Essen wie in der Steinzeit |
22.06.2015 10:43 Uhr |
Von Ulrike Becker / Essen wie die Menschen in der Steinzeit. Das klingt zunächst nach einem Experiment im Völkerkundemuseum, ist aber ein aktueller Trend, denn die sogenannte Paleo-Ernährung findet in Deutschland zunehmend Anhänger. Spricht etwas für einen Speiseplan, der hauptsächlich aus Fleisch, Fisch, Gemüse und Obst besteht?
In der Steinzeit kannten die Menschen weder Süßigkeiten, noch Alkohol oder Fast Food, aber auch kein Brot und keine Milchprodukte. Wer wie die Anhänger der Paleo-Ernährung isst, verzichtet also auf alle verarbeiteten Lebensmittel. Die eingeschränkte Nahrungsauswahl soll zu mehr Wohlbefinden führen und dazu beitragen, Übergewicht, Herzinfarkt sowie Krebs vorzubeugen. Aber ist eine solche Ernährungsform wirklich gesünder und in einer modernen Industriegesellschaft überhaupt umsetzbar?
Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen versuchen zu ergründen, wie die Menschheit früher gelebt und wie sie sich entwickelt hat. Die spezielle Richtung, die die Essgewohnheiten unserer Vorfahren genauer unter die Lupe nimmt, heißt evolutionäre Ernährungswissenschaft. Mithilfe ihrer Erkenntnisse leiten einige Wissenschaftler seit den 1970er-Jahren verschiedene Ernährungsempfehlungen für die heutige Zeit ab. Studien aus Großbritannien und den USA gaben der Idee vor Jahren neuen Aufwind. Daher bieten amerikanische Supermärkte ebenso wie das Internet bereits eine große Auswahl an Paleo-Lebensmitteln an. Nun schwappt die Welle nach Deutschland. Zahlreiche neue Ratgeber verschaffen der ungewöhnlichen Ernährung auch hierzulande immer mehr Aufmerksamkeit und in Berlin hat bereits das zweite Paleo-Restaurant eröffnet.
Zunächst nachvollziehbar
Die Grundannahme der Paleo-Anhänger beruht darauf, dass sich die Gene der Menschen in der langen Evolution kaum verändert haben. Das Paläolithikum, das der Paläo- beziehungsweise Paleo-Ernährung den Namen gab, ist jedoch nur ein Teil der gesamten Menschheitsgeschichte, diese Periode wird auch Altsteinzeit genannt. Ändern sich die Umwelt- und Lebensbedingungen, überleben bekanntermaßen diejenigen Organismen, denen die Anpassung an die neue Situation am besten gelingt, gemäß der Maxime des Forschers Charles Darwin: »Survival of the fittest«. Solche Anpassungsreaktionen nehmen einen überaus langen Zeitraum in Anspruch.
Daraus leiten die Verfechter der Paleo-Ernährung ab, dass sich der Stoffwechsel der Menschen heute kaum von dem seiner Vorfahren in der Steinzeitmenschen unterscheidet. Daher lautet ihre Schlussfolgerung: »Steinzeitnahrung für Steinzeitgene«. Die Rezepte zur Paleo-Kost basieren also unter anderem auf der Annahme, der Stoffwechsel der Menschen heute sei den herrschenden Essgewohnheiten nicht gewachsen und das erkläre auch die wachsende Zahl an Nahrungsmittel-Allergien und -Unverträglichkeiten.
Nach diesen Vorstellungen reduziert sich die Palette an Lebensmitteln auf wenige Grundnahrungsmittel. Auf dem Paleo-Speiseplan stehen in erster Linie Wildfleisch oder Fleisch von Tieren aus artgerechter Haltung, Fisch und Meeresfrüchte, Eier, Nüsse und Honig sowie Gemüse, Obst, Pilze und Kräuter. Da Getreide und Milchprodukte erst vor etwa 12 000 beziehungsweise 10 000 Jahren in der menschlichen Ernährung an Bedeutung gewannen, als die Menschen sesshaft wurden und mit dem Ackerbau und der Viehzucht begannen, werden sie aus der Paleo-Kost verbannt. Zudem werden alle Lebensmittel mit Zuckerzusatz, pflanzliche Öle, Hülsenfrüchte und sämtliche Fertigprodukte sowie gesüßte Getränke und Alkohol vom Speiseplan gestrichen. Übrig bleibt eine Nährstoffzusammensetzung mit vielen tierischen Proteinen und wenig Kohlenhydraten – ein Konzept, das an die Low-Carb-Diäten erinnert.
Testphase als Einstieg
Die positiven Effekte, die die veränderten Essgewohnheiten mit sich bringen sollen, klingen vielversprechend: Gewichtsverlust, verbesserte Schlafqualität, Stressreduktion und letztlich ein besseres Körpergefühl. Die jeweiligen Autoren der Paleo-Ratgeber empfehlen einen 30-tägigen Einstieg, um den Körper zu entlasten – im Internet vielfach »Paleo-Challenge« genannt. In dieser Zeit gilt der strikte Verzicht auf alle Lebensmittel aus Getreide, also Brot, Nudeln, Müsli oder Kekse. Auch Milch und daraus hergestellte Produkte wie Joghurt, Quark oder Käse werden vom Speiseplan verbannt.
