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Virale Zoonosen

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24.08.2012  16:57 Uhr

Von Michael van den Heuvel / Bei viralen Zoonosen denken sicher die meisten Deutschen, nur Asien oder Zentralafrika seien betroffen. Doch auch in Europa und Nordamerika machen inzwischen Viren, die von Insekten oder Wirbeltieren übertragen werden, zunehmend Probleme.

Viren sind keine eigenständigen Lebewesen, sondern auf den Stoffwechsel einer Wirtszelle angewiesen. Sie bestehen entweder aus Ribonukleinsäuren (RNA) oder Desoxyribonukleinsäuren (DNA). Als Wirte kommen Menschen, Tiere, Pflanzen, Pilze oder Bakterien infrage. Bei einer Infektion haften sich die Viren an eine Wirtszelle und gelangen in deren Zellinnenraum. Dort stellen sie den Stoffwechsel komplett um, sodass die infizierte Zelle virales Erbgut und virale Proteine produziert. Neu gebildete Viruspartikel verlassen nach dem Zusammenbau die Zelle, und der Infektionskreislauf beginnt von vorne.

Seit den Jahren 2011 und 2012 beobachten Virologen, dass Viren aus anderen Weltregionen nach Europa und Nordamerika gelangt waren und zusätzlich neue Arten entstanden. Von Oktober 2011 bis April 2012 erkrankten in Deutschland 852 Menschen an Infektionen mit Hantaviren. Viele der Betroffenen leben auf der schwäbischen Alb, einer Mittelgebirgsregion in Baden-Württemberg und Bayern. In dieser Gegend kommt die Rötel- oder Waldwühlmaus häufig vor. Durch günstige Witterungsverhältnisse und reichlich Bucheckern im letzten Herbst konnten sich die Mäuse stark vermehren. Die Nager übertragen Hantaviren durch ihren Kot. Vom Wind aufgewirbelte Partikel reichen bereits aus, um Menschen über die Atemwege zu infizieren. Nach einer Inkubationszeit von bis zu vier Wochen tritt plötzlich hohes Fieber auf, Magen-Darm-Beschwerden und Funktionsstörungen der Nieren kommen hinzu.

Da es weder einen Impfstoff noch ein zugelassenes Arzneimittel gibt, können Mediziner die Infektion nur symptomatisch behandeln. Umso wichtiger ist die Expositionsprophy­laxe: Die Bewohner der betroffenen Regionen sollten alle Ritzen und Fugen ihrer Wohnungen und Häuser dicht verschließen und Mausefallen aufstellen. Wer Keller oder Schuppen reinigen möchte, vermindert sein Infektionsrisiko durch Gummihandschuhe sowie durch einen Mund-Nasen-Schutz. Sonst besteht die Gefahr, den Staub von infektiösem Kot einzuatmen. An trockenen Tagen raten Wissenschaftler von Spaziergängen, Sport oder Waldarbeiten in den betroffenen Gebieten ab.

Schlagzeilen aus Schmallenberg

Schmallenberg, eine Stadt im Hochsauerlandkreis, erlangte Ende 2011 wider Willen in den Medien einen gewissen Bekanntheitsgrad, da dort bei Föten von Rindern, Schafen und Ziegen starke Missbildungen auftraten. Erwachsene Tiere waren nicht betroffen, denn sie wurden nach einer überstandenen Infektion immun. Forscher am Friedrich-Loeffler-Institut, dem Bundesforschungsinstitut für Tiergesundheit, entdeckten schon bald ein neues Pathogen, das sie Schmallenberg-Virus nannten. Belgische Wissenschaftler identifizierten verschiedenen Bartmücken als Überträger (Vektoren). Anfangs war unklar, inwieweit Menschen sich mit dem Virus infizieren können. Deshalb untersuchten Forscher des Robert-Koch-Instituts (RKI) Blutproben von 60 Schäfern und Viehzüchtern. »Die Ergebnisse der RKI-Studie zeigen, dass das neue Virus bei Menschen mit viel Erregerkontakt nicht zu einer Infektion geführt hat«, sagt RKI-Präsident Professor Dr. Reinhard Burger. Die Experten stuften die Gefahr für Verbraucher und für beruflich exponierte Personen daraufhin als »äußerst gering« ein. Obwohl die Infektionswelle bei Tieren im Juni 2012 abebbte, beobachten Virologen das Schmallenberg-Virus weiterhin.

Vom Nil in alle Welt

Das Risiko, sich mit einem tropischen Virus zu infizieren, besteht nicht nur auf Fernreisen. Beim Badeaufenthalt in Griechenland oder in der Türkei können sich Urlauber mit West-Nil-Viren infizieren. Ursprünglich stammt der Erreger aus dem gleichnamigen Distrikt in Uganda. Bereits im Jahr 1999 traten erste Erkrankungsfälle in New York auf. Aufgrund genetischer Übereinstimmungen vermuten Virologen, das Virus sei über Mücken aus Tel Aviv eingeschleppt worden. Über Culex-Mücken oder über asiatische Tigermücken, die Menschen und Tiere gleichermaßen stechen, verbreiteten sich die Viren quer durch die USA. Vögel dienen den Viren als sogenannte Reservoirwirte und verbreiten die Erreger über größere Entfernungen. Beim Blutsaugen übertragen sie das Virus dann auf pathogenfreie Mücken.

