Wenn der Schmerz bleibt |
01.09.2014 14:44 Uhr |
Von Jutta Heinze / Ob Bänderdehnung im Fuß, eine tiefe Wunde am Finger oder eine verstauchte Hand – solche Verletzungen schmerzen oft mehrere Wochen lang. Bei rund 2 bis 5 Prozent der Patienten klingen die Schmerzen jedoch nicht ab, sondern verschlimmern sich mehr und mehr. Aus der Verletzung entwickelt sich eine eigenständige Erkrankung, der Morbus Sudeck.
Der deutsche Chirurg Paul Sudeck, Namensvater dieser Schmerzerkrankung, beschrieb das Krankheitsbild Anfang des 19. Jahrhunderts erstmals. Er bezeichnete es als »entgleiste Heilentzündung«; im Anfangsstadium gekennzeichnet durch lang anhaltende und starke Schmerzen an Arm oder Bein, oft in Verbindung mit Bewegungs- und Funktionseinschränkungen. Eine Erklärung dafür hatte der Hamburger Professor jedoch seinerzeit noch nicht.
Selbst heute, rund 100 Jahre später, rätseln Wissenschaftler noch immer über die genauen Ursachen des Sudeck-Syndroms, das sich inzwischen unter der Bezeichnung »Komplexes regionales Schmerzsyndrom« (Complex Regional Pain Syndrome, CRPS) etabliert hat und zu den posttraumatischen Erkrankungen zählt. Sie vermuten eine gesteigerte Entzündungsreaktion in den betroffenen Gliedmaßen mit Beteiligung der Nerven.
Eins aber gibt die Datenlage zum CRPS inzwischen eindeutig her: Jährlich trifft die in mehreren Stadien verlaufende Erkrankung hierzulande zwischen 5000 und 10 000 Patienten, Frauen häufiger als Männer und Kinder eher selten. Die meisten sind zwischen 40 und 60 Jahre alt, und die Erkrankung betrifft die oberen Extremitäten etwas häufiger als die unteren. Eine üblicherweise eher harmlose Verletzung wie eine Prellung, Quetschung, Verrenkung oder Verstauchung an Armen oder Beinen geht in den allermeisten Fällen voraus; manchmal auch Knochenbrüche, Operationen oder – ausgesprochen selten – internistische Erkrankungen wie ein Herzinfarkt oder eine Schilddrüsenüberfunktion.
Zwei Formen
Wenn die ursprüngliche Verletzung zu Schäden im Bereich der Weichteile und Knochen führt, handelt es sich um ein CRPS vom Typ I, bei Nervenschädigungen um ein CRPS II.In der ersten Phase des CRPS, dem entzündlichen Stadium, dominieren meist vier bis sechs Wochen nach der Verletzung die Schmerzen, die nach der Verletzung einfach nicht abklingen wollen. Diese Phase kann bis zu drei Monate andauern. Die Schmerzen verschlimmern sich im Laufe der Zeit mehr und mehr und steigern sich deutlich über das eigentliche Ausmaß der ursprünglichen Verletzung hinaus. Mal erscheinen sie messerstichartig, mal als Dauerbrennen oder kaum aushaltbares Kribbeln – auch in Ruhe. Selbst leichte Berührungen empfinden die Betroffenen mitunter als ausgesprochen schmerzhaft und unangenehm, speziell an den Gelenken.
Im weiteren Verlauf (Phase 2 – dystrophes Stadium / drei bis sechs Monate nach der Verletzung) kommen Ödeme mit entsprechenden Schwellungen hinzu, die Durchblutung wird schlechter. Dadurch wiederum verändern sich Hauttemperatur und -farbe: Die betroffene Extremität rötet sich und fühlt sich deutlich wärmer an als das gesunde Bein beziehungsweise der gesunde Arm. Die umgebende Haut schwitzt vermehrt und/oder wirkt glänzend. Während der Akutphase wachsen in dem entsprechenden Bereich typischerweise auch Haare und Nägel stärker, bei einer Chronifizierung schlägt dies jedoch ins Gegenteil um. Zu diesem Zeitpunkt treten auch oft schon erste Bewegungs- und Funktionseinschränkungen auf, die sich dann in der dritten und letzten Krankheitsphase, dem atrophen Stadium, weiter manifestieren. Die Knochen büßen in diesem letzten Krankheitsstadium sechs bis zwölf Monate nach der Verletzung an Stabilität und Substanz ein, die Muskeln verlieren an Umfang und Kraft (Muskelatrophie), die beteiligten Gelenke versteifen. Die Folge: Eine dauerhafte Einschränkung der Gliedmaßen, die mitunter wie gelähmt erscheinen. Im – eher seltenen – chronischen Stadium zeigen sich typische Veränderungen im Röntgenbild.
Um herauszufinden, ob ein Patient an Morbus Sudeck leidet, orientieren sich Mediziner vor allem an den genannten klinischen Symptomen, aufgelistet in den »Budapest-Kriterien« der International Association for the Study of Pain (IASP). Wissenschaftler unterteilen die diversen Beschwerden dabei in vier verschiedene Kategorien. Demnach liegt ein CRPS vor, wenn in der Krankengeschichte des Patienten aus drei dieser Kategorien mindestens ein Symptom zutrifft und sich bei der körperlichen Untersuchung Beschwerden aus mindestens zwei dieser Kategorien nachweisen lassen.
