Neue Arzneistoffe im Mai 2011 |
20.05.2011 13:03 Uhr |
Von Sven Siebenand / Alles neu macht der Mai. Ganz so ist es nicht, doch in diesem Kalendermonat kamen immerhin vier neue Arzneistoffe auf den deutschen Markt. Darunter ein Brustkrebsmittel, ein Antiepileptikum und ein Mittel zum Einsatz im Rahmen der Dialyse sowie bei Patienten mit Lungenhochdruck. Der vierte Neuling erspart manchen Patienten mit einer spezifischen Handerkrankung den chirurgischen Eingriff.
Der Morbus Dupuytren, auch Dupuytren-Kontraktur genannt, ist eine langsam fortschreitende Erkrankung des Bindegewebes in den Handinnenflächen und den Fingern, typischerweise an Klein- und Ringfinger. In ihrem Verlauf sammelt sich überschüssiges Kollagen an, sodass sich Stränge unter der Haut bilden, die die Finger in Richtung Handinnenflächen ziehen. Dann können die Betroffenen einen oder mehrere Finger nicht mehr vollständig ausstrecken. Bisher führte für die Betroffenen kein Weg an einer Handoperation vorbei, denn der Erfolg anderer Methoden wie die Gabe von Cortisol, Vitamin E oder eine Behandlung mit Ultraschall ist der Deutschen Gesellschaft für Handchirurgie zufolge wissenschaftlich nicht bewiesen.
Mikrobielle Kollagenase
Seit Anfang Mai gibt es in Deutschland erstmalig eine injizierbare Therapieoption: mikrobielle Kollagenase (Xiapex®, 0,9 mg Pulver und Lösungsmittel zur Herstellung einer Injektionslösung, Pfizer). Das neue Arzneimittel enthält gereinigte mikrobielle Kollagenase aus dem Bakterium Clostridium histolyticum. Wie der Name bereits sagt, bauen Kollagenasen enzymatisch Kollagen ab. Zugelassen ist das Präparat für die Therapie Erwachsener mit Dupuytren’scher Kontraktur mit tastbarem Strang.
Die Anwendung erfolgt ambulant und als lokale Injektion. Der Arzt spritzt die angemessene Dosis direkt in einen Strang in der Handfläche des Patienten. In der Fachinformation empfiehlt der Hersteller 0,58 mg pro Injektion. Etwa 24 Stunden danach streckt der Arzt dann vorsichtig den oder die betroffenen Finger circa 10 bis 20 Sekunden lang, was hilft, den Strang zu lösen. Wichtig: Es darf immer nur ein Strang behandelt werden. Falls mit einer einmaligen Injektion und der anschließenden Fingerstreckung kein zufrieden stellendes Ergebnis erzielt wurde, kann der Arzt das Verfahren wiederholen, jedoch mit höchstens drei Injektionen pro Strang im Abstand von jeweils einem Monat.
Die häufigsten Nebenwirkungen waren in Studien lokale Reaktionen an der Injektionsstelle, zum Beispiel Schwellung, Bluterguss, Blutungen und Schmerzen. Diese traten bei der überwiegenden Mehrheit der Patienten auf. Allerdings waren diese Reaktionen überwiegend leicht bis mittelschwer und klangen im Allgemeinen innerhalb von einer bis zwei Wochen ab.
Obwohl in den Studien keine schweren allergischen Reaktionen beobachtet wurden, müssen Ärzte damit rechnen, dass diese auftreten und darauf vorbereitet sein, schwere lokale oder systemische allergische Reaktionen im Anschluss an die Injektion zu behandeln. In der Fachinformation weist der Hersteller zudem darauf hin, dass das Risiko solcher Reaktionen nach wiederholter Anwendung des neuen Präparates möglicherweise erhöht ist. Zudem empfiehlt er Ärzten, bei Patienten mit Blutgerinnungsstörungen oder solchen, die Antikoagulanzien einnehmen, Vorsicht walten zu lassen.
Neues Brustkrebsmittel
Nach seiner EU-Zulassung ist der neue Wirkstoff Eribulin (Halaven™ 0,44 mg/ml Injektionslösung, Eisai) seit Anfang Mai auf dem deutschen Markt verfügbar. Für die Behandlung kommen Frauen mit lokal fortgeschrittenem oder metastasiertem Brustkrebs infrage, deren Erkrankung sich trotz mindestens zwei Chemotherapiezyklen weiter verschlechtert hat. Zuvor sollten die Frauen möglichst mit einem Anthracyclin und einem Taxan behandelt worden sein.
