Reine Geschmacks- sache |
03.06.2015 12:49 Uhr |
Von Ulrike Becker / Über Geschmack lässt sich nicht streiten, heißt im Volksmund. Da ist etwas dran, denn die Wahrnehmung von Geschmack unterliegt einer individuellen Prägung. Die Ernährung der Mutter, die Gene, aber auch das kulturelle Umfeld bestimmen die Vorlieben beim Essen. Geschmack hat damit auch einen entscheidenden Einfluss auf die Gesundheit.
Was tagtäglich an Essen auf den Tisch kommt, wird ganz wesentlich davon beeinflusst, was uns schmeckt oder eben nicht. Das hat entwicklungsgeschichtlich einen guten Grund. Schließlich konnten unsere Vorfahren so Genießbares von Ungenießbarem oder Giftigem unterscheiden. Geschmack ist eigentlich kein eigenständiger Sinn, sondern resultiert aus dem Zusammenspiel mehrerer Faktoren: Zunächst sind da die Rezeptorzellen in der Zunge. Sie signalisieren die fünf grundlegenden Geschmacksmuster: süß, sauer, salzig, bitter und umami (fleischig-würzig). Ob es noch spezielle Rezeptoren gibt, die auf Fett reagieren, konnten Wissenschaftler noch nicht abschließend klären.
Geschmackserkennende Zellen finden sich auch im Mundraum und im Rachen. Sogar am Kehldeckel bis hin zur oberen Speiseröhre lassen sich solche Zellen nachweisen. Ganz kleine Kinder besitzen noch zusätzliche Sinneszellen auf dem harten Gaumen, in der Zungenmitte sowie in der Lippen- und Wangenschleimhaut. Aus diesem Grund schmecken Säuglinge mit ihren rund 8000 bis 12000 Geschmacksknospen sehr viel differenzierter als Erwachsene, die nur noch 4000 bis 6000 Geschmacksknospen aufweisen; bis zum Seniorenalter reduziert sich die Anzahl auf etwa 2000 bis 3000.
Die Einteilung der Zunge in Geschmackszonen ist überholt. Heute weiß man, dass die Grundgeschmacksarten überall auf der Zunge wahrgenommen werden. Für jede der fünf Geschmacksarten gibt es bestimmte Zellpopulationen an Sinneszellen. Diese sitzen in den sogenannten Geschmacksknospen, die somit süß, salzig oder bitter registrieren und verarbeiten können. Die meisten Geschmacksknopsen befinden sich in den unterschiedlich geformten Geschmackspapillen der Zunge, das sind Auffaltungen der Schleimhaut. Unterschieden wird in Pilz-, Blätter- und Wallpapillen. In den vorderen zwei Dritteln der Zunge sitzen etwa 300 Pilzpapillen mit je drei bis fünf Geschmacksknospen, an den hinteren Zungenrändern finden sich die Blätterpapillen mit mehreren hundert Geschmacksknospen. Den Hauptteil der Geschmacksknospen beherbergen die Wallpapillen am Zungengrund. Trotz der unterschiedlichen Geschmacksrichtungen läuft der Weg bis ins Gehirn immer nach dem gleichen Muster ab: Kommt ein gelöster Aromastoff mit einem Geschmacksrezeptor in Kontakt, setzt eine Kettenreaktion ein, die über mehrere Stationen einen Nervenimpuls auslöst, der schließlich im Gehirn endet. Wie das Gehirn daraus den »richtigen« Geschmack erkennt, also beispielsweise den Sinneseindruck süß beim Genuss von Schokolade, wird noch immer erforscht.
Die Nase hilft mit
Die Rezeptoren der Riechschleimhaut in der Nasenhöhle sind am Schmecken ebenfalls beteiligt. Einige Experten gehen davon aus, dass 80 Prozent des Geschmacksempfindens aus Riecheindrücken besteht. Farbe und Form einer Speise spielen ebenfalls eine Rolle. Selbst die Textur, also die Beschaffenheit eines Lebensmittels, beeinflusst über Mechano- und Thermorezeptoren in der Mundhöhle die Wahrnehmung ebenso wie Geräusche beim Kauen. Das Gehirn setzt aus diesen vielen verschiedenen Informationen den individuellen Geschmackseindruck zusammen. Der Geschmacksinn ist nicht zuletzt eng mit Emotionen und Gewohnheiten verknüpft. So schmeckt uns das meist besonders gut, was wir schon als Kind mochten und mit angenehmen Erinnerungen verknüpfen.