Zur Absicherung der Diagnose kommen bildgebende Verfahren (Röntgen, MRT, CT, Knochenszintigraphie) hinzu, die jedoch ein CRPS weder eindeutig belegen noch ausschließen können.
Spezielle neurologische Tests (Messung der Nervenleitgeschwindigkeit oder quantitative sensorische Testungen) dienen vor allem dazu, mögliche Nervenverletzungen oder die Funktionsfähigkeit feiner Nervenfasern zu überprüfen.
Frühzeitige Behandlung
»Je eher die Betroffenen mit ihren anhaltenden Beschwerden zu einem erfahrenen Arzt gehen, umso besser stehen die Chancen, ein CRPS frühzeitig zu erkennen, die Schmerzen gut in den Griff zu bekommen und die Funktion der in Mitleidenschaft gezogenen Gliedmaßen wieder herzustellen«, weiß Dr. Hafis Sina, Sport- und Schmerzmediziner aus Hamburg-Rissen. »Etliche Patienten nehmen einen schlechten Heilungsverlauf nach einer Verletzung und andauernde und sich sogar verschlimmernde Schmerzen jedoch in Kauf und schlucken mehr und mehr Schmerzmittel in Eigenregie, statt sich frühzeitig ärztliche Hilfe zu holen.«
Diese medizinische Unterstützung wiederum beinhaltet bei Morbus Sudeck ein Zusammenspiel mehrerer Fachrichtungen: Orthopädie/Unfallchirurgie, Neurologie, Schmerzmedizin, Radiologie und Physiotherapie. Ergotherapeuten und Psychologen können den Behandlungserfolg ebenfalls fördern.
Entsprechend fachübergreifend ist auch das aus mehreren Säulen bestehende Behandlungskonzept für Patienten mit Morbus Sudeck (CRPS), unter anderem die medikamentöse Therapie. Dazu gehören Bisphosphonate, die die Schmerzen beim CRPS lindern und die Funktion der betroffenen Gliedmaßen unterstützen. Orale Glucocorticoide wirken antiinflammatorisch und antiödematös, daneben werden nichtsteroidale Antirheumatika wie Ibuprofen, Diclofenac und Metamizol, Opioide (zum Beispiel Morphin) und trizyklische Antidepressiva eingesetzt. Auch die Behandlung mit Arzneimitteln gegen neuropathische Schmerzen wie Gabapentin und dem Anästhetikum Ketamin kann unter Vorbehalt versucht werden. Als topische Behandlungsoption des CRPS kommt Dimethylsulfoxid (DMSO; als NRF-Rezeptur) zum Einsatz.
Verschiedene rehabilitative und psychotherapeutische Verfahren bilden das zweite wichtige Standbein der CRPS-Behandlung. Regelmäßige und möglichst frühzeitige Physio- und Ergotherapie tragen dazu bei, schmerzhafte und pathologische Bewegungsmuster zu reduzieren und die Funktion der durch Morbus Sudeck eingeschränkten Gliedmaßen so gut wie möglich wiederherzustellen. Davon profitiert auch das Alltagsleben. Ebenfalls gute Erfolge bringt eine mit verhaltenstherapeutischen Elementen angereicherte Physiotherapie. Sofern sich durch die Erkrankung psychische Begleitsymptome ausprägen, rät die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) in ihrer Leitlinie »Diagnostik und Therapie regionaler Schmerzsyndrome« zusätzlich zu einer Psychotherapie und zu Entspannungsverfahren.
Auch einige interventionelle Therapieansätze lindern bei manchen Patienten die Schmerzen, unter anderem die therapeutische Lokalanästhesie zur Schmerzlinderung, beispielsweise die Sympathikusblockade und die Neurostimulation durch elektrische Impulse wie eine elektrische Stimulation des Rückenmarks.
Sinnvolle Ergänzung
Ein Blick über den Tellerrand lohnt manchmal durchaus: »Neben der klassischen Schulmedizin können auch komplementäre Heilverfahren wie die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) oder die Homöopathie dazu beitragen, dass es CRPS-Patienten besser geht«, erläutert Schmerzexperte Hafis Sina. »Allerdings idealerweise immer Hand-in-Hand mit dem behandelnden Ärzteteam und nicht auf eigene Faust.«
Die gute Nachricht: Ein frühzeitig erkanntes und durch erfahrene Therapeuten behandeltes CRPS kann vollständig ausheilen, jedoch dauert das mitunter mehrere Jahre. Einige Patienten behalten jedoch – meist gut kontrollierbare – Beschwerden zurück. Nur bei einem kleinen Teil der Betroffenen verläuft die Erkrankung so heftig, dass dauerhafte Schmerzen und Funktionseinschränkungen bestehen bleiben. /
Viele hilfreiche Tipps, Informationen sowie Adressen zu Therapeuten und Kliniken finden Patienten und Angehörige bei der Morbus Sudeck Selbsthilfe Bremen:
Tel.: 0421 704581