Eribulin erhalten die Patientinnen als intravenöse Injektion. In der Fachinformation empfiehlt der Hersteller eine Dosis von 1,23 mg pro m2 Körperoberfläche, die an den Tagen 1 und 8 eines 21-Tages-Zyklus jeweils für die Dauer von zwei bis fünf Minuten intravenös gegeben werden sollte. Da Eribulin Übelkeit und Erbrechen hervorrufen kann, sollte der Arzt erwägen, der Patientin prophylaktisch ein Antiemetikum zu geben. Bei einigen Patientinnen ist es erforderlich, die Dosis zu reduzieren oder den Zeitraum der Gabe zu verzögern, zum Beispiel bei Patientinnen mit sehr niedrigen Blutwerten von Neutrophilen und Thrombozyten oder bei Patientinnen mit eingeschränkter Leber- oder Nierenfunktion.
Eribulin ist der synthetische Nachbau einer Substanz, die natürlicherweise in einem Meeresschwamm vorkommt. Der neue Arzneistoff bindet an ein Protein in Zellen, das sogenannte Tubulin. Das hat zur Folge, dass sich bei der Kernteilung kein Spindelapparat mehr entwickeln kann und die Zellvermehrung daher blockiert wird. Letztlich wird so das Tumorwachstum unterdrückt.
Die häufigsten Nebenwirkungen von Eribulin betreffen das Blutbild: verringerte Werte von weißen und roten Blutzellen. Zudem traten sehr häufig Appetitlosigkeit, Nervenschäden in den Extremitäten, Kopfschmerzen, Haarausfall, Muskel- und Gelenkschmerzen, Erschöpfung, Fieber sowie Magen-Darm-Probleme wie Übelkeit, Verstopfung, Durchfall und Erbrechen auf. Stillende dürfen aus Sicherheitsgründen kein Eribulin erhalten. Bei Schwangeren darf der Arzt den Wirkstoff nur im Notfall einsetzen, nachdem er den Nutzen für die Mutter und das Risiko für den Feten sorgfältig abgewogen hat.
Eribulin wird hauptsächlich über die Galle ausgeschieden. Damit die Blutwerte nicht zu stark ansteigen, soll der Arzneistoff nicht gleichzeitig mit Wirkstoffen gegeben werden, die Transportproteine der Leber hemmen. Als Beispiele nennt der Hersteller in der Fachinformation unter anderem Ciclosporin, Ritonavir, Saquinavir, Verapamil und Clarithromycin.
Ebenso könnte der Plasmaspiegel des Krebsmittels zu stark gesenkt werden, wenn die Frauen gleichzeitig enzyminduzierende Substanzen wie Rifampicin, Carbamazepin, Phenytoin und Johannniskraut einnehmen.
Neues Antiepileptikum
Mit Retigabin (Trobalt® Filmtabletten, GlaxoSmithKline) ist seit Mitte Mai ein weiteres Antiepileptikum auf dem deutschen Markt. Zugelassen ist es zur Behandlung von erwachsenen Patienten mit fokalen Krampfanfällen mit oder ohne sekundäre Generalisierung und nur zusammen mit anderen Antiepileptika. Typische Symptome eines fokalen Anfalls, der nur einen Teil des Gehirns betrifft, sind ruckartige Bewegungen eines Körperteils, Hör-, Riech- oder Sehstörungen, Taubheit oder plötzliche Angstgefühle. Sekundäre Generalisierung bedeutet, dass die übermäßige elektrische Aktivität schließlich das gesamte Gehirn erfasst.
Retigabin wirkt auf die Kaliumkanäle in den Nervenzellen des Gehirns. Der Wirkstoff sorgt dafür, dass die Kanäle geöffnet bleiben. Dadurch werden elektrische Impulse nicht weitergeleitet und epileptische Anfälle verhindert.
Die Patienten müssen in der ersten Therapiewoche dreimal täglich 100 mg Retigabin einnehmen. PTA und Apotheker können sie darauf hinweisen, die Tabletten nicht zu zerkauen, zerstoßen oder zerteilen, sondern ganz zu schlucken. Nach einer Woche wird die Dosierung – je nach Ansprechen und Verträglichkeit – jede Woche um 50 mg je Dosis erhöht. In der Fachinformation nennt der Hersteller als übliche wirksame Erhaltungsdosis 600 bis maximal 1200 mg pro Tag. Bei Beendigung der Retigabin-Therapie muss die Dosis wieder schrittweise reduziert werden. Ältere Menschen oder Patienten mit mittelschweren oder schweren Nieren- oder Leberproblemen erhalten eine geringe Dosis.