Die ersten Geschmacksknospen bildet das Ungeborene bereits nach acht Wochen. Über das Fruchtwasser kommt es mit verschiedenen Geschmacksrichtungen und Aromen aus dem mütterlichen Essen in Kontakt. Die Prägung von individuellen und kulturellen Geschmacksmustern beginnt also bereits vor der Geburt. Der Einfluss der mütterlichen Ernährung setzt sich in der Stillzeit fort. So lässt sich beispielsweise das Aroma von Knoblauch oder Vanille ein bis zwei Stunden nach dem Verzehr in der Muttermilch nachweisen. Säuglinge lernen aus diesem Grund über Muttermilch vermutlich mehr Geschmacksnuancen kennen als nicht gestillte Babys.
Da die ersten Breie selbst gekocht oder industriell hergestellt sein können, wird hier vermutlich eine weitere Grundlage für die spätere Lebensmittelauswahl gelegt. Aussagekräftige Studien, die einen Einfluss belegen, gibt es allerdings kaum. Eine Untersuchung europäischer Wissenschaftler konnte 1999 allerdings zeigen, dass mit Vanillin aromatisierte Flaschennahrung für Babys die Geschmacksvorlieben dauerhaft prägte. So bevorzugten mit der Flasche ernährte Kinder als Erwachsene noch immer eher vanillinhaltige Produkte als diejenigen, die als Säuglinge gestillt wurden. Auch aus den USA gibt es ein ähnliches Ergebnis: Kinder, deren Mütter während Schwangerschaft und Stillzeit regelmäßig Karottensaft tranken, aßen mit Karottenaroma versetzte Getreideflocken lieber als die Babys, deren Mütter keinen Karottensaft zu sich nahmen.
Eine Frage der Gewohnheit
Im letzten Viertel der Schwangerschaft zeigt das Ungeborene bereits eine Vorliebe für den süßen Geschmack: Bei süßem Fruchtwasser schluckt der Fötus häufiger als bei bitterem. Die angeborene Vorliebe für den Süßgeschmack ist auch Babys deutlich anzumerken, Saures und Bitteres stößt bei ihnen dagegen noch auf Ablehnung. Dass man sich daran mit dem Älterwerden gewöhnt, zeigt die kulturelle Prägung von Geschmack. Unsere Gesellschaft lebt beispielsweise vor, dass Kaffee- oder Biertrinken zum Erwachsensein dazugehören. Deshalb probieren Jugendliche beides immer wieder, bis ihnen die eigentlich bitteren Getränke ebenfalls zusagen. Diese Gewöhnung basiert auf einem biologischen Phänomen: Psychologen sprechen vom Mere-Exposure-Effekt oder dem »Effekt der bloßen Darbietung«. Das heißt, die Lebensmittel und Speisen, die man regelmäßig verzehrt, schmecken aus dem einfachen Grund, weil man sich an deren Geschmack gewöhnt hat. Wer seinen Nachwuchs also zum Gemüseessen bringen möchte, muss es nur immer wieder anbieten.
Zu süß und salzig
Tatsächlich bekommen aber schon viele Ein- bis Dreijährige regelmäßig Fertiggerichte aufgetischt. Wer von klein auf fertig gewürzte Rigatoni Napoli aus dem Glas oder Schinkennnudeln mit Tomatensoße aus der Plastikverpackung bekommt, dem schmeckt eine selbst gemachte Soße aus frischen Tomaten später vermutlich zu fad und der Griff zum Salzstreuer wird wahrscheinlicher. Die meisten Kinderlebensmittel wie Milchdessert oder Fertigmüslimischungen sind zudem viel zu süß. Gewöhnen sich Kinder an solche Produkte, ist davon auszugehen, dass eine hohe Geschmackschwelle für süß auch später bestehen bleibt und insgesamt mehr Zuckerreiches konsumiert wird.
