Keine Lösung für Dauerprobleme |
22.06.2015 10:43 Uhr |
Von Ulrike Viegener / In der Hektik des modernen Alltags wird fast jeder schon einmal nervös. Kommen dann Zeiten der Entspannung zu kurz, stellen sich häufig erste Beschwerden ein. Wer ständig nervös und unruhig ist, fragt in aller Regel zuerst in der Apotheke nach einem »Mittel zur Beruhigung«. Eine Reihe von Phytopharmaka eignen sich zur Selbstmedikation, sind aber keine Dauerlösung.
Ein Termin jagt den nächsten, der Chef macht Druck, und zu Hause ist auch nicht immer alles eitel Sonnenschein. Hält der Stress an, besteht die Kunst darin zu erkennen, wann sich aus einer gelegentlichen Nervosität ein Dauerzustand mit Krankheitswert entwickelt hat. Da die Übergänge fließend sind, nehmen viele Betroffene nicht rechtzeitig wahr, wann sie die Reißleine ziehen müssen. Bei chronischem Stress wird Nervosität zum Warnsignal, und dann sind die in der Apotheke nachgefragten »Beruhigungspillen« ganz sicher keine Lösung mehr für das Problem.
Akut oder chronisch?
Vor der Abgabe eines rezeptfreien Medikaments gegen nervöse Unruhe sollten daher PTA oder Apotheker dem Kunden gezielte Fragen stellen. In der Kürze der Zeit ist es mitunter unmöglich, die Ursache der Beschwerden herauszufinden. Einen guten Anhaltspunkt bietet jedoch die Frage nach der Dauer der Symptome. Die zeitlich begrenzte Selbstmedikation ist vertretbar, wenn ein akutes Ereignis, beispielsweise eine Prüfung, zu Nervosität und Unruhe führt. Ergibt das Gespräch dagegen Hinweise auf eine chronische Belastung, sollte der Betroffene einen Arzt aufsuchen.
Die Beratung erfordert Fingerspitzengefühl, vor allem bei der Wortwahl. Denn alles, was nach psychischer Störung klingt, löst bei den Betroffenen nicht selten heftige Abwehrreaktionen aus. In der Konsequenz sind sie dann für weitere sinnvolle Hinweise nicht mehr zugänglich. Erstaunlicherweise überfordern sich manche Menschen lange Zeit, bevor sie bereit sind, sich realistisch mit ihrer Lebenssituation auseinanderzusetzen. Mittel der Wahl sind in einem solchen Fall nicht beruhigende Phytopharmaka, sondern andere Maßnahmen auf Empfehlung eines Therapeuten. Oberstes Ziel einer nicht-medikamentösen Therapie ist dann, dass die Betroffenen einen anderen Umgang mit sich selbst und anderen erlernen beziehungsweise die Situation, die zur steten Unruhe führt, aktiv verändern.
Risiken erkennen
Der Begriff Burnout wird zwar seit einiger Zeit inflationär verwendet, doch es ist ein deutliches Signal, dass die Diagnose »Burnout-Syndrom« stark zugenommen hat. Der Grund, warum Menschen in einen Zustand massiver Erschöpfung geraten, ist der fortgesetzt falsche Umgang mit den begrenzten eigenen Ressourcen. Außerdem versuchen manche Menschen, dem wachsendem Druck auszuweichen, indem sie zu einem Arzneimittel mit Suchtpotenzial greifen. Dieser Aspekt spielt vor allem bei verschreibungspflichtigen Tranquilizern eine Rolle.
Bei der Entscheidung für oder gegen die Selbstmedikation spielt außer der Dauer der Beschwerden auch deren Schweregrad eine Rolle. Nervosität und Unruhe sind diffuse Phänomene, die Betroffene individuell sehr unterschiedlich erleben. Zur Einschätzung der Situation eignen sich eher Begleiterscheinungen wie zittrige Hände, Herzrasen, Schweißausbrüche, Augen- und Muskelzucken, die ebenfalls im Beratungsgespräch erfragt werden sollten. Bei ausgeprägten Beschwerden gilt der Rat, einen Arzt aufzusuchen, umso mehr, wenn die Betroffenen über Ängste oder depressive Verstimmungen berichten. Depressionen und Angsterkrankungen gehen häufig mit Nervosität und Unruhe einher und bedürfen der gezielten Therapie durch Spezialisten.
