Mehr Spender braucht das Land |
01.09.2014 14:44 Uhr |
Von Claudia Steinert / Deutschland ist ein Land der Spendermuffel: Nur wenige wollen nach dem Tod Organe oder Gewebe zur Transplantation freigeben. Mitverantwortlich für das schlechte Image der Organspende sind Skandale und Manipulationsvorwürfe. Werbeaktionen und die Organspendereform sollen nun die Bereitschaft zur Spende steigern.
Am 23. Dezember 1954 liegen Ronald und Richard Herrick im Operationssaal des Peter Bent Brigham Krankenhauses in Boston in den USA. Es ist ein kalter Wintertag und die Zwillingsbrüder sind dabei, Geschichte zu schreiben. Richard leidet an einer chronischen Nierenentzündung, er hat nicht mehr lange zu leben. Ronald will seinem kranken Bruder eine gesunde Niere spenden. Es folgt die weltweit erste erfolgreiche Organspende, der Chirurg Joseph Murray wird dafür später den Nobelpreis für Medizin erhalten.
Knapp 60 Jahre später. Laut Weltgesundheitsorganisation WHO wurden im Jahr 2012 weltweit 112 700 Organe transplantiert. Das klingt zwar viel, deckt aber bei Weitem nicht den Bedarf. Von den rund 11 000 Menschen, die zurzeit in Deutschland auf der Warteliste für ein Organ stehen, versterben laut Statistik jeden Tag drei, weil sie nicht rechtzeitig ein Spenderorgan erhalten.
Deutsche spenden wenig
Besonders in Deutschland ist die Bereitschaft, nach dem Tod Organe zu spenden, konstant niedrig. Auf 1 Million Einwohner kamen im Jahr 2013 gerade einmal zehn Verstorbene, die sich zuvor bereit erklärt hatten, Herz, Nieren, Leber, Lunge, Bauchspeicheldrüse und/oder Dünndarm zu spenden. Ein historischer Tiefstand. Die anderen europäischen Länder, die gemeinsam mit Deutschland die Organspende über das Netzwerk Eurotransplant organisieren, weisen allesamt eine höhere Spendebereitschaft auf. In Österreich, Belgien, Kroatien, Ungarn, Luxemburg, den Niederlanden und Slowenien sind 15 bis 32 Personen pro 1 Million Einwohner zu einer postmortalen Spende bereit.
Einer der Gründe für die Ablehnung der Deutschen, nach dem Tod ihre Organe freizugeben, könnten Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe von Spenderorganen sein. Jüngst sollen zum Beispiel Ärzte am Deutschen Herzzentrum in Berlin Wartelisten für Herztransplantationen manipuliert haben. Beim großen Organspendeskandal im Jahr 2012 war ähnliches bekannt geworden: Mediziner an vier deutschen Transplantationszentren hatten Daten so verändert, dass ihre Patienten bei der Verteilung von Spenderlebern bevorzugt wurden. Danach war die Spendebereitschaft in Deutschland dramatisch gesunken.
Rückläufig waren die Spenderzahlen aber bereits seit 2010. Die Schuld dafür suchen einige unter anderem bei der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO), die mit der Koordination der postmortalen Organspende betraut ist. Die Organisation hatte bereits vor dem Skandal durch Miss- und Vetternwirtschaft Schlagzeilen gemacht.
Eine gute Nachricht: Die Anzahl der Lebendspenden steigt. Die meisten Menschen auf der deutschen Warteliste brauchen dringend eine neue Niere. Da jeder Mensch zwei Nieren hat, sind auch Spenden von lebenden Personen möglich. Auch ein Teil der nachwachsenden Leber darf von gesunden Personen übertragen werden, aber laut Gesetz nur an Familienmitglieder oder Personen, mit denen der Spender eine enge persönliche Beziehung hat. Dies soll einerseits sicherstellen, dass der Spender seine Tat später nicht bereut und andererseits dem Organhandel einen Riegel vorschieben. Da es sich aber um einen operativen Eingriff an einer gesunden Person handelt, kommt die Lebendspende immer erst in Frage, wenn kein passendes Organ eines verstorbenen Spenders zur Verfügung steht.
Spende nach Hirntod
In Deutschland ist eine postmortale Organspende nur möglich, wenn der Hirntod vor dem Herztod eintritt. Zwei erfahrene Ärzte müssen unabhängig voneinander den Hirntod nach den Richtlinien der Bundesärztekammer nachgewiesen haben. Wer bereits zu Lebzeiten seine Einwilligung in die Organspende erteilt hat, erleichtert Ärzten und Angehörigen das Leben. Denn ansonsten müssen die Hinterbliebenen die Entscheidung für oder gegen die Organspende treffen – in der schwierigen Situation nach einem Todesfall eine zusätzliche Belastung. Stimmen sie zu, untersuchen Ärzte die Organe auf ihre Funktionsfähigkeit und melden die Ergebnisse der DSO, die wiederum die zentrale europäische Vermittlungsstelle Eurotransplant in den Niederlanden informiert.
