Wenn Fruchtzucker Zellen vergiftet |
20.05.2011 13:10 Uhr |
Von Iris Priebe / Schmerzen im Oberbauch, Blähungen, Übelkeit, Erbrechen und Durchfall – diese relativ unspezifischen Symptome können durch unterschiedliche Erkrankungen bedingt sein, beispielsweise durch einen Magen-Darm-Infekt. Lehnt der Betroffene aber außerdem Süßes ab und ist seine Leber vergrößert, weisen die Beschwerden auf die hereditäre Fructoseintoleranz hin.
Wie viele andere seltene Erkrankungen geht auch die hereditäre Fructoseintoleranz, kurz HFI, auf einen Genfehler zurück und ist damit angeboren. Der Fruchtzucker-Stoffwechsel der Betroffenen ist gestört, denn ihnen fehlt das dafür notwendige Enzym Fructose-1-Phosphat-Aldolase B, oder das Enzym ist in seiner Aktivität stark eingeschränkt. Weltweit leidet 1 von 18 000 bis 20 000 Menschen unter HFI – in Deutschland also schätzungsweise um die 4000 bis 4500.
Der Begriff hereditär leitet sich vom lateinischen hereditas ab, was Erbschaft oder Erblichkeit bedeutet, denn HFI wird autosomal-rezessiv vererbt. Das bedeutet, beide Elternteile müssen Träger eines defekten Gens für Aldolase B sein. Das Risiko, dass ihr Kind beide Gendefekte erbt und an HFI erkrankt, liegt bei 25 Prozent. Mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit ist es wie seine Eltern Träger eines defekten Gens, bleibt selbst aber völlig gesund.
Der Einfachzucker Fructose ist nicht nur in Obst, sondern auch in Gemüse und Honig enthalten. Außerdem entsteht Fructose im Darm aus dem Zweifachzucker Saccharose mithilfe von Glucosidasen, wobei je ein Molekül Fructose und Glucose (Traubenzucker) freigesetzt werden. Saccharose kommt in geringer Menge in fast allen Pflanzen vor. Wenn die Industrie Saccharose aus Zuckerrüben oder Zuckerrohr isoliert, entstehen als Endprodukte Haushaltszucker, Rohr-, Rüben-, Kandis-, Kristall-, Puder-, Invertzucker oder Raffinade. Alle diese Zuckersorten vertragen Menschen mit HFI nicht.
Leber und Nieren in Gefahr
Nach der Resorption im Darm gelangt Fructose ins Blut, wird zur Leber transportiert und dort weiter abgebaut. Zunächst wandelt das Enzym hepatische Fructokinase Fruchtzucker in Fructose-1-Phosphat um. Danach spaltet das Enzym Aldolase B (Fructose-1-Phosphat-Aldolase) das Fructose-1-Phosphat in Glycerinaldehyd und Dihydroxyacetonphosphat. Fehlt Aldolase B oder ist das Enzym nur mäßig aktiv, endet an diesem Punkt die Verstoffwechselung der Fructose. Fructose-1-Phosphat häuft sich jetzt mehr und mehr in den Zellen an und vergiftet diese, bis sie absterben. Schließlich fallen immer mehr Gewebeareale aus. Leber, Nieren und Darm können ihre Aufgaben nicht mehr ausreichend erfüllen.
Säuglinge mit HFI leiden zunächst unter keinerlei Symptomen, solange sie gestillt werden. Doch sobald sie Früchte oder Fruchtsäfte erhalten, setzen die typischen Beschwerden im Magen-Darm-Trakt ein. Bleibt die HFI längere Zeit unentdeckt, wachsen die Kinder nur verzögert, und ihre Leber vergrößert sich. Unbehandelt können Leber und Nieren der Kleinkinder lebensbedrohlich geschädigt werden. Weil auch andere wichtige Enzymreaktionen zum Erliegen kommen, können sich außerdem schwere Unterzuckerungszustände (Hypoglykämien) einstellen. Sie äußern sich mit Schweißausbrüchen, Hunger, Schwindel bis hin zur Bewusstlosigkeit aufgrund eines hypoglykämischen Schocks, der tödlich enden kann.