Hormonelle Dysbalance
Da auch Hormone die innere Ausgeglichenheit beeinflussen, zählen Nervosität und Reizbarkeit zu den typischen Beschwerden der Wechseljahre. Klagen die Frauen über besonders starke Unruhe, wählen Ärzte von Fall zu Fall die Kombination aus Traubensilberkerze (Cimicifuga racemosa) und Johanniskraut (Hypericum perforatum). Ebenso kann ein Übermaß an Schilddrüsenhormonen, entweder durch eine Überfunktion der Schilddrüse oder die Überdosierung eines Schilddrüsenhormon-Präparats, zu nervöser Unruhe führen. Und schließlich macht manchmal auch zu hoher Blutdruck zittrig und unruhig.
Die richtige Empfehlung
Ergibt das Beratungsgespräch keine Hinweise auf pathogenetische Auslöser, eignen sich verschiedene Phytopharmaka zur Behandlung leichter Unruhezustände: Baldrian, Hopfen, Passionsblume, Melisse, Johanniskraut und Lavendel enthalten Substanzen, die ausgleichend und beruhigend wirken. Dadurch verhelfen sie zudem zu einem besseren Schlaf, ohne jedoch – wie synthetische Beruhigungsmittel – die Aufmerksamkeit am Tag zu beeinträchtigen. Die genannten Effekte sind meist gut untersucht und dokumentiert. Unter anderem ergaben die entsprechenden Studien, dass die Phytopharmaka nicht zu niedrig dosiert werden dürfen und ihre volle Wirksamkeit zum Teil erst nach Tagen bis Wochen entfalten.
Ein großes Plus der pflanzlichen Entspannungsmittel: Sie machen nicht körperlich abhängig.
Echter Baldrian (Valeriana officinalis L.) ist der Klassiker unter den pflanzlichen Beruhigungsmitteln. Seine Wurzel enthält eine Vielzahl unterschiedlicher Substanzen, die offenbar alle gemeinsam die beruhigende Wirkung entfalten. Baldrianextrakt erhöht nachweislich die Konzentration des inhibitorischen Neurotransmitters GABA (Gamma-Aminobuttersäure) im synaptischen Spalt und bremst so die Reizleitung an überaktiven Nervenzellen. Leichte Unruhezuständen lassen sich oft schon durch ein Entspannungsbad mit Baldrianzusatz lindern.
In den meisten Fällen wird Baldrian jedoch oral angewendet. Dabei sollten die Patienten unbedingt die vom Hersteller empfohlene Dosierung einhalten, denn sowohl eine zu niedrige als auch eine zu hohe Dosis können die Unruhe verstärken.
Und noch ein Praxistipp: Wegen der nicht kalkulierbaren Wechselwirkungen sollten die Patienten das Baldrianpräparat auf keinen Fall gleichzeitig mit synthetischen Beruhigungsmitteln anwenden. Dagegen hat sich die Kombination mit anderen Phytopharmaka wie Hopfen (Humulus lupulus L.) und Melisse (Melissa officinalis L.) bewährt, denn hierbei addieren sich die Effekte der Heilpflanzen.
Zur Behandlung nervöser Unruhezustände sowie Ruhelosigkeit und Reizbarkeit eignet sich auch das Kraut der Passionsblume (Passiflora incarnata). Weil der Pflanzenextrakt relativ mild wirkt, wird Passionsblume häufig mit Baldrian, Melisse und Hopfen kombiniert. Auch die Kombination mit Johanniskraut erscheint sinnvoll, da die Pflanze mit den dekorativen Blüten die stimmungsaufhellende Wirkung von Hypericum verstärken kann.
Die Mischung macht’s
Bei Unruhezuständen, die mit depressiver Verstimmtheit einhergehen, ist echtes Johanniskraut (Hypericum perforatum L.) das Phytopharmakon der Wahl.
