Süßen ohne Kalorien |
22.06.2012 16:39 Uhr |
Von Ursula Sellerberg / Vor Kurzem neu entdeckt haben die Europäer die »Zuckerpflanze« Stevia rebaudiana, deren Inhaltsstoffe 300-mal stärker süßen als Rohrzucker. Die Indianer Südamerikas verwenden die Blätter schon seit rund 500 Jahren zum Süßen der Tees. Was ist dran an Stevia?
Die Pflanze Stevia rebaudiana wuchs ursprünglich in Südamerika, vor allem in den höheren Lagen Paraguays und Brasiliens. Für die westliche Welt entdeckte sie 1887 der Schweizer Botaniker Moisés Bertoni (1857 bis 1929). In Deutschland wird Stevia auch Süßblatt, Honig- oder Süßkraut genannt. Für Paraquay ist Stevia zum Exportschlager geworden und ziert sogar Briefmarken. Wegen der großen Nachfrage wird die Pflanze inzwischen auch in vielen asiatischen Ländern angebaut.
Stevia gehört zu den Korbblütlern (Asteraceae). Das eher unscheinbare einjährige Kraut wächst bis zu 1,4 m hoch, wird aber in Plantagen meist schon mit einer Höhe von etwa 40 cm geerntet. Die gegenständigen Blätter werden etwa 2 bis 4 cm lang. Die weißen bis rosa Blüten bilden Trugdolden. Zur Extraktgewinnung dienen die Blätter beziehungsweise das Kraut. Die Südamerikaner verwenden zum Süßen ein bis zwei frische oder getrocknete Blätter pro Tasse Tee oder ein Viertel Teelöffel der pulverisierten Blätter.
Für Bakterien unverwertbar
Verantwortlich für den süßen Geschmack sind die sogenannten Steviolglykoside. Die Blätter enthalten bis zu 10 Prozent des Diterpens Steviosid. Dieser Hauptinhaltsstoff hat die 250- bis 300-fache Süßkraft von Rohrzucker (Saccharose). In hohen Konzentrationen schmecken die Naturstoffe zunächst süß, dann aber lakritzartig bis leicht bitter.
Bei der Nutzung von Stevia steht die Süßkraft eindeutig im Vordergrund. Zwar schreibt die Volksmedizin der Pflanze blutdrucksenkende, antimikrobielle und gefäßerweiternde Eigenschaften zu, die auch in Tierexperimenten beobachtet wurden, dennoch werden Steviablätter oder deren Extrakte medizinisch nicht verwendet. Von den Süßstoffherstellern wird Stevia auch als nicht-kariesauslösend beworben – diese Eigenschaft teilt sie mit anderen Süßstoffen. Die Bakterien, die Karies verursachen, können die Süßstoffe nicht zu Säuren verstoffwechseln.
Da Steviaglykoside hitzebeständig sind, können Steviaextrakte beim Kochen und Backen als Süßungsmittel verwendet werden, auch von der Industrie. Wer in Rezepten den Haushaltszucker durch Steviaextrakt ersetzen möchte, kann nur einen Teil des Zuckers weglassen. Denn zum einen wird Saccharose für das Volumen zum Beispiel des Kuchens benötigt, zum anderen zum Karamellisieren wie bei der Kruste auf Crème Caramel.
Als Zusatzstoff zugelassen
In einigen Ländern sind Stevia-Extrakte schon seit Längerem erhältlich, in Japan bereits seit 1975. In den USA süßen Hersteller seit 2009 Softdrinks mit Stevia. Erst seit Dezember 2011 dürfen Lebensmittelproduzenten auch in der Europäischen Union Stevia-Extrakt für die Herstellung kalorienarmer Produkte verwenden und müssen diesen als Zusatzstoff E 960 deklarieren. Andere Lebensmittel wie Desserts oder verschiedene Backwaren dürfen laut EU nicht mit Stevia gesüßt werden. Der Grund: Für diesen Verwendungszweck wurde noch kein Antrag gestellt.
Nur die Extrakte, die mindestens 95 Prozent Steviolglykoside enthalten, haben den Status »Lebensmittel«. Pflanzenteile wie Blätter oder Zubereitungen aus der Pflanze gelten dagegen als sogenannte neuartige Lebensmittel (engl. novel food). Neuartige Lebensmittel dürfen in der Europäischen Union nur nach einer gesundheitlichen Bewertung in den Handel kommen, und diese steht noch aus.
Die Blätter werden in einem mehrstufigen Verfahren extrahiert, unter anderem durch Mazeration, Fällung, Ionenaustausch und Kristallisation. Bei diesem Aufarbeitungsverfahren können sich Artefakte bilden. Daher darf der Süßstoff laut Vorgabe der zuständigen Länderbehörden zur Lebensmittelüberwachung nicht mit dem Prädikat »natürlich« beworben werden.
Stevia darf auch in Form von Tafelsüßen, etwa als Flüssigkeit oder in Tablettenform, in den Handel gebracht werden. Um die gesetzlichen Vorschriften zu umgehen, versuchen einige Firmen mit Tricks, auch andere Stevia-Produkte legal in den Handel zu bringen. Sie deklarieren die Extrakte oder die getrocknete Pflanze als Badezusatz, Kosmetikum oder Duftmischung und vermarkten diese als Pulver, Sirupe oder ganze Blätter. Wer den Preisunterschied nutzen möchte, sollte wissen, dass diese Produkte nicht immer die hygienischen Anforderungen erfüllen, die an Lebensmittel gestellt werden. Ein weiterer Nachteil: Die Produkte lassen sich nur schwer dosieren, weil die vorliegenden Konzentrationen oft nicht deutlich deklariert sind.
Tageshöchstdosis beachten
Für alle Süßstoffe haben Experten- gremien die akzeptable Tageshöchstdosis festgelegt, den sogenannten ADI-Wert (engl. acceptable daily intake). Der ADI von Stevia liegt bei 4 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag. Ein Erwachsener mit einem Körpergewicht von 70 kg dürfte folglich täglich 280 Milligramm Steviaextrakte verzehren. Das entspricht bei einer 300-fachen Süßkraft 84 Gramm Saccharose.
Laut EU-Gremien ist Stevia unbedenklich, wenn die Höchstmengen beachtet werden. Dennoch sind nicht alle gesundheitlichen Bedenken ausgeräumt. Über die Langzeitwirkungen von Stevia fehlen abschließende wissenschaftliche Untersuchungen. Die vorliegenden Studienergebnisse widersprechen sich zum Teil. Es ist unklar, was passiert, wenn die ADI-Werte überschritten werden. Vor allem bei Kindern sollte darauf geachtet werden, dass ihr Konsum an Süßigkeiten die Tageshöchstmengen nicht überschreitet. Auch Stevia ändert nichts daran: Süßigkeiten in großen Mengen sind und bleiben ungesund. /
Stellungnahme der EFSA zu Stevia: www.efsa.europa.eu/en/efsajournal/pub/1537.htm
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