Das steinzeitliche Menü besteht dann beispielsweise morgens aus Rührei, mittags aus Steak und Salat und abends aus Fisch und Gemüse, angereichert mit Nüssen und Samen. Nach dem konsequenten, etwa vierwöchigen Einstieg in die Paleo-Ernährung soll, so lautet die Empfehlung, jeder in sich hinein spüren und entscheiden, ob er konsequent weitermachen oder nur einige Veränderungen dauerhaft umsetzen will. Das wachsende Angebot an speziellen Paleo-Produkten soll die Umstellung erleichtern (siehe Kasten).
Die Paleo-Ernährung ist nicht zuletzt eine clevere Geschäftsidee. Neben zahlreichen Ratgebern bieten einige Hersteller auch spezielle Lebensmittel an:
Paleo-Brot – unter anderem aus Mandelmehl, Leinsamenmehl, Eiklar-Pulver, Saaten und Nüsse, Himalaya Salz, Natron
Paleo-Soßen – unter anderem aus Tomaten, Honig, Apfelessig, Gewürzen, Salz
Paleo-Snack aus getrockneten Mango, Kochbananen- oder Rote- Bete-Chips
Paleo-Trockenfleisch
Energieriegel »Säbelzahntiger« – Riegel aus Nüssen, Früchten und Rothirsch-Jerky (Streifen aus Trockenfleisch)
Dinobeeren für Kinder – aus Datteln, Kokosflocken, Aroniapulver, gefriergetrockneten Himbeeren und Erdbeeren sowie mit Konzentrat aus Aroniasaft
Wie groß das Potenzial der Menschen zur Anpassung an verschiedene Nahrungsmittel ist, belegen die heute lebenden Naturvölker. Darauf weist der Ernährungswissenschaftler Dr. Alexander Ströhle von der Universität Hannover in seinen Veröffentlichungen zur Paleo-Ernährung hin. Beispielsweise ernähren sich die Einwohner von Papua-Neuguinea überwiegend von Wurzelknollen, die Tarahumara-Indianer in Mexiko hauptsächlich von Getreide und Hülsenfrüchten und die Massai in Afrika zu einem sehr hohen Prozentsatz von Kamel- oder Zeburindmilch.
Zudem widersprechen einige Wissenschaftler der These, der menschliche Stoffwechsel brauche lange Zeit, um sich an veränderte Umweltbedingungen anzupassen. Bei vielen lebenden Organismen geschieht die Anpassung vielmehr erstaunlich schnell.
Gerade das Nutzen der Tiermilch für die tägliche Ernährung ist ein Beispiel für die Fähigkeit zur genetischen Adaption. Dort, wo Menschen regelmäßig die nahrhafte Milch von Schafen, Ziegen und Rindern konsumiert haben, hat sich durch Genmutation ein deutlicher Selektionsvorteil ergeben: Diejenigen, die nach der Stillzeit noch Milchzucker aufspalten konnten, hatten bessere Überlebenschancen.
Diese als Lactosetoleranz bekannte Fähigkeit wurde an nachfolgende Generationen weitergegeben und gilt heute für die Menschen in Nordeuropa, die weiße Bevölkerung Nordamerikas und in Teilen Ostafrikas. Das steht in eindeutigem Widerspruch zu der These der Paleo-Vertreter, innerhalb von 10 000 Jahren könne keine Anpassung stattfinden.
Auswahl eingeschränkt
Mit ihrem Appell, auf Getreide zu verzichten, befinden sich die Verfechter der Steinzeit-Ernährung ganz auf der Linie des aktuellen Trends, Weizen und Gluten für zahlreiche Beschwerden verantwortlich zu machen. Ebenso greift in der Bevölkerung der Industrieländer die Überzeugung um sich, an einer vermeintlichen Milchunverträglichkeit zu leiden. Etliche Menschen lehnen daher Milchprodukte ab und ernähren sich vegan.
Wer 30 Tage lang keine verarbeiteten Lebensmittel und andere »unsteinzeitliche« Produkte isst, entlastet ohne Frage seinen Körper – allein durch den Verzicht auf Süßigkeiten und Alkohol. Sicher verschwindet dabei auch so manches überflüssige Kilo Körpergewicht und das Wohlbefinden steigt.
Radikale Umstellung
Damit erleben Paleo-Anhänger zumindest anfangs dasselbe wie bei anderen Außenseiterdiäten zu beobachten: Vielen Menschen fällt es offenbar leichter, ihre Ernährung radikal umzustellen und so aus festgefahrenen Gewohnheiten auszusteigen, als nur einige ungesunde Essgewohnheiten abzulegen. Allerdings hat sich schon vielfach bestätigt, dass Menschen solche Diäten nur kurzfristig konsequent umsetzen und die erzielten Effekte daher nicht von Dauer sind. Gerade bei der Paleo-Kost ist die Lebensmittelauswahl so stark eingeschränkt, dass es sicher vielen schwer fallen wird, sich ständig nach deren Vorgaben zu ernähren.
