder »Germanys-next-Topmodell« wird ihnen dauernd ein ideales Erscheinungsbild präsentiert. Anfänglich stöckelte auch meine Tochter auf Pumps durch die Wohnung: »Guck doch mal, wie ich laufe, Mama!« Mittlerweile ist ihr das zu langweilig, und die gouvernantenartigen Meckerattacken des Chefmodels Heidi Klum gehen ihr ähnlich auf die Nerven wie meine. Zu den neuen An- und Herausforderungen tauchen alles entscheidende Fragen auf: Wer bin ich? Wie wirke ich auf andere? Werde ich akzeptiert und gemocht? Was ist mir wichtig? Das ständige Hinterfragen der eigenen Person, die Überprüfung unterschiedlicher Lebensmodelle und neuer Ideologien gehören natürlich zum Prozess der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit dazu. Einerseits möglichst schnell erwachsen sein zu wollen und sich gleichzeitig ein Stück Kindheit zu bewahren, birgt zusätzliches Konfliktpotenzial.
Eltern als Wegweiser
»Wenn du zu viel Energie hast, geh nach draußen Holz hacken«, sagte mein Opa, wenn wir Kinder ihn zu sehr nervten. Im Verein oder mit Freunden Sport zu treiben, einen Tanzkurs zu besuchen oder Hobbys helfen Jugendlichen, mit den körperlichen Veränderungen und dem »seelischen Chaos« besser umzugehen. Auch wenn die Heranwachsenden ihre Eltern häufig nur noch »peinlich« finden, leben diese ihnen doch gleichzeitig einen Weg vor.
Denn Kinder und Jugendliche lernen vorrangig durch das Verhalten ihrer Bezugspersonen und Vorbilder. Diese können sie früh an Hobbys heranführen, ihnen das Bewusstsein für eine gesunde Lebensführung vermitteln sowie modellhaft zeigen, wie man mit Erfolgen richtig umgeht, aber vor allem, wie man Misserfolge bewältigt. Der unbewusste Einfluss der Eltern ist am stärksten. Das Imitationslernen hat auch einen hohen Stellenwert, wenn es um den Konsum von Suchtmitteln geht. Es gibt kein Patentrezept, mit dem Eltern alle potenziellen Gefahren aus dem Weg räumen können. Doch gilt als erwiesen, dass seelisch gesunde und stabile Kinder ein deutlich geringeres Risiko für Suchterkrankungen haben.
Die Pubertät ist die Zeit der emotionalen Lösung von den Eltern und der Suche nach neuen Bindungen. Sie ist der Abschied von der Kindheit und der Aufbruch in eine neue spannende Zeit. »Kinder sind Gäste, die nach dem Weg fragen«, sagt ein pakistanisches Sprichwort. Eltern sind Wegweiser, begleiten und unterstützen ihre Kinder. Uneingeschränktes Interesse und das nie abreißende Gespräch sind die wichtigsten Signale für die Heranwachsenden. Zum einen neue Freiräume zu lassen und gleichzeitig immer noch Grenzen zu setzen, führt oft zu Streitereien. Niemand kann einen anderen vor Schaden bewahren, auch Eltern ihre heranwachsenden Kinder nicht. Wer auf die Nase gefallen ist, braucht jedoch ein Elternhaus, das ihn auffängt. Egal wie schwierig es ist, Eltern sollten den Kontakt zu ihren jugendlichen Kindern nicht abbrechen lassen und mit ihnen im Gespräch bleiben. Aus Kindern werden langsam Erwachsene, die Stück für Stück mehr Verantwortung für sich und andere übernehmen. Über revolutionäre Gedanken lässt sich prima diskutieren. Fantastische Träume und ein paar Geheimnisse sind wunderbar. Zu jeder Zeit, nicht nur in der Pubertät.
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