Dass die Vorlieben für bestimmte Lebensmittel oder Speisen, die letztlich die Essgewohnheiten bestimmen, meist ein Leben lang recht stabil bleiben, liegt auch an der Beteiligung von Emotionen beim Essen. Verknüpft das Gehirn positive Erlebnisse mit einem bestimmten Lebensmittel oder einer Mahlzeit, beeinflusst das die Geschmackswahrnehmung oft lebenslang – man denke an die Weihnachtsplätzchen aus Omas Küche. Das funktioniert allerdings auch bei negativen Ereignissen. Aufgrund von Übelkeit oder Erbrechen nach einem bestimmten Essen kann sich eine lebenslange Abneigung gegen dieses bestimmte Gericht entwickeln, auch wenn die Ursache der Unverträglichkeit eine ganz andere war.
Weniger Rezeptoren
Nicht zuletzt gibt es auch genetische Unterschiede beim Schmecken. Mit einer Bittersubstanz wurde nachgewiesen, dass etwa 30 Prozent der Menschen in Deutschland bitter weniger gut schmecken als die übrigen 70 Prozent. Menschen, die mit vielen Bitterrezeptoren ausgestattet sind, haben eher Aversionen gegen bittere Gemüse wie Rosenkohl oder Wirsing als diejenigen mit weniger Rezeptoren. Dass sich das auch auf die Lebensmittelauswahl auswirkt, liegt auf der Hand. Wissenschaftler des Deutschen Instituts für Ernährungsforschung in Potsdam-Rehbrücke (DIfE) gehen sogar davon aus, dass die Ausprägung der Bitterrezeptoren individuell so unterschiedlich ist wie ein Fingerabdruck. Die erbliche Veranlagung für Geschmack untermauert auch eine englische Zwillingsstudie mit mehr als 3000 Geschwisterpaaren aus dem Jahr 2007. Eineiige Zwillinge entwickelten dabei sehr viel ähnlichere Vorlieben als zweieiige. Das betraf in dieser Untersuchung zum Beispiel Vorlieben für Knoblauch, Kaffee und Alkohol oder den Konsum von Obst und Gemüse. Der Studienleiter hält zwischen 41 und 48 Prozent der Geschmacksvorlieben für genetisch festgelegt.
Ist Geschmack messbar?
Aufgrund der vielfältigen Einflüsse verwundert es nicht, dass sich Geschmack bislang nicht objektiv messen lässt. Zu sehr spielt die subjektive Empfindung einer Testperson in die Bewertung mit hinein. Dennoch arbeitet das Technologie Transfer Zentrum (TTZ) in Bremerhaven an reproduzierbaren Sensoriktests. Bei der Studie KosaDat, die vom Wirtschaftsministerium und der Industrie gefördert wird, geht es darum, sensorisch ermittelte Daten mit analytischen zu kombinieren und so umfangreiche Geschmacks-Datenbanken zu schaffen. Geschmack, Geruch, Textur und sogar Verbraucherakzeptanz eines Produkts sollen so vorhersehbar werden. Die Lebensmittelhersteller könnten auf diese Weise kostspielige Entwicklungsarbeiten, Versuchsreihen und Verkostungsaktionen einsparen und Produkte kreieren, die von vornherein eine große geschmackliche Akzeptanz erfahren. Es bleibt abzuwarten, ob computergestützte Analysen tatsächlich so etwas Subjektives wie ein Geschmackserlebnis berechnen können.
Wie unberechenbar unser Geschmacksinn ist, belegen einfache Versuche. So bemerken selbst erfahrene Weintester meist nicht, dass ihnen statt Rotwein gefärbter Weißwein serviert wird. Selbst die Farbe der Umgebung beeinflusst die Wahrnehmung deutlich: Derselbe Wein, den Forscher von der Universität Mainz ihren Probanden servierten, schmeckte den Testern bei blauem und rotem Licht besser als bei grünem und weißem. Unter rotem Licht wurde der Wein als süßer und fruchtiger eingestuft, blaues Licht rief eine würzigere Wahrnehmung hervor. Die Wissenschaftler vermuten dahinter kognitive Verknüpfungen, beispielsweise dass die Farbe Grün unbewusst mit unreif assoziiert wird.