Genauso tückisch wie Fructose wirkt auf den Stoffwechsel der HFI-Patienten der Zuckeraustauschstoff Sorbit (E 420), denn in der Leber wird Sorbit zu Fructose umgebaut. Mit Sorbit süßen Industriebetriebe Diät- und Light-Produkte, aber beispielsweise auch Zahnpasten.
Gute Kohlenhydrate
Gut vertragen die Patienten hingegen die Monosaccharide Glucose und Galactose, ein Abbauprodukt des Milchzuckers, ebenso die Disaccharide Maltose aus zwei Glucose-Molekülen und Lactose aus einem Glucose- und einem Galactose-Molekül.
Poly- und Disaccharide werden bereits im Mund und später im Dünndarm durch spezifische Enzyme wie Amylasen, Maltasen, Saccharasen oder Lactasen zu Monosacchariden aufgespalten, die über die Darmwand in den Blutkreislauf gelangen. Keine Probleme bereiten den Patienten die komplexen Kohlenhydrate Stärke, Glykogen und Zellulose. Mit jeder pflanzlichen Kost verzehrt der Mensch den Speicherstoff Stärke und die Gerüstsubstanz Zellulose. Glykogen ist in Fleischprodukten enthalten, weil Leber, Muskeln und viele andere Körperzellen es speichern. Alle drei Kohlenhydrate bestehen aus langen Ketten von Glucose-Molekülen, sodass bei ihrer Resorption und Verstoffwechselung nie Fructose anfällt.
Zu den Polysacchariden gehören aber auch der Ballaststoff Inulin und das Präbiotikum Oligofructose. Beide enthalten Fructosereste und sind daher für HFI-Patienten tabu.
Verwechslungsproblem
Charakteristisch für die hereditäre Fructoseintoleranz ist, dass Fructose im Darm vollständig resorbiert, jedoch aufgrund des Aldolase-B-Mangels in der Leber nicht weiter abgebaut werden kann. Laien verwechseln die Erkrankung häufig mit der intestinalen Fructose-Malabsorption. Bei Menschen mit intestinaler Fructose-Malabsorption wird Fructose im Dünndarm nur unzureichend resorbiert, weil das für den aktiven Transport der Fructose durch die Dünndarmschleimhaut zuständige GLUT-5-Protein nicht richtig arbeitet. Somit gelangt nur wenig oder gar keine Fructose in den Blutkreislauf, sondern wird im Dünn- und im Dickdarm von anaeroben Bakterien verdaut. Daher leiden Patienten mit intestinaler Fructose-Malabsorption nach dem Verzehr von Fructose ebenfalls unter Oberbauchschmerzen, Blähungen, Übelkeit und Durchfällen; ihre Leber und Nieren bleiben dabei jedoch gesund. Dass beide Krankheiten zu fast gleichen Symptomen führen, erschwert die Diagnose.
Woran der Patient leidet, versucht der Arzt zunächst mit einem Ernährungs- und Beschwerdeprotokoll zu ermitteln. Zwei Besonderheiten fallen auf: Im Unterschied zu anderen Kindern verweigern HFI-Patienten Naschereien und Süßes instinktiv, und ihr Gebiss ist in der Regel kariesfrei.
Letztlich bringt nur der Gentest eindeutig Klarheit. Hierzu muss der Arzt dem Kind Blut abnehmen, aus dem ein Labor die DNA isoliert und auf HFI-spezifische Mutationen untersucht. Manchmal müssen die Tests wiederholt werden, um seltene oder neue Mutationen aufzuspüren.
Nur noch selten folgt heute zur Erhärtung des Befundes eine Biopsie der Leber oder des Dünndarms. In der Gewebeprobe bestimmt ein Labor das Verhältnis von Fructose-1-Phosphat zu Fructose-1,6-Biphosphat. Normalerweise beträgt es 1 zu 1, bei HFI-Patienten 2 zu 1.
