Systemwechsel |
19.06.2017 14:36 Uhr |
Von Inka Stonjek, Ryd/Schweden / 2009 hat Schweden sein Apothekensystem komplett verändert. Durch Aufhebung des Fremdbesitzverbots und Einführung von Apothekenketten sollte die Zahl der Apotheken erhöht werden, um so die Versorgung der Bevölkerung in schlecht versorgten Regionen zu verbessern. Wie sieht die Situation heute aus?
Die dünne Besiedelung ist eines der Merkmale, das die Deutschen an Schweden besonders lieben. Die knapp 10 Millionen Einwohner verteilen sich auf einer Fläche von etwas mehr als 450 000 Quadratkilometern. Das drittgrößte Land Westeuropas kommt so auf eine Bevölkerungsdichte von 20 Einwohnern pro Quadratkilometer. Zum Vergleich: In Deutschland leben auf dieser Fläche fast zehnmal so viele Menschen. Während sich die Ballungszentren hierzulande vergleichsweise gleichmäßig über die Republik verteilen, befinden sie sich in Schweden hauptsächlich im südlichen und mittleren Teil des Landes. Stockholms län, Västra Götalands län und Skåne län als größte der 21 Provinzen (Iän) vereinen mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Im Norden hingegen ist wenig los. In Kiruna beispielsweise, der flächenmäßig größten Stadt der Welt, wohnen auf rund 20 000 Quadratkilometern gerade mal 30 000 Menschen. Da sind die Wege lang.
Die großen Entfernungen sind aber nicht der einzige Grund dafür, dass Schweden beim Thema Zugang zur Gesundheitsversorgung im EU-Vergleich immer wieder hintere Plätze belegt. Manche läns setzen etwa Patiententaxis ein, die der nicht mobile Teil der Bevölkerung in Anspruch nehmen kann. Vielmehr stellen lange Wartezeiten und hohe finanzielle Eigenbeteiligungen Hürden dar. Denn in dem steuerfinanzierten Gesundheitssystem kosten viele Leistungen extra. Wie viel, ist von län zu län unterschiedlich. Deren Provinziallandtage und Gemeinden sind für die Bereitstellung der Dienste und Verteilung der Gelder zuständig. Im Kronobergs län etwa werden für den Besuch beim Hausarzt 150 Kronen (SEK), rund 15 Euro, fällig. Wer ins Krankenhaus muss, zahlt 100 SEK pro Tag – solange, bis die Selbstbeteiligungsgrenze von 1100 SEK in zwölf Monaten erreicht ist. Rezeptpflichtige Arzneimittel müssen bis zu einem Betrag von 2200 SEK im Jahr aus eigener Tasche bezahlt werden. Bestimmte Personengruppen sind jedoch von der Zuzahlung befreit. Für Kinder und Jugendliche beispielsweise sind bis zum Alter von 18 Jahren rezeptpflichtige Arzneimittel und bis 20 Jahre Arztbesuche kostenlos.
Trotzdem sind weite Strecken für das Gesundheitssystem auch nicht gerade hilfreich. So kritisiert die Aufsichtsbehörde Statskontoret, dass viele Apotheken die sogenannte 24-Stundenfrist nicht einhalten können. In diesem Zeitraum nach Einreichen eines Rezeptes sollen Patienten ihre Medikamente erhalten. Da stoßen viele Großhändler und Apotheken an ihre Grenzen.
Privatisierung
Diesen Umstand hat auch die Privatisierung des Apothekensystems nur marginal verbessert. Bis 2009 gehörten alle 929 öffentlichen Apotheken der staatlichen Apoteket AB. Der schwedische Gesetzgeber sah hier Verbesserungspotenzial: Das Versorgungsnetz sollte durch mehr Filialen besser werden, die Lieferzeiten durch kürzere Anfahrtswege schneller, die Preise als Folge größeren Wettbewerbs niedriger. 2009 trat daher das Gesetz zur Neuorganisation der Arzneimittelversorgung in Kraft, das den Startschuss für die Aufteilung des einstigen Monopols gab.
Mittlerweile sind die Karten neu gemischt und verteilt: Ende 2016 gab es insgesamt 1392 Apotheken in Schweden, wie der Apothekenverband Sveriges Apoteksförening berichtet. Den Großteil des Marktes teilen fünf große Ketten unter sich auf: die weiterhin staatliche Apoteket AB, KronansApotek, Apoteksgruppen Cura apoteket / Apotek Hjärtat und LloydsApotek. 216 Apotheken sind inhabergeführt, davon nur etwa 30 komplett ohne eine Kette im Hintergrund.
Obwohl die Apothekendichte im europäischen Vergleich noch immer sehr gering ist, kommen nun immerhin 14 Apotheken auf 100 000 Einwohner und nicht mehr nur 10 wie vor der Umstrukturierung. Es gibt mehr Sonntagsapotheken und längere Wochenöffnungszeiten. Die Anzahl der Apotheken hat sich also erhöht, allerdings hapert es nach wie vor an der Verteilung. Die großen Konzerne eröffneten vor allem in gut besiedelten städtischen Regionen wie Stockholms län neue Apotheken. In Gebieten im Norden, wo es zuvor schon zu wenige Apotheken gab, hat sich dagegen wenig getan.
