Pendeln zwischen den Extremen |
| 24.08.2012 17:10 Uhr |
Von Hildegard Tischer / Im Gefühlsleben von Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung gibt es kein Mittelmaß. Sie sind hin- und hergerissen zwischen Liebe und Hass, zwischen Angst und Euphorie, zwischen Nähe und Distanz. Ihre Unberechenbarkeit macht es schwer, ihnen zu helfen, aber es kann gelingen.
Der Begriff »Borderline«, auf Deutsch »Grenzlinie« wurde zuerst im Jahr 1938 von dem amerikanischen Psychoanalytiker Adolph Stern benutzt, weil sich diese Persönlichkeitsstörung weder den Neurosen noch den Psychosen zuordnen lässt. Sie bewegt sich dazwischen, kann aber auch Anteile von beiden aufweisen. Stern prägte den Begriff zwar aus seiner Warte als Psychoanalytiker, doch drückt der Name die Störung auch gut aus Sicht der Betroffenen aus: Sie empfinden ihre Gefühle und Stimmungen dermaßen intensiv, dass sie die Grenze des Erträglichen und damit »Normalen« immer wieder – unfreiwillig – überschreiten.
Borderliner, wie sie sich selbst nennen, durchleben extreme Höhen und Tiefen innerhalb kurzer Zeit. Dabei können sie die verschiedenen Emotionen, die auf sie einstürmen, nicht voneinander unterscheiden, sondern nehmen sie als diffuse, schmerzhafte innere Spannung wahr. Schon geringe Reize genügen, um sie aus der Fassung zu bringen, und sie brauchen dann lange, bis sie wieder eine gewisse Ausgeglichenheit finden.
Verlass mich nicht!
Kennzeichnend für diese Persönlichkeitsstörung ist eine große Angst, verlassen zu werden. Schon Unpünktlichkeit oder die Absage einer Verabredung deuten die Betroffenen als Zeichen dafür, dass der andere sie im Stich lässt. Deswegen suchen sie eine sehr innige Nähe zu ihren Partnern und Freunden und versuchen, diese an sich binden. Andererseits stoßen sie ihre Vertrauten aber wegen einer Kleinigkeit abrupt vor den Kopf, weil sie die Nähe nicht mehr ertragen. Der Partner oder die Partnerin wird idealisiert, dann wieder herabgewürdigt und beleidigt. Im Online-Forum »www.borderline-plattform.de« bezeichnen Borderliner ihr Leben als »Alptraum, aus dem es kein Erwachen gibt«, als »Himmel und Hölle zusammen«, »Leben ohne feste Wurzeln« oder »eine Reise in einem Zug, dessen Notbremse defekt ist«.
Ebenfalls typisch ist ein sehr impulsives Verhalten, bei dem der Borderliner nicht an die Folgen für sich oder andere denkt. Außerdem ist es häufig mit dem unbewussten Wunsch verbunden, sich selbst zu schädigen. So kann es passieren, dass er betrunken Auto fährt, wegen einer Kleinigkeit eine Schlägerei anzettelt oder durch unpassendes Auftreten seinen Arbeitsplatz riskiert. Auch Glücksspiele mit hohem Einsatz, übermäßiger Drogen- oder Tablettenkonsum, sexuelle Abenteuer und Essstörungen gehören dazu. Vor allem bei Frauen äußert sich die Neigung zur Selbstschädigung auch darin, dass sie sich »ritzen«, ihre Fingernägel bis aufs Blut abkauen, den Kopf gegen die Wand schlagen oder sich Verbrennungen und Verätzungen zufügen. Dies hilft ihnen, die innere Spannung für kurze Zeit abzubauen. Etwa ein Fünftel der Betroffenen verletzt sich absichtlich trotz der Schmerzen oder gerade, weil sie Schmerzen empfinden wollen, um sich wenigstens kurzfristig überhaupt zu spüren. Bei den meisten ist das Schmerzempfinden aber in diesen extremen Momenten stark herabgesetzt, sodass die Selbstverletzung lebensbedrohlich werden kann.