Dort durchsuchen die Angestellten die Datenbanken nach geeigneten Empfängern. Wichtigste Kriterien sind dabei die medizinische Dringlichkeit, also wie lange ein Patient noch ohne ein Spenderorgan überleben kann, sowie die Erfolgschancen der Transplantation. Die Blutgruppen von Spender und Empfänger müssen zueinander passen und es dürfen keine Rhesus-Unverträglichkeiten vorliegen. Auch die Zeit auf der Warteliste und die Entfernung von Spender und Empfänger spielen eine Rolle. Denn bei der Organspende zählt jede Minute.
Der Zustand eines Organs verschlechtert sich rapide, wenn es vom Blutkreislauf getrennt wird. Um das Absterben der Zellen zu verlangsamen, werden die Organe nach der Entnahme in stark gekühlten Lösungen aufbewahrt und transportiert. Trotzdem bleiben nur 16 bis 24 Stunden, um das Organ wieder an den Blutkreislauf anzubinden. Die DSO koordiniert deshalb den möglichst schnellen Transport zum Transplantationszentrum des Empfängers. Dort wartet im Idealfall bereits das Operationsteam um das Organ dem Empfänger zu transplantieren. Die komplizierte Operation dauert oft viele Stunden und auch danach ist die Behandlung noch nicht abgeschlossen.
Denn es besteht die Gefahr, dass das Immunsystem des Empfängers das Spenderorgan abstößt. Das passiert, wenn T-Zellen und Antikörper das neue Organ als Fremdkörper betrachten und es attackieren. Manchmal hilft es, das Immunsystem mit Glucocorticoiden und Immunsuppressiva zu unterdrücken. In schwerwiegenden Fällen ist eine erneute Transplantation aber manchmal die einzige Hoffnung.
Wieder mehr Spender
In diesem Jahr könnte die Zahl postmortaler Organspenden erstmals wieder steigen. 2014 gab es bereits 1554 postmortale Organspenden, 2013 waren es 1597 im gesamten Jahr. Das Bundesgesundheitsministerium und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) haben sich dafür auch gehörig ins Zeug gelegt. In einer großen Anzeigenkampagne werben zum Beispiel Tatort-Schauspieler Klaus J. Behrendt und Olympiasieger Matthias Steiner für den Organspendeausweis. Auf dieser kleinen Karte kann jeder vermerken, ob und welche Organe er nach seinem Tod spenden möchte. Es gibt auch die Möglichkeit, die Entscheidung über eine Spende nach dem Tod auf eine andere Person zu übertragen. So oder so nehmen Menschen mit Organspendeausweis ihren Angehörigen eine schwierige Entscheidung ab. Spenderausweise sind an vielen verschiedenen Stellen erhältlich, unter anderem in Apotheken.
In Deutschland gilt gemäß dem Transplantationsgesetz (TPG) die Zustimmungslösung, das heißt, die verstorbene Person muss zu Lebzeiten ausdrücklich erklärt haben, dass sie ihre Organe spenden will. Liegt keine Einwilligung vor, können die Angehörigen nach dem Tod über eine Entnahme entscheiden. Diese Regelung wurde 2012 mit der Organspendereform um die Entscheidungslösung erweitert: Die Krankenversicherungen müssen ihre Versicherten über 16 Jahre alle zwei Jahre per Post über die Organspende informieren und zu einer Entscheidung auffordern. Damit will der Gesetzgeber erreichen, dass die Bevölkerung sich intensiver mit dem Thema beschäftigt und sich mehr Leute zum Spenden entschließen. Es besteht jedoch keine Pflicht, sich zu entscheiden. In einigen anderen europäischen Ländern, zum Beispiel in Frankreich, Italien und Spanien, gilt die sogenannte Widerspruchslösung. Hier sind alle Verstorbenen automatisch potenzielle Spender, wenn sie nicht zu Lebzeiten ausdrücklich einer Organspende widersprochen haben. In Ländern mit dieser Gesetzgebung ist die Spenderrate daher meist wesentlich höher als in Deutschland. Ein radikales Modell gibt es in Bulgarien: Unter der sogenannten Notstandsregelung sind alle Bürger »im Notstand« zur Organspende verpflichtet. Ein Einspruch ist hier nicht möglich.
In einer repräsentativen Umfrage der BZgA aus dem Jahr 2013 haben 68 Prozent der Menschen ihre Bereitschaft zur Organ- und Gewebespende erklärt. Das ist ein Rückgang um 2 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Doch die Anzahl der Menschen, die einen Organspendeausweis besitzen, ist von 2012 bis 2013 von 22 auf 28 Prozent gestiegen. Auch die Zahl der Befragten, die mit ihren Angehörigen und Freunden über Organspenden gesprochen haben, hat sich von 59 auf 65 Prozent gesteigert.
Bewusstsein stärken
Das Thema Organspende rückt also wieder stärker ins Bewusstsein der Menschen. Das ist auch nötig, um den Patienten, die dringend auf ein Spenderorgan angewiesen sind, zu einem zweiten Leben zu verhelfen. Auch Richard Herrick lebte nach der Nierenspende seines Bruders noch acht Jahre. Der Spender Ronald verstarb 2010 im Alter von 79 Jahren. /