Außerhalb von Apotheken
Der schwedische Gesetzgeber hat gleichzeitig Alternativen gefördert. Seit der Umstrukturierung dürfen bestimmte OTC-Arzneimittel auch außerhalb der Apotheke verkauft werden. Etwa 5500 Geschäfte führen mittlerweile ein Sortiment; Präparate gegen Schmerzen, Fieber, Erkältungen, Allergien und Sodbrennen beispielsweise sind in vielen Supermärkten zu haben. Dort finden die Verbraucher vor allem Markenprodukte. Apotheken bieten auch Generika, sind aber im Schnitt teurer. Parallel wächst in Schweden der Onlinehandel rasant. Alle großen Apothekenketten sind im Internet aktiv. Dort erwirtschafteten sie 2016 mehr als 4 Prozent des gesamten Apothekenumsatzes. Den größten Anteil haben die rezeptpflichtigen Arzneimittel. Schweden ist eines von sieben Ländern innerhalb der Europäischen Union, in denen der Rx-Versandhandel erlaubt ist.
Wenn es um die Digitalisierung des Gesundheitssystems geht, sind die Schweden Vorreiter. Seit 2009 haben die län nach und nach die elektronische Patientenakte eingeführt, über die alle Gesundheitseinrichtungen Zugriff auf die Kranken- und Behandlungsgeschichte ihrer Patienten haben. 2012 kam sukzessive das sogenannte Journal hinzu, über das nun die Patienten online ihre Akte einsehen können. Auch die Apotheken sind Akteure in diesem digitalen System: Bereits 95 Prozent aller Rezepte werden elektronisch vom Arzt an eine zentrale Stelle übermittelt. Der Patient erfährt vom Arzt davon, geht in die Apotheke, wo das Rezept ausgedruckt wird und er das verordnete Medikament erhält. Die Apotheken versuchen außerdem, per Telepharmazie ihre Rolle als Gesundheitsdienstleister auszubauen. So kooperiert LloydsApotek etwa mit der Gesundheitsplattform Kry.se. Per Computer oder Smartphone-App können die User mit einem Arzt sprechen, bei ihm rezeptpflichtige Medikamente bestellen und sich nach Hause liefern lassen. Außerdem gibt es in ausgewählten Filialen die Möglichkeit, die Wartezeit mit einem ärztlichen Beratungsgespräch per Videokonferenz zu überbrücken. Da dieser Service vor allem in weniger dicht besiedelten Regionen gut ankam, wurde er auch auf Stockholm und Göteborg ausgeweitet.
Und was halten die schwedischen Verbraucher von ihren Apotheken? 97 Prozent sind mit ihrem letzten Besuch zufrieden, zitiert Sveriges Apoteksförening das Marktforschungsinstitut TNS Sifo. Die Antwortmöglichkeiten »Sie war gut zu erreichen« und »Sie hatte, was ich brauchte« enthielten die meisten Zustimmungen. »Das ist gut, aber ausbaufähig«, findet die Apothekenmarkt-Kommission, die im Regierungsauftrag einen Bericht erstellt hat, der im März vorgestellt wurde. Zwar sind es nur 5 Prozent aller verschreibungspflichtigen Medikamente pro Jahr, die in den Apotheken nicht sofort ausgegeben werden können. Dem stünden aber zwei Millionen Kunden gegenüber, die leer ausgingen.
Versorgung ausbaufähig
Deshalb hat die Kommission ihren Bericht um konkrete Verbesserungsvorschläge ergänzt. Dazu gehört beispielsweise, das seit Jahren wachsende Angebot an Zusatzwaren und Gesundheitsdienstleistungen weiter auszubauen. Ein Medikamenten-Rückgabesystem für Apotheken könnte Anreize schaffen, größere Mengen auf Lager zu halten. Eine veränderte 24-Stundenregel, bei der nicht vorrätige Medikamente werktags bis 16 Uhr bestellt und bis zum nächsten Tag zur gleichen Zeit geliefert werden, würde das Einhalten der Regel erleichtern. Die Beratung nur noch Pharmazeuten zu erlauben, würde die Qualität verbessern und Medikationsfehler minimieren, heißt es. Und weitere Abgabestellen speziell in kleineren Städten würden die Verfügbarkeit erhöhen. Sveriges Apoteksförening begrüßt weite Teile des Berichtes, kritisiert allerdings das pauschale Beratungsverbot für die anderen Berufsgruppen. »Die Aufgaben des Apothekenpersonals sollen der Ausbildung, Fähigkeit und Erfahrung angemessen sein. Meines Wissens funktioniert dies bereits zufriedenstellend«, sagt Verbandspräsident Johan Wallér. /