Um die Fructose-Malabsorption eindeutig abgrenzen zu können, führt der Arzt einen H2-Atemtest durch. Dann muss der Patient morgens nüchtern und ohne sich die Zähne geputzt zu haben (Sorbit!) in der Arztpraxis eine abgemessene Menge Fruchtzucker-Lösung trinken. Anschließend muss er drei Stunden lang alle 30 Minuten in kleine Ballons atmen und danach wird die Konzentration von Wasserstoff in der Ausatemluft gemessen. Zersetzen Bakterien die Fructose im Dünn- oder Dickdarm, entstehen hohe Wasserstoff-Konzentrationen, die teilweise über die Lunge abgeatmet werden. Steigt die H2-Konzentration in den Probeballons über 20 ppm (parts per million), sehen Ärzte darin ein Indiz für die Malabsorption.
Therapie bedeutet strenge Diät
Die einzige Maßnahme zur Behandlung der hereditären Fructoseintoleranz ist eine streng fructosearme Ernährung. Was sich so simpel anhört, mindert die Lebensqualität der Betroffenen deutlich. HFI-Patienten dürfen folgende Lebensmittel nicht essen oder trinken: Brot mit Zuckerzusatz, Honig, Marmelade, zuckerhaltige Wurst- und Käsesorten, Fertigmüslimischungen, Gemüse wie Erbsen, Möhren, Bohnen, Tomaten, Zwiebeln, diverse Kohlsorten, alle Obstsorten inklusive Trockenobst, alle zuckerhaltigen Konserven und Fertigprodukte sowie Gewürzmischungen, Süßigkeiten inklusive Gebäck und Eis, Früchtetee, Fruchtsäfte, Limonaden und Alkohol.
Erlaubt sind hingegen Laugengebäck und mit Traubenzucker gesüßte Weißmehlbrote und -brötchen, Quark, Naturjogurt, Eier, mit Dextrose oder Lactose gesüßte Wurstwaren, alle unpanierten Fleisch- und Fischsorten, diverse Salatsorten, Spinat, Mangold, Radieschen, Rettich, Rhabarber, Speisepilze, kleine Mengen Schalotten, Kräuter, Avocado, Oliven, Sesam und Sonnenblumenkerne, Nudeln, Reis, geschälte und gewässerte Kartoffeln, Reiswaffeln, Salzgebäck, Butter, Margarine, Öl, Wasser, Kaffee, Milch sowie Tee ohne Zusatz von Aromastoffen.
Vitaminbedarf decken
Der Diätplan macht deutlich, dass die Patienten ihren Bedarf an Vitaminen, Mineralstoffen, Spurenelementen und sekundären Pflanzenstoffen mit entsprechenden Präparaten decken müssen. Für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsenen eignen sich zum Beispiel Multibionta® Nutrition Tropfen aus der Apotheke. Sie enthalten neun essenzielle Vitamine. Gesüßt sind sie mit den erlaubten Süßstoffen Acesulfam-K und Saccharin-Natrium. Erwachsene ab etwa 40 Jahren vertragen in der Regel Vita Gerin® Kapseln gut. Viele praktische Informationen finden Interessierte auf der Homepage der Selbsthilfegruppe hereditäre Fructoseintoleranz (HFI) unter www.fructoseintoleranz.de /
Der Autor ist HFI-Patient und fasst in dem Ratgeber seine Erfahrungen zusammen. Das Buch enthält daher viele praktische Tipps für den Alltag, beispielsweise Informationen über geeignete Lebensmittel und mehr als 80 Koch- und Backrezepte. Weil das umfangreiche Buch viel Hintergrundwissen vermittelt, eignet es sich auch als Nachschlagewerk für interessierte Apothekenmitarbeiter.
Martin Sacherl, Hereditäre Fructoseintoleranz und Fructose-Malabsorption, ISBN 978-3-00-021754-8, 25,- Euro, erhältlich direkt bei der Selbsthilfegruppe unter www.fructoseintoleranz.de.