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Historisches

Zähneziehen als Jahrmarkt-Show

22.06.2012  16:55 Uhr

Von Ernst-Albert Meyer / Im Unterschied zur Antike waren die Menschen in Mittelalter und Renaissance auf die »Künste« umherziehender Zahnbrecher, Wundärzte und Barbiere angewiesen. Bei Zahnschmerzen fackelten diese nicht lange: Der Zahn musste raus! Das war eine Tortur, vor der sich jeder so lange wie möglich drückte und stattdessen Hausmittel ausprobierte.

Die Zahnheilkunde entwickelte sich im Mittelalter wieder zum Bestandteil der Volksmedizin und des Aberglaubens. Bei Zahnbeschwerden wandten sich die Leidgeplagten an die heilige Apollonia, die durch ihr Martyrium zur Patronin der Zahnkranken geworden war. Der Märtyrerin aus Alexandria wurden bei der Christenverfolgung alle Zähne ausgeschlagen. Weil sie solche Schmerzen ertragen hatte und derart misshandelt worden war, sahen die Menschen im Mittelalter in ihr eine vortreffliche himmlische Helferin bei Zahnschmerzen und Kieferverletzungen. Halfen Kräuterweiblein und Hausmittel nicht, riefen die von Schmerzen Geplagten als letzte Zuflucht die Heilige um Hilfe an.

Nichts für studierte Ärzte

Zahnbeschwerden zu behandeln empfand ein studierter Arzt im Mittelalter als seines Ranges unwürdig und überließ dieses Gebiet den seiner Meinung nach unqualifizierten Chirurgen, Wundärzten, Zahnbrechern und Barbieren. Auf Jahrmärkten und Marktplätzen machten die reisenden Heiler mit viel Pomp und Lärm auf sich aufmerksam und boten ihre Dienste an.

Die Zahnextraktion wurde damals öffentlich zelebriert. Von Gaffern umringt, die sich das Schauspiel nicht entgehen lassen wollten, nahm der Operateur den Kopf des Kranken zwischen die Knie. Manchmal erhielt der Geplagte vorab eine Abkochung aus Bilsenkraut und Stechapfel zur Schmerzlinderung. Dann versuchte der Operateur, den kranken Zahn zu lockern, bevor er den vor Angst und Schmerzen Wimmernden in einen Schockzustand versetzte, indem er ihn heftig erschreckte. Erst jetzt zog er den Zahn mit einer Zange oder einem anderen Instrument blitzschnell heraus.

Ganz raffinierte Operateure präsentierten mit einem Taschenspielertrick ihrem Patienten und dem »erlauchten Publikum« als vermeintliche Krankheitsursache den »Zahnwurm«, der sich aus dem gezogenen Zahn herausringelte. Ging es dem Kranken nach einigen Tagen nicht besser, suchte er – falls er das Geld hatte – einen studierten Arzt auf. Denn häufig folgten auf die meist sehr schmerzhafte Prozedur Infektionen im Mund- und Kieferbereich. Der Arzt schaute sich den Urin des Kranken an, um so die Art der Krankheit zu erkennen. Als Therapie verordneten Ärzte damals üblicherweise einen Aderlass, damit »die fauligen Säfte, die vom Kopf herabsteigen«, abfließen konnten. Diese teure Behandlung dürfte allerdings kaum die quälenden Zahnschmerzen beseitigt haben! Als andere Möglichkeiten galten damals die Räucherung mit Bilsenkraut, um den ominösen Zahnwurm abzutöten, oder bei angeschwollenen, dicken Backen das Ansetzen von Blutegeln.

Arme Menschen mussten sich meist selbst helfen. Häufig blieben ihnen nur die überlieferten Hausmittel, um die Schmerzen zu bekämpfen. Anhänger der Sympathielehre glaubten, durch Berührung und bestimmte Sprüche ihre Krankheit und Gebrechen auf Pflanzen, Insekten oder andere Tiere übertragen zu können und so geheilt zu werden.

So lautete beispielsweise ein Rat: »Stell dich an einen Ameisenhaufen, kaue mit den Zähnen oder eben dem wehen Zahn eine schwarze Brotrinde, spuck sie sodann in einen Ameisenhaufen und gehe stillschweigend davon. Sollte der Zahnschmerz so stark sein, dass Kauen nicht möglich ist, drücke die Brotrinde nur dagegen, benetze sie mit Speichel und vergrabe sie dann im Ameisenhaufen.« Hatten die Ameisen die Brotrinde verzehrt, sollte auch der Schmerz verschwunden sein. Nicht gerade appetitlich ist folgendes Rezept: »Nimm die Schenkel von einer Feuerkröte, schäle das Fleisch von den Beinen sauber ab, und reibe die Zähn mit dem Bein, so wird der Schmerz gelindert.«

Häufig ging es in den Ratschlägen darum, den bösen »Zahnwurm« abzutöten. In einem Hausbuch aus dem Jahr 1580 heißt es: »Nimm Hollerschwämmlein (Holunder), leg’ sie zwischen den Backen und Zahn, so der weh tut, so sterben die Wurm.« Oder: »Nimm ein Stücklein Myrrhe, steck’s an ein Messer oder Pfriemen, halt’s über eine Glut, dass es gleich bratet, stoß dann klein und tu das Pulver in den Zahn, halt’ den Mund über ein Becken, darinnen Wasser ist, so fallen die Wurm heraus in das Wasser.«

Rat aus der Fachliteratur

Der Alchemist und Arzt Oswald Croll empfahl 1608 in seinem Traktat »Von den Signaturen« Öl oder Saft des Bilsenkrauts, weil die Pflanze Ähnlichkeiten zu einem Backenzahn aufweise. Die Flüssigkeit, warm in den Mund genommen, stille die Schmerzen. Da gemäß seiner Signaturenlehre die Kerne von Granatäpfeln die Zähne des Menschen repräsentieren, sollten auch diese heilend wirken. Und da die »Nüsslein« der Fichten Ähnlichkeiten mit den Schneidezähen aufwiesen, sollten bei Schmerzen dieser Zähne in Essig gesottene Fichtennadeln helfen.

