Neue Arzneistoffe im Oktober 2011 |
21.10.2011 12:29 Uhr |
Von Sven Siebenand / Aus vier mach drei: Zwar wurden im Oktober bei den Neueinführungen vier Substanzen gemeldet, eine davon – das Antidiabetikum Linagliptin – wird Patienten in Deutschland aber vorerst nicht zur Verfügung stehen. Erhältlich sind ein neues Sedativum, ein Mittel gegen Prostatakrebs und ein weiteres Hepatitis-C-Medikament.
Wie schell Prostatakrebs wächst und streut, hängt vom Patienten und von tumorspezifischen Faktoren ab. Hat sich der Krebs bereits über die Drüse hinaus ausgebreitet, sprechen Mediziner von einem metastasierten kastrationsresistenten Prostatakrebs, kurz mCRPC.
Neuer Androgeninhibitor
Anfang Oktober hat die Firma Janssen-Cilag den Wirkstoff Abirateronacetat (Zytiga® 250 mg Tabletten) in Deutschland eingeführt. Abirateronacetat ist zugelassen in Kombination mit Prednison oder Prednisolon zur Behandlung von mCRPC-Patienten, deren Erkrankung fortgeschritten ist oder die eine Chemotherapie auf Docetaxel-Basis erhalten haben.
Aus Abirateronacetat entsteht im Körper Abirateron, ein Inhibitor der Androgenbiosynthese. Androgene sind nicht nur dafür zuständig, dass sich die primären männlichen Geschlechtsmerkmale entwickeln und danach nicht wieder zurückbilden, bei Prostatakrebs können sie auch das Tumorwachstum anregen. Gebildet werden Androgene wie Testosteron vor allem in den Hoden und den Nebennieren, bei Prostatakarzinompatienten aber auch im Tumorgewebe. Abirateron verhindert die Androgenproduktion an allen drei Orten, indem es das Enzym CYP17 blockiert. Somit unterscheidet sich sein Wirkmechanismus grundlegend von der sogenannten Androgenentzugstherapie mit LHRH-Agonisten wie Leuprorelin, Goserelin, Triptorelin und Buserelin sowie der operativen Entfernung eines Hodens oder beider Hoden (Orchiektomie). Die LHRH-Agonisten senken nur die Androgenproduktion in den Hoden, jedoch nicht in den Nebennieren oder im Tumor. Da die Krebszellen ohne Testosteron nicht wachsen und überleben, kann Abirateron also das Wachstum von Prostatakrebs verlangsamen.
Patienten sollen den neuen Wirkstoff einmal täglich auf nüchternen Magen mindestens zwei Stunden nach einer Mahlzeit einnehmen und anschließend mindestens eine Stunde nichts essen. Nahrungsmittel beeinflussen die Aufnahme des Wirkstoffes erheblich. Der Hersteller empfiehlt in der Fachinformation, vier Tabletten am Tag zu nehmen. PTA und Apotheker können den Tipp geben, die Tabletten unzerteilt mit Wasser zu schlucken.
Als sehr häufige Nebenwirkungen von Abirateronacetat traten Ödeme, Kaliummangel, Bluthochdruck und Infektionen der Harnwege auf. Während der Therapie muss der Arzt die Leberwerte des Patienten kontrollieren und die Behandlung unterbrechen, wenn sich bestimmte Werte verändern. Sobald sich die Funktion des Organs normalisiert, kann die Behandlung in einer niedrigeren Dosis fortgesetzt werden. Bestehen die Leberprobleme fort, muss Abirateronacetat ganz abgesetzt werden.
Vorsicht ist geboten bei der Kombination mit Arzneimitteln, die durch das Enzym CYP2D6 aktiviert oder metabolisiert werden, insbesondere bei solchen mit geringer therapeutischer Breite. Zu diesen Arzneimitteln zählen Metoprolol, Propranolol, Desipramin, Venlafaxin, Haloperidol, Risperidon, Propafenon, Flecainid, Codein, Oxycodon und Tramadol. Bei den drei letztgenannten Wirkstoffe entsteht der aktive Metabolit erst durch CYP2D6. Starke CYP3A4-Inhibitoren wie Ketoconazol, Itraconazol, Clarithromycin, Saquinavir, Ritonavir, oder Induktoren dieses Enzyms wie Phenytoin, Carbamazepin, Rifampicin, Phenobarbital sollten nach Möglichkeit nicht mit Abirateronacetat oder nur mit Vorsicht kombiniert werden.