Die häufigsten Nebenwirkungen sind Schwindel, Müdigkeit und Erschöpfung. Laut Fachformation sollen die Patienten auch über das Risiko anderer möglicher Nebenwirkungen aufgeklärt werden, beispielsweise über Schwierigkeiten beim Wasserlassen oder Halluzinationen. Zudem sollten die Patienten oder deren Betreuer medizinische Hilfe in Anspruch nehmen, sobald Suizidgedanken auftreten. Sie könnten mit der Einnahme von Retigabin im Zusammenhang stehen.
Auch Veränderungen der elektrischen Aktivität des Herzens sind möglich, im Fachbegriff als QT-Zeitverlängerung bezeichnet. Bei Patienten mit bekannten Vorerkrankungen des Herzens, QT-Verlängerung, Elektrolytstörungen und bei über 65-Jährigen sollte vor Beginn der Behandlung deshalb eine EKG-Kontrolle erfolgen.
Schwangere und Frauen im gebärfähigen Alter, die nicht verhüten, sollen kein Retigabin einnehmen.
Ein Arzneistoff, zwei Wirkungen
Anfang Mai kam außerdem ein neuer Thrombozytenaggregationshemmer und Vasodilatator auf den Markt: Epoprostenol (Epoprostenol Rotexmedica, Pulver und Lösungsmittel zur Herstellung einer Infusionslösung, Panpharma/Rotexmedica). Die Substanz ist ein Prostaglandin, das der Körper auch selbst bildet. Sie ist der wirksamste bekannte Hemmstoff der Thrombozytenaggregation. Ferner besitzt Epoprostenol einen gefäßerweiternden Effekt.
Deshalb kann die neue Substanz den Gerinnungshemmer Heparin während einer Nierendialyse ersetzen. Dazu erhalten die Patienten entweder eine 15-minütige Infusion vor der Dialyse oder die Infusion wird während der Dialyse direkt in den Dialysator gegeben, damit in den Schläuchen der Dialysemaschine das Blut nicht gerinnt. Während der Behandlung sollte der Arzt Blutdruck und Herzfrequenz des Patienten überwachen. Beim Einsatz kann ein Azetatpuffer in der Dialyseflüssigkeit die blutdrucksenkende Wirkung von Epoprostenol verstärken.
Zudem profitieren Patienten mit Lungenhochdruck von Epoprostenol. Bei der sogenannten pulmonalen Hypertonie sind die Gefäße der Lunge stark verengt, wodurch der Blutdruck in diesem Organ deutlich steigt. Epoprostenol weitet die Gefäße, sodass der Druck wieder sinkt.
Patienten mit Lungenhochdruck erhalten Epoprostenol oft als Dauerinfusion mithilfe einer kleinen tragbaren Infusionspumpe. Daher muss der Patient dazu bereit sein, das Arzneimittel steril vorzubereiten und zu verabreichen sowie den Venenkatheter zu pflegen. Die Patienten müssen darin geschult werden und wissen, dass sich die Therapie mit hoher Wahrscheinlichkeit über lange Zeit, eventuell über Jahre, erstrecken wird. Zudem muss ihnen erklärt werden, dass sich die Symptome sofort verschlimmern, wenn die Zufuhr von Epoprostenol nur kurz unterbrochen wird.
Die Kombination mit NSAR oder anderen Thrombozytenaggregationshemmern kann das Blutungsrisiko erhöhen. Bei gleichzeitiger Anwendung eines anderen Vasodilatators verstärkt sich die gefäßerweiternde Wirkung. Last but not least ist es möglich, dass Veränderungen der Herzfrequenzen, also Tachy- oder Bradykardien, durch die gleichzeitige Gabe anderer Herzmedikamente verstärkt oder abgeschwächt werden.
Zu den sehr häufigen Nebenwirkungen zählen Gesichtsrötung, Schwitzen, Übelkeit und Erbrechen, Kiefer- und Kopfschmerzen, Blutvergiftung und Unruhe. Schwangere und Stillende sollten den neuen Arzneistoff nicht erhalten. /