Instabiles Erbgut als Erfolgsmodell

Hanta-, Schmallenberg-, West-Nil- und Usutu-Viren sind RNA-Viren, deren genetische Information sich auf dem Ribonukleinsäuren-Einzelstrang befindet. Durch hohe Fehlerraten der RNA-Polymerasen sind die Viren relativ variabel: Beim Kopieren entstehen Mutationen, die zu Pathogenen mit neuen Eigenschaften führen. Vermehren sich in einer Zelle zwei verschiedene Viren, kann es außerdem zum Austausch von Erbgut kommen. Viele heute humanpathogene Viren infizierten zunächst nur Tiere und entwickelten sich über Änderungen im Erbgut zur Zoonose.

Menschen erkranken nur in seltenen Fällen. Drei bis 14 Tage nach der Infektion treten grippeähnliche Symptome auf. Da die Viren teilweise die Blut-Hirn-Schranke passieren, kann sich eine Entzündung des Gehirns oder der Hirnhaut entwickeln. Dann ist die Sterblichkeitsrate hoch. So sterben in den Mittelmeerländern jährlich 10 bis 15 Menschen. Die Zahlen aus den USA sind drastisch höher: Letztes Jahr erkrankten laut des Centers for Disease Control and Prevention (CDC) 690 Menschen, 43 verstarben.

Vor der Infektion können sich Reisende ausschließlich mit Repellentien und geschlossener Kleidung schützen, denn es fehlen zugelassene Arzneimittel. Forscher haben einen Antikörper mit der Kurzbezeichnung E16 entwickelt, der verhindern soll, dass West-Nil-Viren an Wirtszellen binden. Im Tierexperiment funktionierte diese Strategie erfolgreich bei Mäusen. Mittlerweile wurden große Mengen des Antikörpers für weitere Versuche in transgenen Tabakpflanzen hergestellt.

Rätselhaftes Amselsterben

Vor einigen Jahren gelangte das Usutu-Virus aus dem Süden Afrikas nach Europa. Auch hier sind Stechmücken die Überträger (Vektoren). Als Mitte 2011 in Deutschland mehrere tausend Amseln starben, untersuchten Wissenschaftler am Hamburger Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin die toten Tiere und wiesen Usutu-Viren nach. Lange Zeit galten diese Viren für Menschen als harmlos. Als jedoch in Italien mehrere Menschen schwer erkrankten, mussten die Experten ihre Einschätzung revidieren.

Nach anfänglichen, grippeähnlichen Symptomen befielen die Viren das zentrale Nervensystem, allerdings nur bei immunsupprimierten Menschen. Derzeit gilt das Infektionsrisiko für Gesunde nach wie vor als eher gering. Auch auf diesem Gebiet arbeiten Wissenschaftler an neuen Therapien, zugelassene Arzneistoffe oder Impfungen gibt es nicht. Hemmstoffe der Fettsäure-Synthetase, eines Enzyms, das bei der Virenvermehrung eine Rolle spielt, könnten Kandidaten für ein neues Virustatikum sein.

Potenzielle Vektoren überwachen

West-Nil-, Hanta- und Usutu-Viren haben eins gemeinsam: Durch zunehmende internationale Passagier- und Warenströme werden in den nächsten Jahren immer mehr Vektoren und Viren aus tropischen Ländern nach Europa gelangen. Zugvögel können ebenfalls Viren aus fernen Ländern mitbringen. Leben in Europa die passenden Überträger, ist es nur eine Frage der Zeit, wann Menschen infiziert werden.

In diesem Zusammenhang spielt die asiatische Tigermücke eine besondere Rolle: Ursprünglich in Südostasien beheimatet, fanden Insektenkundler diese Mückenart inzwischen in süd- und mitteleuropäischen Ländern. Britische Forscher haben kürzlich eine Modellrechnung veröffentlicht. Sie schätzen, dass diese Blutsauger durch den Klimawandel bis spätestens 2050 in vielen Gebieten Europas geeignete Umweltbedingungen vorfinden werden.

Um potenzielle Risiken frühzeitig einschätzen zu können, müssen die Überträger regelmäßig überwacht werden. In Deutschland arbeiten Experten des Senckenberg Deutschen Entomologischen Instituts (SDEI) und des Bernhard-Nocht-Instituts für Tropenmedizin (BNI) gemeinsam daran. Während Forscher am SDEI ihren Schwerpunkt auf das Thema Artenkunde legen und eine Mückenkarte aufstellen, werden die Insekten am BNI molekularbiologisch untersucht. Die Virologen wollen vor allem herausfinden, welche Mückenart welche Spezies transportieren könnte. Wildtiere sollen im Zuge eines länderübergreifenden Programms vom European Centre for ­Disease Control and Prevention (ECDC) ebenfalls engmaschiger überwacht werden. /

Off-Label-Use

Bei viralen Infekten ohne etablierte Therapie greifen Ärzte oft zu Arzneistoffen, die für andere Krankheitsbilder zugelassen wurden. Diese indikationsüberschreitende Anwendung (Off-Label-Use) ist nicht frei von Risiken, da es meist keine aussagekräftigen Studien gibt. Für schwer erkrankte Patienten kann eine solche Behandlung aber lebensrettend sein. Bei schweren Infektionen mit West-Nil-Viren haben Ärzte Ribavirin zusammen mit Interferon-alpha verabreicht. Diese Kombination ist nur für chronische Hepatitis C zugelassen, scheint aber die Vermehrung anderer Viren zu stoppen.

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