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Selen

Viel hilft weniger

23.03.2015  10:53 Uhr

Von Clara Wildenrath / Selen soll vor Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen schützen, die Frucht­barkeit erhöhen, das Immun­­system stärken und vieles andere mehr. Doch was ist dran an diesen Versprechungen?

Der Ruf des Selens hat sich in den letzten Jahrzehnten komplett gewandelt: Noch Anfang des 20. Jahrhunderts galt das seltene Halbmetall als Gift. In den 1950er-Jahren entdeckten dann US-amerikanische Forscher, dass Selen ein unverzichtbarer Bestandteil vieler Enzyme ist. Wenig später begann der Siegeszug des Selens als vermeintliche Geheimwaffe gegen diverse Krankheiten. Wissenschaftliche Studien, die die Heilkraft des Spurenelements belegen sollten, brachten teils ermutigende, teils ernüchternde Ergebnisse.

Sicher ist, dass im menschlichen Körper mindestens 25 verschiedene Proteine ihre Funktion ohne Selen nicht erfüllen könnten. Sie enthalten alle die Aminosäure Selenocystein. Mit am besten untersucht ist das Enzym Glutathion-Peroxidase. Es baut hochreak­tives Wasserstoffperoxid in der Zelle ab und schützt sie dadurch vor oxidativen Schäden durch freie Radikale. Deshalb gilt Selen – wie auch die Vitamine C und E – als Antioxidans und Radikal­fänger.

Viele selenhaltige Proteine finden sich in der Schilddrüse. Sogenannte Deiodasen wandeln dort Thyroxin in das biologisch aktive Hormon T3 um. Andere selenabhängige Deiodasen bauen vor allem im zentralen Nervensystem T3 wieder ab. Auch Blut, Muskeln, Hoden, Leber und andere Organe benötigen das seltene Spurenelement, um richtig arbeiten zu können. Überschüssiges Selen speichert der Körper in Form von Selenomethionin.

Selenmangel: meist unspezifische Symptome

Die erste Erkrankung, bei der Wissenschaftler einen Zusammenhang mit Selenmangel nachwiesen, war die Keshan-Krankheit: eine schwere Herzmuskelerkrankung, die unter Bauernfami­lien in einigen extrem selenarmen Gegenden Chinas gehäuft vorkam. Nachdem die Menschen dort zusätzlich Selensalz erhielten, verschwand die Krankheit praktisch völlig. Ein weniger ausgeprägter Selenmangel äußert sich in recht unspezifischen Beschwerden – etwa Müdigkeit, Haarausfall, schuppige Haut, Muskelschwäche, Leberfunktionsstörungen oder verringerte Spermaqualität.

Um den Körper ausreichend mit Selen zu versorgen, empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) für Erwachsene die tägliche Aufnahme von 30 bis 70 µg, für Kinder je nach Alter 10 bis 60 µg. Die tatsächliche Selenzufuhr mit der Nahrung liegt in Deutschland mit 30 bis 40 µg am unteren Ende des Referenzbereichs. In anderen Ländern, zum Beispiel in den USA oder in Südamerika, werden viel höhere Werte erreicht. Trotzdem beträgt der durchschnittliche Serumspiegel der deutschen Bevölkerung in Studien regelmäßig um die 80 µg/l; als physiologisch gelten Werte zwischen 50 und 120 µg/l.

Wie viel Selen jeder mit der Nahrung aufnimmt, hängt in erster Linie vom Selengehalt des Bodens ab. Der ist in Deutschland – mit regionalen Unterschieden – generell niedrig. Zusätzlich können heftige Niederschläge und saures Regenwasser Selen auswaschen. Ausgeglichen wird das zum Teil durch selenhaltige Dünger und Futtermittel. Verwertbares Selen kommt in tierischem Eiweiß als Selenocystein vor, in pflanzlichem als Selenomethionin. Besonders viel dieses essentiellen Spurenelements enthalten beispielsweise Innereien, Fisch und Meeresfrüchte, Paranüsse, Sesam und Kokos.