Therapeuten diagnostizieren eine Borderline-Persönlichkeitsstörung nach den neun folgenden Kriterien, von denen mindestens fünf zutreffen müssen:
Auch Suizidgedanken und -versuche sind unter Borderlinern häufig, und entsprechend hoch ist die Zahl der Selbstmorde. Laut Professor Dr. Martin Bohus und Professor Dr. Christian Schmahl, beide Psychiater am Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim, versuchen 80 Prozent aller Borderliner mindestens einmal, sich das Leben zu nehmen, und 8 Prozent »gelingt« der Suizid tatsächlich.
Wie entsteht eine BPS?
Am Entstehen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) sind mehrere Faktoren beteiligt. Psychiater gehen heute davon aus, dass zum einen eine genetische Disposition vorliegt. Sie schließen es daraus, dass rund die Hälfte der Borderliner in ihrer Kindheit unter ADHS, dem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom litt. Von diesem ist bekannt, dass die genetische Komponente eine große Rolle spielt. Des Weiteren können Traumata im Kindesalter wie Vernachlässigung, Misshandlung oder sexueller Missbrauch dieser Persönlichkeitsstörung zugrunde liegen. Auch ein gewaltgeladenes Umfeld, beispielsweise ein aggressiver Vater, der die Mutter schlägt, eine Hassliebe der Eltern kann zu der Störung führen. Bohus und Schmahl geben an, dass circa 65 Prozent der Borderliner sexuelle Gewalt erfahren haben, 60 Prozent als Kind misshandelt und 40 Prozent schwer vernachlässigt wurden. Doch Vorsicht vor zu raschen Urteilen: Ein Kindheitstrauma muss nicht zwingend zu einer Borderline-Persönlichkeitsstörung führen, und nicht alle Borderliner haben ein solches erlitten. Die Persönlichkeitsstörung kann auch bei Menschen auftreten, die in einer intakten, liebevollen Familie aufgewachsen sind.
Neurologen haben unter anderem nach veränderten Strukturen im Gehirn geforscht. Sie konnten bei Borderlinern eine Veränderung im limbischen System nachweisen, welches für die Verarbeitung von Emotionen zuständig ist. In der Magnetresonanztomografie (MRT) wird sichtbar, dass dieser Gehirnbereich bei Borderlinern sehr viel schneller auf Reize reagiert als bei Gesunden. Störende Reize können zudem nicht unterdrückt werden, der Betreffende wird mit Reizen überflutet. Die Aktivität des serotonergen Systems, das Gefühle wie Aggression und Wut reguliert, ist hingegen herabgesetzt. Diese Veränderungen im Gehirn sind aber Folge der Störung, nicht deren Ursache. Sie finden sich teilweise auch bei Menschen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Wer ist gefährdet?
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung tritt meist in der Pubertät auf, in Einzelfällen jedoch schon bei Schulkindern. Über 45-Jährige entwickeln selten ein Borderline-Syndrom, und auch eine bestehende Störung mildert sich gewöhnlich mit fortschreitendem Alter, nicht zuletzt, weil die Betreffenden mit der Zeit eine bessere Kontrolle über ihre Impulse erlangen.
Die Häufigkeit des Borderline-Syndroms in der Gesamtbevölkerung liegt bei ungefähr 2 Prozent. Es scheint, als würden Mädchen und Frauen die Störung häufiger entwickeln als Jungen und Männer. Das Geschlechterverhältnis wird zum Teil mit fünf Frauen zu drei Männern angegeben, in anderen Quellen mit drei zu eins. In ihrer Leitlinie DSM IV zum Borderline-Syndrom geht die amerikanische psychiatrische Vereinigung (American Psychiatric Association) jedoch davon aus, dass das Geschlechterverhältnis ausgewogen ist. Dabei wird berücksichtigt, dass Frauen schneller zum Arzt gehen, während Männer ihr Problem herunterspielen. Die Statistik bestätigt das: Von den Borderlinern, die psychologische oder psychiatrische Behandlung suchen, sind 70 Prozent Frauen. Zudem schädigen sich Frauen eher selbst. Das bleibt nicht unbemerkt – etwa die sichtbaren Schnittwunden, blutig gekratzten Hautstellen oder wenn die Frau stark abmagert. Frauen werden daher auch häufig von ihren Partnern oder Eltern gedrängt, Hilfe zu suchen. Männer hingegen reagieren sich bei einem riskanten Sport ab, durchbrechen Regeln und neigen dazu, ihre Aggressionen gegen andere zu richten, was bis hin zu kriminellen Handlungen reicht. Vereinfacht ausgedrückt: Frauen landen im Krankenhaus, Männer im Gefängnis. Bogus schätzt den Anteil der Borderliner unter männlichen Häftlingen auf 30 Prozent.
