Gleiche Chancen in der Schule |
25.05.2012 17:13 Uhr |
Von Brigitte M. Gensthaler, München / Pilot, Sprengmeister, Forscher: Kinder mit ADHS haben Berufswünsche wie andere Kinder auch. Doch in der Schule mitzuhalten, fällt ihnen oft schwer. Eine neue Initiative setzt sich für Chancengleichheit ein.
Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bekommen fast überall Probleme: zu Hause, in der Schule, bei Freunden. Denn sie sind unruhig, impulsiv, manchmal aggressiv und stören häufig. Obwohl sie normal begabt sind, scheitern viele Kinder in der Schule. Für Chancengleichheit der ADHS-Kinder warb die frühere Bundesfamilienministerin Renate Schmidt bei einer Pressekonferenz der Kampagne »ADHS und Zukunftsträume« in München. »Mit einer guten, individuell ausgerichteten Therapie können die Kinder ihre Stärken nutzen und Ergebnisse erzielen, die ihren Fähigkeiten entsprechen.« Schmidt ist Schirmherrin der vor einem Jahr gegründeten Initiative, die von der Pharmafirma Shire Deutschland unterstützt wird und deren Hauptanliegen es ist, für Kinder mit ADHS Chancengleichheit zu erreichen.
Die Kampagne will mit Vorurteilen aufräumen. »ADHS ist keine Modekrankheit und keine Erfindung, sondern eine neurobiologische Erkrankung«, betonte Schmidt. Viel zu oft würden betroffene Kinder und ihre Eltern stigmatisiert und verunsichert, sodass sie erfolgreiche Therapien abbrechen.
»Die Eltern sind nicht schuld an der Krankheit, aber sie können deren Verlauf beeinflussen«, unterstrich auch Professor Dr. Martin Holtmann, Direktor der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hamm. Weder falsche Erziehung noch zu viel Fernsehen oder Computerspielen könnten ADHS auslösen.
Genetisch bedingt
»Etwa 80 Prozent der Symptomatik sind genetisch oder biologisch bedingt«, sagte der Arzt. So hätten Wissenschaftler Auffälligkeiten im Belohnungssystem, in der Zeitwahrnehmung und der Selektion von äußeren Reizen festgestellt. Im Alltag bedeutet dies beispielsweise, dass ADHS-Kinder fünf Minuten Stillsitzen wie eine Ewigkeit empfinden oder sich von allem ablenken lassen, was sie hören und sehen.
Viele Menschen meinen auch, ADHS verliere sich in der Pubertät. Dazu Holtmann: „Die Erkrankung geht im Erwachsenenalter weiter, aber die Betroffenen haben oft andere Symptome und können anders damit umgehen.“
Holtmann plädierte für eine klare Diagnose sowie eine individuell abgestimmte Therapie, die auf verschiedenen Ebenen ansetzen muss. Nach seiner Einschätzung ist bei der Hälfte der Kinder auch ein Elternteil, Vater oder Mutter, von ADHS betroffen, die dann ebenfalls behandelt werden müssten.
Innerlich zerrissen
Vera Zippe, Schulleiterin an der Volksschule Behringersdorf in Schwaig bei Nürnberg, berichtete als Lehrerin und Mutter – ihr Sohn leidet an ADHS – über ihre Erfahrungen. ADHS-Kinder würden sich als anders und »zerrissen zwischen Wollen und Nicht-Können« empfinden. Sie seien immer in Bewegung und müssten sich ständig neu spüren, was nicht nur ihre Klassenkameraden stört und nervt. Manche Kinder verhalten sich auch aggressiv. Daraus entstünden viele Konflikte mit Lehrern, Mitschülern und deren Eltern, sagte Zippe. Die Betroffenen litten darunter, wenn sie ausgegrenzt und beispielsweise nicht mehr zu Kindergeburtstagen eingeladen werden. Auch beim Zusammenstellen von Mannschaften im Sport werden sie manchmal ausgegrenzt.
Die engagierte Lehrerin nannte einige Möglichkeiten, die dem Kind in der Schule helfen. »Oft sind es Kleinigkeiten, die viel bewirken. Schüler mit ADHS bringen den Lehrer täglich an seine Grenzen.« Dennoch müsse der Lehrer sich bemühen, immer wieder das Positive, Liebenswerte und Kreative im Kind zu entdecken und hervorzuheben.
Reizarme Umgebung hilft
Sehr wichtig ist laut Zippe der richtige Sitzplatz im Klassenzimmer, der wenig Ablenkung bietet. Für die meisten Kinder bedeute dies einen Platz ganz vorne, manchmal auch einzeln. Nach ihrer Erfahrung sitzen manche Kinder hingegen besser ganz hinten in der Klasse. Eine reizarme Umgebung fördere die Konzentration; daher sollten möglichst wenig Gegenstände auf dem Tisch des Kindes liegen. »Für den Arbeitsplatz gilt: Weniger ist mehr.« Hilfreich könne sein, Arbeitsblätter zu knicken, damit das Kind immer nur die aktuelle Aufgabe sieht. Vor einem Blatt mit vielen Aufgaben zu sitzen, lenke ADHS-Kinder zu sehr ab. Von einem klaren Rhythmus des Schultags mit Bewegungspausen profitierten alle Schüler.
Außerdem müsse der Lehrer konsequent sein und auf Details achten. So scheitere manchmal die Erledigung der Hausaufgaben daran, dass das Kind diese in der Schule gar nicht notiert hat. Ein guter Kontakt zu den Eltern fördere das gegenseitige Vertrauen, betonte Zipp. Sie plädierte für Klassen mit weniger Schülern und berichtete, in manchen Schulen gebe es bereits »ADHS-Coaches«, die Kinder und Lehrer unterstützen.
Stärken fördern
»Vieles muss sich ändern, damit Kinder mit ADHS und anderen Handicaps gleiche Chancen haben«, resümierte Ex-Bundesfamilienministerin Schmidt. Die Kinder bräuchten mehr Wertschätzung. Sie hätten ein Recht darauf, mit ihren Stärken und Fähigkeiten gefördert zu werden. /
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