Sogar noch mehr als 200 Jahre später hatten sich die Ratschläge kaum geändert, die meisten waren immer noch recht kurios und unwirksam. Hier einige Beispiele aus dem Büchlein »500 beste Hausarzneimittel« von 1844:

  • Eine Papiertüte oben anzünden, abbrennen lassen und den Tropfen Öl, der sich unten bildet, an den Zahn wischen,
  • Kohlenstaub in den Zahn bringen,
  • Baumwolle in Rum tränken und ins Ohr stecken,
  • Einen Nagel nehmen und damit in den Zähnen stochern, bis es blutig wird, und diesen bei Sonnenaufgang an einem finsteren Ort einschlagen und dabei den Namen des Patienten und »Zahnschmerz, geh weg!« rufen.

Leiden des Sonnenkönig

Kein Glück mit seinen Zähnen und seinen Ärzten hatte Ludwig XIV. (1638 bis 1715). Weil er Süßigkeiten nicht widerstehen konnte, hatte der französische König mit 38 Jahren seine Zähne schon völlig ruiniert. Hinzu kam ein ständig vereiterter Kiefer.

»Die schlechte Verfassung des linken Oberkiefers macht ihm Beschwerden. Sämtliche Zähne wurden ihm auf dieser Seite gezogen«, vermerkten seine Leibärzte. Doch bei dieser Prozedur rissen ihm die gelehrten Professoren der Sorbonne gleich noch ein Stück des Oberkiefers und des Gaumens mit he­raus und brachen ihm den Unterkiefer. Und dies alles ohne Narkose!

Durch das Loch im Oberkiefer sprudelte jetzt der Wein, den Ludwig trank, gleich wieder zur Nase heraus. Außerdem setzten sich in der »Höhle« im Oberkiefer Speisereste fest. Da sie faulten, muss der Mundgeruch des Königs schier unerträglich gewesen sein. Seine Mätresse Madame de Maintenon fand ihn so abstoßend, dass sie mit allerlei Tricks versuchte, Ludwig von seinen sexuellen Begierden abzuhalten.

Sein Leibarzt notierte: »Zum Zweck der Desinfektion habe ich seiner Majestät das Loch im Gaumen vierzehn Mal mit einem glühenden Eisenstab ausgebrannt.« Eine unvorstellbare Qual, die Ludwig angeblich tapfer ertrug! Heute ist bekannt, dass Bandwürmer den riesigen Appetit des Sonnenkönigs verursachten. Ludwig der XIV. verschlang täglich enorme Nahrungsmengen – natürlich nur das Feinste. Doch da er kaum kauen konnte, litt er ständig unter sehr starken Blähungen, die zusammen mit seinem Mundgeruch den Aufenthalt in der Nähe des Königs unerträglich machte. Das berichten übereinstimmend mehrere seiner Zeitgenossen.

Pionier aus Frankreich

Aus Frankreich gibt es jedoch auch Positives zu berichten: Als Pionier der modernen Zahnmedizin gilt der ehemalige Wanderchirurg Pierre Fauchard (1678 bis 1761), der sich im Jahr 1719 in Paris niederließ. Fauchard verstand sein Handwerk so gut, dass seine Praxis immer überlaufen war. Von seinen Einkünften konnte er sich sogar ein Schloss in der Nähe von Paris kaufen.

Bereits im Jahr 1723 schrieb er seine langjährigen Berufserfahrungen, Beobachtungen und Arbeitsmethoden als Zahnarzt in dem Lehrbuch »Le Chirurgien Dentiste ou Traité des dents« (Der Zahnchirurg oder Traktat über die Zähne) nieder. Dadurch wurde er zum Begründer der modernen Zahnheilkunde. Im Jahr 1728 erschien das mit Kupferstichen ausgestattete, fast neunhundert Seiten zählende zweibändige Werk. Damit löste sich die Zahnmedizin von der Chirurgie und begann ihren Weg als eigenständige Wissenschaft. Fau- chard bezeichnete sich selbst als »Zahnarzt« und forderte eine eigene akademische Ausbildung für Zahnärzte. In seinem Buch fasste er das seit der Antike vorhandene zahnheilkundliche Wissen zusammen und beschrieb die von ihm beobachteten Mund- und Zahnkrankheiten und deren Behandlungsmöglichkeiten.

Die »Zahnwurm-Theorie« verwies er ins Reich der Fabeln und nannte stattdessen die wahren Ursachen für Karies: Zucker, Säuren, falsche Ernährung und fehlende Mundhygiene. Außerdem forderte er von seinen Kollegen gute anatomische Kenntnisse, vor allem fürs Zähneziehen. Fauchard führte die für den Zahnarzt notwendigen Instrumente auf, beschrieb die verschiedenen Zahnfüllungen, eine von ihm erfundene Total-Zahnprothese und sogar kieferorthopädische Maßnahmen bei fehlerhaften Gebissen Jugendlicher. /

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