Welche Therapie hilft?
Für die Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung hat sich die von Marsha M. Linehan entwickelte dialektisch-behaviorale Therapie bewährt. Linehan ist Professorin für Psychologie an der University of Washington in Seattle im US-Bundesstaat Washington und leitet unter anderem ein Therapiezentrum für Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Die dialektisch-behaviorale Therapie ist eine Form der Psychotherapie, die verschiedene Methoden kombiniert, wie Verhaltens-, Gesprächs-, Gestalt- und Hypnotherapie sowie die Zen-Meditation. »Dialektisch« heißt sie deshalb, weil sie den Borderliner dazu hinführen will, Gegensätze anzunehmen. Er soll lernen, nicht nur schwarz oder weiß zu sehen, Liebe oder Hass, Vertrauen oder Misstrauen zu empfinden, sondern beide als zwei Seiten einer Medaille zu akzeptieren, ohne sie zu bewerten. So gilt es beispielsweise zu erkennen, dass jeder Mensch manchmal hilflos ist und manchmal stark, manchmal gibt und manchmal nimmt, dass sowohl als auch möglich und normal sind.
Die dialektisch-behaviorale Therapie setzt zum einen stark auf das Verhältnis zwischen dem Therapeuten und seinem Klienten und zum anderen auf pädagogische Elemente mit dem Ziel, das Verhalten zu verändern, daher der Wortbestandteil »behavioral«. Der Klient erlernt sogenannte Skills, mithilfe derer er sich selbst stabilisieren kann. Dazu gehört die Zusammenstellung eines Notfallkoffers, der je nach Persönlichkeit ein Gummiband, scharfe Bonbons, Chilischoten oder ein Fläschchen Ammoniak enthält. Diese Gegenstände, die starke sensorische Reize auslösen, sollen helfen, von der inneren Spannung abzulenken und selbstschädigende Handlungen zu reduzieren. Bei Stress können die Betroffenen zum Beispiel das Gummiband auf das Handgelenk schnalzen lassen, statt sich zu ritzen, eine Chilischote kauen oder am Ammoniak riechen. Sie können auch Dinge im Notfallkoffer mit sich führen, die ihnen besonders gut tun, wie Familienfotos oder eine CD.
Die Schwerpunkte der Therapie liegen auf den vier Bereichen »Stresstoleranz«, »Emotionsmodulation«, »Achtsamkeit« und »zwischenmenschliche Kompetenz«. Die Therapie umfasst ein bis zwei Einzelsitzungen sowie ein Gruppentraining pro Woche. Außerdem kann der Klient den Therapeuten im Notfall telefonisch erreichen. Je nach Klient erstreckt sie sich über ein bis zwei Jahre und erfolgt stationär oder ambulant.
Daneben kommen die Schematherapie und die mentalisierungsbasierte Therapie zum Einsatz. Die Schematherapie beruht auf der Erkenntnis, dass jeder Mensch in der frühen Kindheit Schemata anlegt, die später sein Verhalten, Erleben und die Handlungsweisen bestimmen. Der Therapeut versucht, diese Schemata zu identifizieren und aufzubrechen. Auch hier kommt dem persönlichen Verhältnis zwischen Therapeut und Klient eine zentrale Bedeutung zu. In Rollenspielen übernimmt der Therapeut die Rolle eines Elternteils und führt seinen Klienten allmählich in ein gesundes Erwachsenenleben. Auch Imaginationstechniken, Gespräche, Briefe und E-Mails gehören zur Therapie.
