Schwerer Start ins Leben |
01.09.2014 14:44 Uhr |
Von Carina Steyer / Fast 10 Prozent aller Kinder kommen vor der vollendeten 37. Schwangerschaftswoche zur Welt und gelten damit als Frühgeburt. Zwar werden die Überlebenschancen von Frühchen immer besser, viele haben jedoch mit Spätfolgen zu kämpfen. Auch die Pflege der frühgeborenen Kinder zu Beginn ihres Lebens trägt entscheidend zu ihrer Entwicklung bei.
Frühgeborene werden in Deutschland seit Beginn der 1970er-Jahre intensivmedizinisch versorgt. Ihre Überlebenschancen haben sich seitdem stetig verbessert. Nach derzeitigem Wissensstand und den medizinischen Möglichkeiten liegt die Grenze der Überlebensfähigkeit bei etwa 22 Schwangerschaftswochen (SSW). Bei Kindern, die vor der vollendeten 22. SSW zur Welt kommen, ist die Lunge in der Regel noch nicht ausgereift, sodass sie nicht selbstständig atmen können. Sie erhalten eine palliative medizinische Betreuung, das heißt, sie werden bis zu ihrem Tod betreut, bekommen Wärme, Nahrung, Sauerstoff und vor allem die Nähe der Eltern.
Etwa die Hälfte der Babys, die zwischen der 23. und der vollendeten 24. SSW geboren werden, ist bereits überlebensfähig. Aber 20 bis 30 Prozent der überlebenden Kinder leiden später unter schwerwiegenden Gesundheitsstörungen und benötigen lebenslang Hilfe. Die Entscheidung, ob lebenserhaltende Maßnahmen eingesetzt werden, treffen die Ärzte laut der Leitlinie zur »Frühgeburt an der Grenze der Lebensfähigkeit des Kindes« der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) daher von Fall zu Fall gemeinsam mit den Eltern.
Ab der 25. SSW versuchen die Ärzte grundsätzlich, das Leben des Kindes zu retten. Die Überlebenschance des Frühchens beträgt ab diesem Zeitpunkt etwa 60 Prozent. Mit Fortschreiten der Schwangerschaft werden die Überlebenschancen immer besser: Kinder, die ab der 26. SSW geboren werden, überleben schon zu 75 Prozent. Nach der 32. SSW liegt die Sterberate dank medizinischer Fortschritte nur noch bei etwa 1 Prozent.
Eine Frühgeburt kann viele unterschiedliche Ursachen haben. Mediziner unterscheiden dabei zwischen mütterlichen, fetalen und sozioökonomischen Risikofaktoren (siehe Tabelle). Zeichen einer drohenden Frühgeburt sind vorzeitige Wehen oder ein vorzeitiger Blasensprung. Auch die sogenannte Zervixreifung, eine Verkürzung des Gebärmutterhalses mit Eröffnung des Muttermundes, weist auf eine mögliche Frühgeburt hin. Der Arzt kann dann eine wehenhemmende Behandlung mit einem Tokolytikum einleiten, um die Geburt hinauszuzögern. Denn vor allem, wenn eine sehr frühe Geburt droht, ist jeder Tag, den das Kind im Mutterleib bleiben kann, ein Gewinn.
Komplikationen
Eine häufige Komplikation bei Frühgeborenen ist das Atemnotsyndrom (englisch: Respiratory Distress Syndrome = RDS). Die Erkrankung tritt vor allem bei Frühgeborenen auf, da ihre Lunge nicht ausgereift ist und Surfactant fehlt. Schwangere, bei denen eine Frühgeburt droht, erhalten deshalb ein Corticosteroid vor der Geburt (antenatal), um die strukturelle und biochemische Reifung der Lunge zu fördern. Bei Frühchen, die zwischen der 24. und 28. SSW geboren werden, können die Ärzte das Auftreten eines RDS meist nicht verhindern, aber zumindest die Schwere durch die Steroid-Gabe vermindern.
Mütterliche Ursachen |
• Vorausgegangene Früh- oder Fehlgeburt • Alter (unter 18 oder über 40 Jahre) • Über- oder Untergewicht • Drogenmissbrauch • Präeklampsie • Infektionen, zum Beispiel der Harnwege • Schwere mütterliche Erkrankungen • Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes mellitus • Gebärmutterstörungen |
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Fetale Ursachen |
• Fehlbildungen • Mehrlingsschwangerschaft • Polyhydramnie (zuviel Fruchtwasser) • Intrauterine Wachstumsrestriktion • Infektionen • Fetale Erkrankungen wie Anämie |
Sozioökonomische Faktoren |
• Stress, Überlastung, Partnerbeziehung • Sozialer Status und Bildungsstand |
Krankheiten und Spätfolgen
Einige Frühgeborene haben mit Spätfolgen wie chronischen Lungenerkrankungen, Ernährungs-, Wachstums- oder Entwicklungsstörungen zu kämpfen. Häufiger als reifgeborene Kinder zeigen Frühgeborene später Teilleistungsstörungen, vor allem im Bereich der Aufmerksamkeit, der motorischen Kontrolle, der Auffassungsgabe oder des Verhaltens. Auch das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) tritt bei Frühgeborenen häufiger auf.