Potenziell unterversorgte Risikogruppen

Wer sich ausgewogen ernährt, muss auch in Deutschland keinen Selenmangel befürchten, sagt die DGE. Anders sieht es zum Beispiel bei strengen Veganern, Alkoholikern, Dialysepatienten und sondenernährten Menschen aus: Sie sind oft mit Selen unterversorgt. Bestimmte Krankheiten beeinträchtigen außerdem die Selenaufnahme über den Darm – etwa Nierenschäden, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen sowie Bulimie und Anorexie. Auch bei Schwangeren und Stillenden kann der Selenbedarf erhöht sein.

Nahrungsergänzungsmittel aus der Apotheke enthalten Selen in der Regel in anorganischer Form als Natriumselenit. Im Handel sind darüber hinaus Präparate mit Selenhefe oder Selenomethionin erhältlich. Von Produkten mit diesen organischen Verbindungen rät das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) aber ab: Zum einen liegen keine ausreichenden wissenschaftlichen Informationen über deren Unbedenklichkeit vor, zum anderen ist die Qualität von Selenhefe nicht standardisiert, so das BfR. Je nach Herstellungsverfahren enthalten entsprechende Präparate zwischen null und 97 Prozent organisch gebundenes Selen. Zwar ist die Bioverfügbarkeit organischer Verbindungen besser, doch erfolgt die Freisetzung nicht entsprechend dem Selenbedarf, sondern in Abhängigkeit vom Methionin-Umsatz. Zudem werden anorganische Selensalze spezifischer und bedarfsgeregelt in die entsprechenden Proteine eingebaut. Wenig sinnvoll ist darüber hinaus die oft erhältliche Kombination aus Vitamin C und Selen, da hochdosierte Ascorbinsäure die Aufnahme des Spurenelements verringert. Die beiden Antioxi­danzien sollten daher im Abstand von einer Stunde eingenommen werden.

Anders als zum Beispiel bei wasser­lös­lichen Vitaminen ist die Grat zwischen Nutzen und Schaden bei Selen sehr schmal. Das BfR hält deshalb eine Obergrenze von 30 µg Selen in Nahrungsergänzungsmitteln für wünschenswert. Das sogenannte »Tolerable Upper Intake Level«, also die maximal empfohlene tägliche Aufnahmemenge aus Nahrungsmitteln und Supplementen, liegt bei 300 bis 400 µg Selen. Wer dauerhaft mehr zu sich nimmt, muss mit unerwünschten Wirkungen rechnen. Deshalb sollten PTA und Apotheker Kunden oder Patienten davor warnen, mehrere Selen enthaltende Präparate einzunehmen oder zusätzlich zum Beispiel stark selenhaltige Paranüsse zu essen.

Zwar wird überflüssiges Selen zum Teil mit dem Urin ausgeschieden. Trotzdem wirkt es in höheren Konzentra­tionen toxisch. Die anhaltende Über­dosierung von Selen kann zu ähnlichen Beschwerden führen wie eine Unterversorgung: Müdigkeit, Haarausfall, Herzmuskelschwäche und Leberschädigungen. Bei einer akuten Vergiftung riecht der Atem durch das Abbauprodukt Dimethylselenid knoblauchartig. Dazu kommt es allerdings unter normalen Umständen selten.

Obwohl Selen potenziell giftig ist, gab es in der Orthomolekularmedizin teilweise einen regelrechten Hype um das Spurenelement. Der Fitnesspapst Dr. Ulrich Strunz beispielsweise preist Selen als »Wunderpille gegen Krebs«, die angeblich zu bis zu 70 Prozent aller Prostata-, Lungen- und anderer Krebserkrankungen verhindert. Tatsächlich deuten einige wissenschaftliche Studien auf einen Zusammenhang zwischen Selenspiegel und Krebsinzidenz hin. 1997 veröffentlichten US-amerikanische Forscher die Ergebnisse einer Studie, die den Effekt einer täglichen Selensupplementierung auf das erneute Auftreten von Hautkrebs (Sekundärprävention) untersuchen sollte. Das Ergebnis: Zwar ging die Hautkrebsrate nicht zurück, dafür aber das Risiko für Prostatakrebs und verschiedene andere bösartige Tumoren. Insgesamt sank die Krebssterblichkeit um etwa die Hälfte.