Die mentalisierungsbasierte Therapie zielt darauf ab, dem Borderliner sein Innenleben bewusster zu machen. Er soll erkennen, warum er in einer bestimmten Situation auf eine bestimmte Weise handelt, was er dabei fühlt, was er wünscht und wie er die Situation einschätzt. So soll er auch befähigt werden, seine Handlungen und Gefühle zu benennen und sie anderen zu erklären. Zugleich lernt er, sich besser in andere Menschen hineinzuversetzen – und zu akzeptieren, dass er sich in seiner Einschätzung irren kann. Die Methoden der mentalisierungsbasierten Therapie beruhen ebenfalls auf der entwicklungspsychologischen Erkenntnis, dass ein Kind stabile, fürsorgliche Bezugspersonen braucht, damit es eine Vorstellung entwickeln kann, was »im Kopf der anderen vor sich geht«. Zudem dient ihm die Bezugsperson als Spiegel für seine eigenen Handlungen. Das Kind lernt, mit welcher Handlung es welche Reaktion hervorruft. Mit intensivem Schreien kann es beispielsweise seine Mutter herbeirufen, die sich dann um es kümmert. Ist die Reaktion der Mutter aber unberechenbar oder bleibt sie aus, kann das Kind keine gesunde soziale Interaktion entwickeln.
Die Therapie besteht aus Einzel- und Gruppensitzungen und dauert mindestens anderthalb Jahre. Da Borderliner dazu neigen, beim geringsten Konflikt die Therapie abzubrechen oder den Therapeuten zu wechseln, muss in jedem Fall ein »Therapievertrag« abgeschlossen werden, in dem die Regeln für beide Seiten klar festgelegt sind.
Die Symptome lindern
Medikamente können die Psychotherapie unterstützen beziehungsweise den Patienten soweit stabilisieren, dass er überhaupt eine Psychotherapie beginnen kann. Arzneimittel, die speziell gegen die Borderline-Persönlichkeitsstörung zugelassen sind, gibt es jedoch nicht. Der Arzt muss im Einzelfall abwägen, welche Symptome er vordringlich behandeln möchte. Zum Einsatz kommen Antidepressiva, vor allem selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) sowie atypische Neuroleptika, von denen Olanzapin in Studien eine gute Wirkung gezeigt hat. Benzodiazepine sind für Borderliner, die ohnehin zu Sucht neigen, ungeeignet. Ohnehin besteht bei Menschen mit dieser Störung aufgrund ihrer Tendenz zur Selbstschädigung und ihres impulsiven Verhaltens immer die Gefahr, dass sie sich nicht an die Einnahmeempfehlung halten, die Dosis erhöhen, sich von verschiedenen Ärzten Medikamente verordnen lassen, mehrere Arzneimittel gleichzeitig nehmen oder diese einfach absetzen. Sie müssen daher intensiv betreut werden.
Die Spannung überträgt sich
Den Angehörigen ist es oft nicht möglich, Borderliner zu unterstützen, weil sie emotional zu stark berührt sind. In manchen Fällen kommt es sogar zu einer Co-Abhängigkeit, wenn die Familienmitglieder ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellen und nur noch bemüht sind, den Borderliner zu schützen. Dann leben sie in einer ähnlichen Anspannung wie der Borderliner selbst, weil sie immer einen unerwarteten Gefühlsausbruch oder einen Stimmungsumschwung befürchten, dessen Gründe sie nicht nachvollziehen und nicht verhindern können. Dazu entwickeln sie Schuldgefühle, wenn der Borderliner sich selbst verletzt. Denn sie glauben, sie hätten sich nicht genug um ihn gekümmert oder die Selbstverletzung durch ihr eigenes Verhalten provoziert. Eltern fragen sich, was sie in der Erziehung falsch gemacht haben, Partner fragen sich, ob sie zu egoistisch sind, ob sie irgendwelche Signale übersehen haben.
Der Sturm, in dem der Betroffene lebt, reißt seine Angehörigen mit. Die Hilflosigkeit, die diese empfinden, schlägt manchmal in Zorn um, weil sie sich manipuliert fühlen. Dabei hat der Borderliner nicht die Absicht, sie zu manipulieren oder zu verletzen, er kann schlicht nicht anders. In ruhigen Stunden ist es jedoch möglich, mit ihm über sein Verhalten zu sprechen und zu ergründen, warum er so heftig reagiert hat und worauf. Dann können alle gemeinsam Verhaltensregeln für die nächste Krise festlegen.
Zu empfehlen ist auf alle Fälle die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe, entweder real am Wohnort oder virtuell im Internet. Auch wenn die Persönlichkeitsstörung sich bei jedem anders äußert, so findet der Borderliner dort doch Verständnis für seine Situation und Unterstützung in Krisen. /
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