Weiteres Hepatitis-C-Präparat
Auf das erste Hepatits-C-Medikament Boceprevir (Vitrelis®, MSD) im September dieses Jahres folgt im Oktober bereits das zweite: Telaprevir (Incivo® 375 Filmtabletten, Janssen-Cilag). Wie Boceprevir ist auch Telaprevir in Kombination mit Peginterferon alfa und Ribavirin zur Behandlung der chronischen Hepatitis C (HCV) vom Genotyp 1 bei Patienten mit kompensierter Lebererkrankung zugelassen. Dieser Genotyp tritt in Europa am häufigsten auf und ist am schwierigsten zu behandeln. Mit dieser Dreifachtherapie erhalten sowohl noch nicht als auch erfolglos behandelte Patienten eine neue und größere Chance auf Heilung als mit der bisherigen Standardtherapie.
Wie Boceprevir hemmt Telaprevir in den Hepatitis-C-Viren das Enzym NS3-4A-Protease, das die Viren für ihren Lebenszyklus benötigen. Dadurch können sich die Viren in den Körperzellen nicht mehr vermehren.
Gemeinsam mit Ribavirin und Peginterferon alfa nehmen die Patienten zwölf Wochen lang alle acht Stunden jeweils zwei Telaprevir-Tabletten ein. Danach wird die Therapie nur noch mit Ribavirin und Pegintereron alfa fortgesetzt. Die Einnahme der Telaprevir-Tabletten muss mit dem Essen erfolgen, denn sonst können die Aufnahme und damit die Wirkung des Arzneistoffs beeinträchtigt sein. Was tun, wenn eine Dosis versäumt wurde? Falls der Patient dies innerhalb von vier Stunden nach der normalen Einnahmezeit bemerkt, sollte er die vergessene Dosis so rasch wie möglich einnehmen. Sind mehr als vier Stunden vergangen, sollte er die versäumte Tablette weglassen und mit dem normalen Einnahmerhythmus fortfahren.
Vorsicht Hautausschlag
Die häufigsten Nebenwirkungen von Telaprevir waren in Studien Übelkeit, Durchfall, Erbrechen, Anämie, Hämorrhoiden, Schmerzen im After, Juckreiz und Hautausschlag. Patienten sollten wissen, dass sie sofort einen Arzt aufsuchen müssen, wenn ein Hautausschlag erstmals auftritt oder sich ein bestehender Ausschlag verschlimmert. Noch eine wichtige Information: Es kann mehrere Wochen dauern, bis sich die Haut wieder normalisiert hat.
Telaprevir darf nicht mit Wirkstoffen kombiniert werden, deren Ausscheidung erheblich von CYP3A abhängt und die eine geringe therapeutische Breite haben. Dadurch bedingte erhöhte Blutkonzentrationen können möglicherweise lebensbedrohlich sein. Zu diesen Wirkstoffen gehören unter anderem: Amiodaron, Chinidin, Terfenadin, Cisaprid, Ergotaminderivate, Lovastatin, Simvastatin, Sildenafil oder Tadalafil (nur bei Anwendung zur Behandlung der pulmonal-arteriellen Hypertonie) sowie oral verabreichtes Midazolam und Triazolam.
Auch die Kombination mit Antiarrhythmika der Klasse Ia oder III ist untersagt. Einzige Ausnahme: Lidocain darf intravenös verabreicht werden. CYP3A-Induktoren wie Rifampicin, Johanniskraut, Carbamazepin, Phenytoin sowie Phenobarbital können zum Wirkungsverlust von Telaprevir führen und dürfen daher nicht gleichzeitig verordnet beziehungsweise eingenommen werden. Ferner sollen Schwangere kein Telaprevir erhalten.
Neues Sedativum
Seit Mitte Oktober ist ein neuer Arzneistoff zur Sedierung erwachsener Patienten auf Intensivstationen verfügbar: Dexmedetomidin (Dexdor® 100 Mikrogramm/ml Konzentrat zur Herstellung einer Infusionslösung, Orion Pharma). Die Infusionsgeschwindigkeit muss der Arzt von Fall zu Fall genau einstellen. Die Maximaldosis liegt bei 1,4 Mikrogramm/Kilogramm Körpergewicht/Stunde, die Initialdosis darunter. Da Dexmedetomidin normalerweise keine tiefe Sedierung bewirkt, sind die Patienten leicht zu wecken. Bei allen Patienten, die den neuen Wirkstoff erhalten, sollte der Arzt während der Infusion die Herzfunktion überwachen lassen und bei nicht intubierten Patienten außerdem die Atmung kontrollieren.
Dexmedetomidin ist ein selektiver Alpha-2-Rezeptoragonist. Als Sympatholytikum reduziert er die Freisetzung von Noradrenalin in den sympathischen Nervenendigungen. Die sedierende Wirkung erfolgt durch eine verminderte noradrenerge Aktivität im Hirnstamm. Bei niedrigen Infusionsraten dominieren die zentralen Wirkungen, wodurch Herzfrequenz und Blutdruck sinken. Bei höheren Dosen überwiegen die peripheren vasokonstriktiven Wirkungen, was zur Erhöhung des Blutdruckes führt.
Die häufigsten unerwünschten Wirkungen waren in Studien Hypotonie oder Hypertonie und eine verringerte Herzfrequenz. Tabu ist die Substanz bei Patienten mit unkontrollierter Hypotonie, akuten zerebrovaskulären Ereignissen und fortgeschrittenem Herzblock bei Patienten ohne Herzschrittmacher. Vorsicht ist geboten bei der Gabe an Patienten mit eingeschränkter Leberfunktion. Die Kombination von Dexmedetomidin mit Anästhetika, anderen Sedativa, Hypnotika und Opioiden verstärkt wahrscheinlich die Wirkung des neuen Arzneistoffs.
Zugelassen, aber nicht verfügbar
Obwohl das neue Antidiabetikum Linagliptin (Trajenta® 5 mg Filmtabletten, Boehringer Ingelheim/Lilly) vor kurzem die europäische Zulassung erhielt, wird das Präparat Patienten in Deutschland vorerst nicht zur Verfügung stehen. Diese Entscheidung steht im Zusammenhang mit der im AMNOG vorgeschriebenen Bewertung neuer Arzneimittel. »Der AMNOG-Prozess könnte dazu führen, dass der therapeutische Nutzen und die positiven Eigenschaften von Trajenta nicht ausreichend berücksichtigt werden. Dadurch droht ein Erstattungsbetrag für Trajenta, der dem Innovationscharakter des Medikaments nicht angemessen ist«, schreiben die Hersteller in einer Pressemitteilung.
In anderen europäischen Ländern soll das Präparat Typ-2-Diabetikern jedoch zur Verfügung gestellt werden. Möglich ist dort eine Monotherapie oder die Kombination mit anderen Antidiabetika, zum Beispiel Metformin und Sulfonylharnstoffen.
Linagliptin gehört zur Wirkstoffgruppe der Dipeptidyl-Peptidase-4-Hemmer (DPP-4-Hemmer). Weitere Substanzen dieser Arzneistoffklasse sind Vildagliptin, Sitagliptin und Saxagliptin. Diese Wirkstoffe hemmen den Abbau bestimmter körpereigener Hormone, der Inkretine, und verbessern so die Fähigkeit des Organismus, einen erhöhten Blutzuckerspiegel zu senken. Linagliptin müssen die Patienten einmal täglich einnehmen. Selbst bei Patienten mit einem hohen Risiko für eine nachlassende Nierenfunktion ist eine Dosisanpassung des Wirkstoffs nicht erforderlich.
Typ-1-Diabetiker sollen kein Linagliptin erhalten, auch Schwangere aus Vorsichtsgründen nicht. Laut Fachinformation besteht bei Linagliptin nur ein geringes Risiko für klinisch relevante Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln. Auch die Nebenwirkungen bei der Monotherapie sind überschaubar. Am häufigsten traten Unterzuckerungen auf, allerdings nur bei der Dreifachkombination aus Linagliptin, Metformin und einem Sulfonylharnstoff. /