Auch die Aufmachung der Weinflasche konnte Tester hinters Licht führen. Einen durchschnittlichen Wein aus einer Flasche mit edel anmutendem Etikett bewerteten die Tester als sehr guten Tropfen. Kinder, die ja eigentlich differenzierter schmecken können, lassen sich von Verpackungen und Markenlogos ebenfalls täuschen. Im Vergleich zu einer neutralen Verpackung schmeckte ihnen ein bekanntes Markenprodukt deutlich besser, obwohl der Inhalt der Packungen identisch war. Experten ziehen daraus den Schluss, dass man eben auch das schmeckt, was man erwartet zu schmecken.
Geschmack schulen
Welche geschmacklichen Vorlieben existieren, ist letztendlich die Summe aus Sinneswahrnehmungen, Erfahrungen und persönlichen Bewertungen und zudem kulturell beeinflusst. Geschmack lässt sich dennoch recht einfach trainieren. Schon ein dreitägiger Verzicht auf Süßigkeiten, Kuchen und Schokomüsli führt dazu, anschließend die lebensmitteleigene Süße viel deutlicher wahrzunehmen. Ähnlich funktioniert das auch mit Salz im Essen. Mit einer bewussten Schulung der Sinne und des Geschmacks ist es nie zu spät. Für Erwachsene werden allerdings in erster Linie Verkostungen und Seminare zu Wein, Whiskey, Käse oder Kaffee angeboten. Das hat zwar nicht unbedingt etwas mit gesunder Ernährung zu tun. Aber zumindest schult bewusstes Schmecken die Genussfähigkeit. Und wer mehr Wert auf Genuss legt, wird sich früher oder später von einheitlich gewürzten Fertiggerichten verabschieden und selbst zum Kochlöffel greifen. Nicht von ungefähr legen viele Spitzenköche Wert auf hochwertige Zutaten aus saisonaler und regionaler Erzeugung. /
Europaweit helfen insgesamt 2800 Aromastoffe beim Geschmack von Lebensmitteln nach. Nach Schätzungen des Deutschen Verbands der Aromenindustrie (DVAI) nimmt jeder Bundesbürger jährlich 15 bis 20 Gramm Aromastoffe auf. Mit einem Gramm Aroma kann etwa ein Kilogramm Lebensmittel aromatisiert werden. Welche Stoffe dabei genau eingesetzt werden, bleibt für Verbraucher im Dunkeln. Steht auf der Zutatenliste die Angabe »Aroma« zu lesen, ist von einem synthetischen Aromastoff auszugehen. »Natürliches Aroma« muss aus einem natürlichen Ausgangsmaterial gewonnen sein und kann von Hefen, Schimmelpilzen oder aus bio- oder gentechnischen Verfahren stammen. Lediglich wenn die geschmacksgebende Frucht angegeben ist, zum Beispiel »natürliches Erdbeeraroma«, muss das Aroma tatsächlich zu mindestens 95 Prozent aus der genannten Zutat isoliert sein.
Die Vorteile für die Hersteller liegen klar auf der Hand: Mit Aromastoffen wird ein Geschmack erzeugt oder vorgetäuscht, den die verwendeten Zutaten alleine nicht hergeben. Ein klassisches Beispiel ist der Fruchtjoghurt. Die geringe Menge an zugesetzten Früchten, die in der Regel bei rund 6 Prozent liegt, kann den gewünschten Geschmack gar nicht liefern. Also wird künstlich nachgeholfen und Geld gespart. Mit Himbeeraroma für 6 Cent können 100 Kilogramm Joghurt aromatisiert werden. Dabei findet sich etwa eine halbe Himbeere in einem 150-Gramm Becher Fruchtjoghurt. Echte Himbeeren würden dagegen mit rund 30 Euro zu Buche schlagen. Tütensuppen sind ebenfalls ein gutes Beispiel, wie mit einer ordentlichen Portion Aroma der Genuss von Hühnchen- oder Rindfleisch vorgegaukelt wird. Das täuscht nicht nur Geschmack vor, sondern auch Qualität. Wenn vorwiegend Aromen statt Gemüse oder Früchte gegessen werden, fehlt es der Ernährung etwa an Vitaminen und Mineralstoffen.