In den meisten Fällen sind zu früh geborene Kinder aber gesund. Häufig sind Organe wie Nieren, Darm, Augen und Gehirn aber noch nicht ausreichend entwickelt, denn wichtige körperliche Entwicklungsphasen im Mutterleib wurden »übersprungen«. Auch Krankheiten, die während der Frühgeborenenperiode auftreten und die Organe des Kindes schädigen können, sind auf diese Unreife zurückzuführen. Frühgeborene müssen daher die ersten Wochen im Brutkasten, einem Inkubator, verbringen.
Im Inkubator werden Temperatur und Luftfeuchtigkeit individuell an das Frühgeborene angepasst. Vor allem soll die Körpertemperatur des Kindes stabilisiert und es mit warmer, feuchter Luft versorgt werden. Wenn nötig, können die Ärzte über den Inkubator auch zusätzlich Sauerstoff zuführen oder Infusionen legen. Spezielle Geräte überwachen außerdem ständig den Zustand des Neugeborenen.
Pflege der Frühchen
Ebenso wie die medizinische Versorgung hat sich auch die Pflege von Frühgeborenen auf der Krankenstation in den letzten Jahrzehnten stark weiterentwickelt. Das Pflegepersonal versucht, die Umgebungsbedingungen dabei so weit wie möglich an die Unreife der Kinder anzupassen. Inzwischen können auch die Eltern rund um die Uhr bei ihrem Kind auf der Station sein. Sie werden in die Pflege mit einbezogen und ermuntert, mit dem Kind zu sprechen, ihm vorzulesen oder vorzusingen. Gerade die Stimme der Mutter ist wichtig für die spätere Sprachentwicklung des Kindes. Daneben achten die Pflegenden darauf, die Atmosphäre auf der Station möglichst leise zu gestalten. Einfache Maßnahmen sind zum Beispiel, nicht direkt neben den Inkubatoren zu sprechen, diese möglichst leise und vorsichtig zu öffnen und zu schließen. Lagerungshilfen sollen den Babys helfen, sich leichter zu bewegen, denn dies fällt ihnen im Brutkasten durch das fehlende Fruchtwasser und die Schwerkraft schwerer als im Mutterleib.
Auch starke Gerüche wie durch intensive Desinfektionsmittel, Zigarettenrauch oder Parfum sollten vermieden werden. Auf vielen Stationen wird den Kindern auch ein Tuch mit dem Körpergeruch der Mutter oder des Vaters in den Inkubator gelegt. Frühgeborene sind im Inkubator auch einer 50-bis 200fach höheren Lichtintensität ausgesetzt als in der Gebärmutter. Die Inkubatoren werden daher möglichst mit Tüchern abgedeckt, auf einigen Stationen ist es auch möglich, die Lichtintensität nach Bedarf zu regulieren. Pflegerische und medizinische Maßnahmen werden so weit wie möglich an den Schlaf-Wach-Rhythmus des Kindes angepasst.
Förderlich für das Kind und die Eltern-Kind-Bindung ist auch das »Känguruhen«. Dabei liegt das Kind mit direktem Hautkontakt auf der Brust von Mutter oder Vater. Diese Position beruhigt das Kind, es hört den vertrauten Herzschlag und nimmt den Geruch seiner Eltern wahr. Ist das Kind reif genug, kann es auch erste Trinkversuche an der Brust seiner Mutter machen.
Ausblick
Wissenschaftler der Hohenstein Institute im baden-württembergischen Bönnigheim arbeiten daran, die Bedingungen für Frühgeborene noch weiter zu verbessern. Sie entwickeln derzeit einen speziellen Inkubator, der die Reifung des Gehirns fördern und Defiziten im sensorischen und motorischen Bereich vorbeugen soll. In dem Brutkasten sollen die Bedingungen in der Gebärmutter realitätsnah nachgebaut werden. Frühgeborene sollen im »künstlichen Uterus« künftig nicht nur eine Begrenzung wie in der Gebärmutter erfahren, sondern auch sensorische, motorische sowie Gleichgewichtsreize erleben. Zusätzlich wollen die Forscher den Herzschlag der Mutter in den Inkubator integrieren. Bereits im nächsten Jahr soll der erste Prototyp in der Praxis getestet werden. /