Anhaltender Fehlalarm |
03.06.2015 12:49 Uhr |
Von Maria Pues, Bad Homburg / Wenn sich für anhaltende Schmerzen keine organische Ursache finden lässt, glauben Eltern ihren Kindern häufig nicht. Die Entstehung chronischer Schmerzen lässt sich aber nachvollziehen, und sie lassen sich behandeln.
Es gibt Phänomene, über die muss man schon etwas länger als gewohnt nachdenken, um sie sich vorstellen zu können. Dazu gehört das chronische Schmerzsyndrom bei Kindern, über das Professor Dr. Boris Zernikow vom Deutschen Kinderschmerzzentrum an der Vestischen Kinder- und Jugendklinik, Datteln, bei einem Vortrag der Medizinischen Gesellschaft Bad Homburg berichtete. Auch PTA und Apotheker kennen sicher Kinder und Jugendliche beziehungsweise deren Eltern, die wie Paula (siehe Kasten weiter unten) unter anhaltenden oder wiederkehrenden Schmerzen leiden, für die Mediziner trotz intensiver Suche keine organische Ursache finden können. Eingebildet seien die Beschwerden dennoch nicht, betonte der Mediziner. Woher kommen die Schmerzen aber? Und wie kann man sie behandeln, wenn sich keine Grunderkrankung feststellen lässt?
Eine Definition vorab: Von chronischen Schmerzen sprechen Mediziner, wenn diese über einen Zeitraum von mindestens drei Monaten wiederkehrend oder anhaltend auftreten. Sie können Anzeichen einer Grunderkrankung sein, etwa einer chronischen Gelenkentzündung (Arthrititis) oder einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung. Sie können aber auch ohne eine solche Grunderkrankung auftreten; dann spricht man von einer somatoformen beziehungsweise chronischen Schmerzstörung. Um letztere geht es hier.
Bei Kindern häufig
Chronische Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen treten häufig auf: Zernikow zitierte eine spanische Studie (siehe Grafik auf Seite 50), wonach rund 37 Prozent der Acht- bis Sechzehnjährigen unter anhaltenden oder wiederkehrenden Schmerzen leiden. Bei etwa 5 Prozent sind die Beschwerden so stark, dass sie sich in ihrem Alltag erheblich beeinträchtigt fühlen: Sie fehlen beispielsweise regelmäßig in der Schule und treffen sich nicht mehr so häufig mit Freunden. Hochgerechnet betrifft dies über 350 000 Kinder und Jugendliche in Deutschland. Am häufigsten treten Kopfschmerzen auf, gefolgt von Bauchschmerzen und Rückenschmerzen. Tendenz zunehmend.
Um die Entstehung einer chronischen Schmerzstörung zu verstehen, muss man sich zunächst vom herkömmlichen Bild von Schmerz teilweise verabschieden, denn es bezieht sich auf den Akutschmerz. Bei diesem liegt etwa eine Verletzung oder andere Gewebeschädigung dem Geschehen zugrunde. Akutschmerz besitzt für den Körper eine Alarmfunktion. Er soll den Organismus davor bewahren, dass sich die Schädigung weiter ausbreitet und mahnt sinnvollerweise zur Schonung. Ein chronischer Schmerz kann als Akutschmerz beginnen, muss es aber nicht. Die Unterscheidung ist wichtig, um zu verstehen, warum Therapiemöglichkeiten, die beim akuten Schmerz sinnvoll sind, beim chronischen Schmerzsyndrom mehr schaden als nutzen können.