Versorgung unklar
Eines der Hautargumente der Paleo-Kost-Kritiker ist die Empfehlung, viel Fleisch zu essen. Die Anhänger der Paleo-Ernährung nehmen wöchentlich mindestens zwei Kilogramm Fleisch zu sich. Jedoch raten zahlreiche Wissenschaftler ganz unterschiedlicher Fachrichtungen mittlerweile dazu, den Fleischkonsum zu reduzieren. Zum einen aus gesundheitlichen Gründen: Wer viel Fleisch isst, nimmt auch mehr gesättigte Fettsäuren, Cholesterol und Purine auf. Die Experten der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfehlen daher, nicht mehr als 300 bis 600 Gramm Fleisch und Wurst pro Woche zu verzehren.
Und die Autoren des Welt-Krebsberichtes (World Cancer Research Fund) gehen davon aus, dass rotes sowie geräuchertes, gebeiztes und gepökeltes Fleisch das Darmkrebsrisiko erhöhen. Zu viel Protein belastet außerdem die Nieren. Und die große europäische EPIC-Studie (European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition) deutet darauf hin, dass sich bei einem höheren Anteil an tierischem Protein das Diabetes-Risiko erhöht.
Ungeklärt ist bislang, ob ein neu-steinzeitlicher Speiseplan die Anhänger ausreichend mit allen Nährstoffen versorgt. Die Versorgung mit Mineralstoffen, Vitaminen und Ballaststoffen dürfte bei reichlichem Konsum von Gemüse und Obst zwar recht gut sein, Getreideballaststoffe mit ihren positiven Wirkungen auf die Gesundheit fehlen bei der Paleo-Kost allerdings komplett. Und durch den totalen Verzicht auf Milch und Milchprodukte ist es bedeutend schwieriger, die Calciumversorgung sicherzustellen.
Ökologische Gründe
Den Verzicht auf pflanzliche Öle begründen die »Steinzeitköstler« mit einer zu hohen Zufuhr an Omega-6-Fettsäuren. Es kommt jedoch vielmehr darauf an, auf ein günstiges Verhältnis von Omega-6- zu Omega-3-Fettsäuren zu achten und die Zufuhr an gesättigten Fettsäuren zu beschränken. Raps-, Lein- und Walnussöl zählen zu hervorragenden Lieferanten für Omega-3-Fettsäuren. Diesen Bedarf alleine durch den Verzehr von Fisch zu decken, ist schon aus ökologischen Gründen abzulehnen.
Ein weiteres Gegenargument ergibt sich beim Blick auf die Auswirkungen eines erhöhten Fleischkonsums auf die Umwelt. Pflanzliche Kost für den menschlichen Bedarf benötigt weniger Agrarfläche als die Produktion von pflanzlichen Futtermitteln für große Nutztierbestände. Darüber hinaus belasten die tierischen Ausscheidungen wie Methangas, Gülle und Mist das Klima und die Böden.
Die Tatsache, dass die sogenannten Zivilisationserkrankungen wie Typ-2-Diabetes, Fettstoffwechselstörungen oder Bluthochdruck früher unbekannt waren, lässt sich nicht alleine auf die Ernährung zurückführen. Das greift zu kurz. Auch die Lebensbedingungen – damals und heute – unterscheiden sich eklatant. Die Menschen in früheren Zeiten durchlebten häufig Phasen des Nahrungsmangels und Hungers. Heute hingegen ist das Berufs- und Privatleben vielen Menschen von Stress und Bewegungsmangel geprägt. Die Ernährung ist da nur ein Faktor des ungesunden Lebensstil.
Außerdem ist und bleibt vieles über das Leben der Steinzeitmenschen Spekulation. Daraus allgemein gültige Empfehlungen ableiten zu wollen, ist wenig überzeugend. Und ein weiterer Aspekt könnte nachdenklich stimmen: Die Lebenserwartung der Steinzeitmenschen war mit etwa 20 bis 30 Jahren extrem kurz.
Doch trotz aller Kritik ist der Ansatz, stark verarbeitete Lebensmittel, Zucker, Fast Food und Alkohol vom Speiseplan zu streichen oder den Konsum zu reduzieren, auf jeden Fall sinnvoll. Darauf reduziert hat die Paleo-Kost durchaus Vorteile. Ernährungswissenschaftler raten jedoch, zusätzlich (Vollkorn)Brot, Nudeln, Kartoffeln und Hülsenfrüchte sowie Milch und Milchprodukte zu verzehren. Für diese Empfehlungen müssen keine wenig gesicherten Erkenntnisse aus der Steinzeit bemüht und vor allem keine neuen Produkte kreiert werden. /