Auch stressbedingte Unruhe zählt zu den wichtigen Indikationen. Die psychotropen Wirkstoffe befinden sich hauptsächlich in den Blättern der Knospen und Blüten. Werden diese zwischen den Fingern zerrieben, tritt blutrotes Öl aus – das Blut des Heiligen Johannes, wie der Volksmund sagt. Für die rote Farbe sorgt vor allem das Hypericin, ein Molekül mit konjugierten Doppelbindungen, dessen Elektronen durch Lichtabsorption angeregt werden und die die aufgenommene Energie als Licht des roten Farbspektrums wieder abgeben.
Für die psychotropen Effekte dagegen ist das Hypericin nach aktueller Kenntnis nicht primär verantwortlich. Hier wird dem Hyperforin eine wichtige Rolle zugeschrieben, aber nicht nur dieser Substanz alleine. Inzwischen gilt als sicher, dass die Wirkung des Johanniskrauts durch das Zusammenspiel verschiedener Inhaltsstoffe zustande kommt. So wirkt zum Beispiel der zu den Flavonoiden zählende Inhaltsstoff Rutin als Einzelsubstanz nicht antidepressiv. Fehlt Rutin allerdings im Extrakt, führt dies zu einem deutlichen Wirkverlust. Daher wird die Qualität von Johanniskraut-Extrakten nicht mehr nur am Hypericin-Gehalt festgemacht, sondern es wird auch ein hoher Gehalt an Flavonoiden gefordert.
Das Hypericin ist zudem verantwortlich für das Risiko der Photosensibilisierung nach Einnahme von Johanniskraut-Präparaten. Dasselbe gilt für mögliche Arzneimittelinteraktionen: Hypericin aktiviert das Cytochrom-P450-Enzymsystem in der Leber und beschleunigt den Abbau von anderen Arzneistoffen, die über dieses System verstoffwechselt werden. Diesen wichtigen Interaktionen ist der Beitrag Johanniskrautpräparate: Gute Beratung - sichere Therapie gewidmet.
Bei ängstlicher Unruhe
Beim Lavendel (Lavendula angustifolia Mill.) steht die anxiolytische Wirkung im Vordergrund, die wahrscheinlich auf einer Drosselung des Calciumeinstroms in Nervenendigungen beruht. Rezeptfreie orale Lavendel-Zubereitungen erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Hier können PTA und Apotheker dazu beitragen, dass Patienten durch unkritische Anwendung der Präparate keine gravierende Angststörung verschleppen.
Magnesium gilt als »Salz der inneren Ruhe«, denn es soll stressabschirmend und erregungsdämpfend wirken. In Stressphasen wird das Mineral nachweislich vermehrt ausgeschieden. Falls die Speicher nicht wieder aufgefüllt werden, gerät der Körper möglicherweise in eine Mangelsituation. Auch wenn Studien fehlen, ist bei nervöser Unruhe die Einnahme von hochdosiertem Magnesium einen Versuch wert. Eine Überdosierung ist nicht zu befürchten, da der Körper überschüssiges Magnesium ausscheidet.
Und die Homöopathie?
Auch Homöopathen setzen die Passionsblume bei nervöser Unruhe und nervös bedingten Schlafstörungen ein. Da im Apothekenalltag häufig die Ruhe und Zeit fehlt, ein geeignetes homöopathisches Einzelmittel herauszufinden, empfehlen sich Komplexmittel, zum Beispiel Neurexan®, das außer Passionsblume Avena sativa (Hafer), Coffea arabica (Kaffeesamen) und Zincum isovalerianicum (zinksaurer Baldrian) in homöopathischer Potenzierung enthält. /
Wer zu nervöser Unruhe neigt, sollte es einmal mit Bewegung versuchen. Es muss nicht immer das Training im nächsten Fitness-Center sein, ein Spaziergang mehrmals die Woche reicht oft schon aus. Regelmäßige Bewegung – das haben viele Studien gezeigt – macht nicht nur körperlich fit, sondern wirkt sich auch harmonisierend auf die Psyche aus. Bewegung entspannt, beruhigt, hebt die Stimmung und macht auf natürliche Weise müde. So lässt sich der Teufelskreis aus Unruhe und Überdrehtsein einerseits und Schlaflosigkeit und Übermüdung andererseits durchbrechen.