Seit vier Jahren klagte Paula immer häufiger über Bauchschmerzen, in letzter Zeit nahezu ständig. Paula war von einem lebenslustigen Kind zu einem stillen, ernst und manchmal leidend wirkenden, zurückgezogenen Mädchen geworden, das immer häufiger in der Schule fehlte. In ihrer zunehmenden Hilflosigkeit stellten die Eltern Paula drei verschiedenen Krankenhäusern zur Untersuchung vor. Das Kind erhielt anschließend ambulant verschiedenste Schmerzmittel, eine homöopathische Behandlung, eine Akupunkturbehandlung, Antibiotika gegen eine diagnostizierte Magenschleimhautinfektion, verschiedene Psychotherapien und Unterweisung in Entspannungstechniken. Häufig wurde den Eltern und dem Kind gesagt, dass die Ursache nun gefunden sei. Mal war dies eine körperliche, mal eine psychische Ursache, je nachdem, welchen Beruf der angefragte Therapeut ausübte. Manchmal zeigte sich auch eine über wenige Tage anhaltende Besserung, die aber rasch wieder nachließ.
Aus: Michael Dobe, Boris Zernikow, Rote Karte für den Schmerz
Empfindliche Alarmanlage
Bei einer chronischen Schmerzstörung kommt es in der Alarmanlage des Körpers zu verschiedenen Veränderungen: Sie ist sozusagen zu empfindlich eingestellt und reagiert auf falsche Auslöser, bildlich gesprochen: Die Alarmanlage reagiert nicht nur auf Einbrecher, sondern auch auf Wind, und oft geht sie sogar ganz ohne erkennbaren Grund los. So meldet bei manchen Betroffenen das Gehirn auch dann einen Schmerz, wenn nur ein geringer, ganz unschädlicher Reiz vorliegt. Mediziner sprechen dann von einer Allodynie. Leichte Blähungen verursachen dann beispielsweise heftige Bauchkrämpfe. Auch können wiederkehrende Reize das schmerzverarbeitende System empfindlicher machen. Dann spricht man von einer Sensibilisierung. Geschieht dies auf der Ebene der Schmerzrezeptoren, nennt man dies periphere Sensibilisierung. Auch verschiedene Zentren im Gehirn können sich verändern, wenn sie immer wieder angesteuert werden. Dann spricht man von einer zentralen Sensibilisierung. Dieser Vorgang ist dem Lernen eng verwandt: Werden Lerninhalte regelmäßig abgerufen, baut sich das Gehirn eine Abkürzung. Was das Lernen von Vokabeln und Formeln erleichtert, funktioniert leider auch bei chronischen Schmerzen. Werden Schmerzen dann immer intensiver erlebt, spricht man von einer Hyperalgesie.
Das Gehirn kann aber nicht nur Erlerntes speichern, sondern es kann Wissen und Erfahrungen auch neu kombinieren. Aus den Teilchen verschiedener Puzzles bildet es dann nicht nur die ursprünglichen Bilder, sondern schafft auch neue. Ähnlich kreativ geht es bei einer chronischen Schmerzstörung vor. Ein Beispiel: Jemand hatte zunächst einfache Kopfschmerzen. Zugleich hatte er oder sie Streit mit dem besten Freund. Das Gehirn ist in der Lage, später beides zu verknüpfen. Drohende Unstimmigkeiten lösen dann regelmäßig neue Kopfschmerzen aus. Diese seien keine Einbildung, sondern wirklich vorhanden, betonte Zernikow. Wissenschaftler fassen die Abläufe im sogenannten biopsychosozialen Modell zusammen: Etwa eine Veranlagung (bio), Emotionen und Verhalten (psycho) und die Wechselwirkung mit Familie und Freunden (sozial) arbeiten darin zusammen. Dass sich die Beschwerden meist nicht mit Tabletten und Tropfen lindern lassen, verwundert da wenig. Ob und wenn ja welche Behandlung erforderlich ist, hänge von der Beeinträchtigung im Alltag ab, sagte Zernikow (vergleiche auch Grafik). Für die genannten 5 Prozent mit starken und stärksten Beschwerden und Beeinträchtigungen des Alltags ist meist ein multimodales Vorgehen erforderlich, wobei es ambulante oder stationäre Möglichkeiten gibt.