Auch mehrere Fall-Kontroll-Studien wiesen darauf hin, dass Männer mit einem niedrigen Selenspiegel häufiger an Prostatakrebs litten.

Bestätigen sollte diesen Zusammenhang dann die SELECT-Studie mit mehr als 35 000 Teilnehmern. Sie wurde jedoch vorzeitig abgebrochen, als sich herausstellte, dass das Krebsrisiko durch die tägliche Einnahme von Selen und/oder Vitamin E nicht sank. Stattdessen erkrankten Männer, die täglich 400 I.E. Vitamin E einnahmen, sogar häufiger an Prostatakrebs – allerdings nur, wenn ihre Selenspiegel niedrig lagen. Erhielten diese Männer außerdem noch 200 µg Selen, traten keine zusätzlichen Tumoren auf. Bei einem hohen Selenspiegel stieg das Krebsrisiko dagegen durch die Supplementierung von Selen und/oder Vitamin E. Das Fazit der Studienleiter: Die hochdosierte Zufuhr dieser Antioxidanzien bringt keinen Vorteil – nur Risiken.

Widersprüchliche Studienergebnisse

Auch bei Lungenkrebs konnten Studien nicht bestätigen, dass hohe Serumwerte oder eine Substituierung von Selen das Erkrankungsrisiko senkt. In einer dänischen Studie starben starke Raucher mit einem hohen Selenspiegel sogar mehr als doppelt so häufig an Lungenkrebs.

Hinweise aus tierexperimentellen Untersuchungen, nach denen Selen den Blutzuckerspiegel verbessern soll, konnten ebenfalls keiner medizinischen Studie standhalten. In einer großen placebokontrollierten Studie stieg das Risiko für Typ-2-Diabetes durch die regelmäßige Seleneinnahme sogar – besonders, wenn die Selenspiegel zu Beginn bereits hoch waren. Eine 2013 veröffentlichte Metaanalyse ergab keinen signifikanten Einfluss von Selen auf Blutfettwerte und kardiovaskuläre Erkrankungen. Haarausfall und Haut­erkrankungen nahmen durch die Selengabe dagegen zu.

Als relativ gut belegt gilt der positive Einfluss des Spurenelements bei der Hashimoto-Thyreoiditis, einer Auto­immunerkrankung der Schilddrüse. Die Selenzufuhr konnte in drei randomisierten Studien die Konzentration der krankheitstypischen spezifischen Antikörper im Serum der Patienten senken. Jedoch sehen Experten die klinische Bedeutung dieser Beobachtung noch nicht als erwiesen an.

Die Fruchtbarkeit scheint Selen ebenfalls zu beeinflussen. In kleineren Fallstudien war der Selenspiegel bei Frauen, die Fehlgeburten erlitten hatten, sehr niedrig. Auch bei Männern kann Selenmangel eine Ursache für schlechte Spermaqualität sein. Ob aber die Selensubstitution den Kinderwunsch erfüllen kann, ist noch nicht ausreichend belegt. Ähnliches gilt für alle anderen gesundheitsfördernden Effekte, die dem Selen zugeschrieben wurden – sei es die Stärkung des Immunsystems oder eine antidepressive Wirkung.

Einig sind sich die meisten Wissenschaftler, dass die Einnahme von Selenpräparaten zwar bei einem nachgewiesenen Mangel sinnvoll ist, ansonsten aber eher schaden kann. Insbesondere in Kombination mit anderen Antioxi­danzien sind unter Umständen auch unerwartete Wechselwirkungen möglich. Professor Helmut Schatz, Mediensprecher der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie, fasst die geltenden Empfehlungen zusammen: »Eine ausgewogene Ernährung versorgt den Körper ausreichend mit Selen. Wer das Gefühl hat, unterversorgt zu sein, sollte, bevor er zu Supplementen greift, mit seinem Arzt besprechen, ob er diese wirklich benötigt oder nicht.« /

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