Dabei sind drei Punkte für die Kinder und ihre Eltern wichtig. Sie sollten wissen, wie etwa Stress und negative Gefühle Schmerzen verstärken können (und umgekehrt). Traumatische und schwer belastende Lebensereignisse, aber auch Zuwendung können die Schmerzen aufrechterhalten und/oder verstärken. Vor allem der letzte Punkt sei Eltern häufig nur schwer zu vermitteln, sagte Zernikow. Schonung und Zuwendung (etwa Kakao, Couch, Kuscheln) helfe bei akutem Schmerz. Bei chronischem Schmerz könne er aber den »Schmerz-Lernprozess« verstärken. Auch wenn es herzlos klinge, ein Kind zur Schule oder zum Sport zu schicken, wenn es unter Schmerzen leide, könne genau dies zur Linderung beitragen. Kakao, Couch und Kuscheln müssten und sollten aber nicht ersatzlos gestrichen werden, erläuterte er weiter. Sie sollten einen festen Platz erhalten, der (wichtig!) unabhängig vom Schmerzgeschehen sei.
Modul 1: Edukation und Zielsetzung
Die Kinder lernen, wie (akute und chronische) Schmerzen entstehen und wie sie ihren chronischen Schmerz beeinflussen können, auch wenn sich oft keine völlige Schmerzfreiheit erreichen lässt.
Modul 2: Trainieren von Schmerzbewältigungsstrategien:
Dazu gehören etwa Ablenkungstechniken oder Bewegungsübungen.
Modul 3: Therapie relevanter Probleme in Schule, mit Freunden und/oder mit der Familie
Modul 4: Vermittlung angemessenen Elternverhaltens und Familientherapie
Modul 5: Optionale Interventionen.
Dazu gehören je nach Erkrankung sinnvolle medikamentöse Therapien, Physiotherapie et cetera
Modul 6: Rückfallprophylaxe
Aktiv ablenken
Aktiv zu werden, helfe den Kindern und Jugendlichen außerdem, sich dem Schmerz nicht mehr ausgeliefert zu fühlen. Passiver Umgang mit dem Schmerz und Vermeidungsverhalten verstärke diesen hingegen. Beim aktiven Umgang erfahren sie: Der Schmerz verschlimmert sich nicht. Sich nicht vom Schmerz beherrschen zu lassen, stärke das Selbstbewusstsein der Kinder, erläuterte Zernikow.
Der dritte Punkt besteht in Maßnahmen, die die Kinder und Jugendlichen ergreifen können, um dem Schmerz zu begegnen und eventuell vorzubeugen. Welche dies individuell sind, müssten die Kinder für sich selbst ausprobieren, sagte Zernikow. Gut bewährt hat sich etwa das sogenannte Ablenkungs-ABC. Beginnend mit dem Buchstaben A überlegt man sich dabei beispielsweise eine Musikgruppe und einen Musiktitel. Auch Bewegungsübungen helfen häufig gut. Anderen Kindern helfen Entspannungsübungen wie die Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson oder Tai Chi, aber auch Fantasiereisen. Auf diese Weise werden »Bahnungen« im Gehirn durch die chronische Schmerzstörung nach und nach abgeschwächt und durch neue ersetzt. Dabei müsse man allerdings häufig auch die Erwartungen von Kindern und Eltern auf ein realistisches Maß reduzieren. Der Schmerz verschwinde nicht über Nacht, oft lasse er sich erst nach und nach auf ein erträgliches Maß lindern, sagte Zernikow. Wichtig sei, dass die Kinder wieder aktiv und mit Freude am Leben teilnähmen. /
Wissenschaftliches Begleitheft zum Video:
Michael Dobe, Boris Zernikow, Rote Karte für den Schmerz. Wie Kinder und ihre Eltern aus dem Teufelskreis chronischer Schmerzen ausbrechen, Carl-Auer-Verlag, Heidelberg, 3. Auflage 2014
J. Wager, B. Zernikow, Was ist Schmerz, Monatschrift Kinderheilkunde 2014,
162:12-18, doi: 10.1007/s00112-013-2958-8, online verfügbar unter:
www.deutsches-kinderschmerzzentrum.de/fileadmin/media/Inhaltsbilder/Literatur/Wager2014.pdf
www.deutsches-kinderschmerzzentrum.de
Medizinische Gesellschaft Bad Homburg: