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ADHS

Weniger Tabletten, bessere Therapie?

03.07.2015  11:05 Uhr

Von Barbara Erbe / 2014 haben Ärzte zum zweiten Mal in Folge weniger Methylphenidat zur Behandlung von Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) verschrieben. Experten begrüßen diesen Trend, betonen aber auch, dass Medikamente eine wichtige Ergänzung psychotherapeutischer Behandlungsformen bei betroffenen Kindern und Jugendlichen sind.

Rund 5 Prozent der Kinder und Jugendlichen zwischen 3 und 17 Jahren haben nach der aktuellen Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS-Studie) des Robert-Koch-Instituts (RKI) eine ärztlich oder psychologisch festgestellte Aufmerksam­keits­defizit-/Hyperaktivitätsstörung. Weitere 5 Prozent gelten als Verdachtsfälle. »Daran hat sich trotz alarmierender Meldungen einiger Krankenkassen in den letzten Jahren nichts Grundlegendes geändert«, berichtet Dr. Robert Schlack vom RKI. Nach wie vor seien Jungen circa viereinhalbmal häufiger von ADHS betroffen als Mädchen, Kinder und Jugendliche aus Familien mit niedrigem sozialen Status dreimal so häufig wie ihre Altersgenossen aus Familien mit höherem Sozialstatus.

Unruhig und impulsiv

ADHS ist eine der häufigsten Verhaltensstörungen im Kindesalter. Die Hauptsymptome Unaufmerksamkeit, motorische Unruhe und Impulsivität wirken sich deutlich auf die soziale, kognitive und emotionale Entwicklung der Kinder aus. Stehen vor allem körperliche Symptome wie Unruhe und Bewegungsdrang im Vordergrund, wird die Erkrankung auch als Hyperkinetisches Syndrom (HKS) bezeichnet. ADHS-Kinder haben ein vierfach erhöhtes Risiko für Unfälle und ein dreifach erhöhtes Risiko für akzidentelle Vergiftungen. Auch als junge Erwachsene neigen ADHS-Betroffene mehr als andere dazu, Risiken einzugehen – etwa beim Autofahren. Sie leiden häufiger an affektiven Störungen, Angst-, Zwangs-, Lern- oder Sprachstörungen oder Teilleistungsschwächen.

Häufig zeigen Betroffene bereits im Säuglingsalter erste Symptome, beispielsweise Ess- oder Schlafprobleme (»Schreibabys«). Auch im Kindergartenalter fallen einige von ihnen durch motorische Unruhe oder Konzentrationsschwäche auf. Am deutlichsten tritt das Phänomen aber nach der Einschulung zutage. Viele betroffene Kinder bleiben dann hinter ihrer eigentlichen Leistungsfähigkeit zurück. Entsprechend werden die meisten ärztlichen Diagnosen bei Grundschulkindern gestellt. Häufig allerdings vorschnell, berichtet Henri Viquerat, Diplom-Psychologe und Vorsitzender der Sektion Klinische Psychologie im Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP).

Die Diagnose ADHS müsse »differenziert und interdisziplinär gestellt werden – von Ärzten und Psychologen, die dafür ausgebildet sind und die sich die nötige Zeit dafür nehmen.« Wichtig sei dabei, auch nach alternativen ätiologischen Erklärungen für Unruhe und Konzentrationsprobleme zu suchen, betont Viquerat, der im Bereich Frühförderung arbeitet. »Wir erleben immer wieder, dass Eltern mit einem sehr lebhaften Kind in die Praxis kommen und ein Rezept für Medikamente bekommen möchten, ohne überhaupt über mögliche Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten sprechen zu wollen.«

Struktur im Alltag

Dabei spielten die Lebensumstände der Betroffenen eine entscheidende Rolle. So profitieren unruhige Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene sehr von einem strukturierten Alltag und reizarmen Umfeld. Ein mit Spielsachen vollgestelltes Zimmer stellt ADHS-Kinder ebenso vor Konzentrationsprobleme wie unregelmäßige Bettzeiten oder komplizierte Schachtelsätze. »Hier können einfache Änderungen im Alltag oder auch eine Verhaltenstherapie Wege zu mehr Konzentration und Selbstkontrolle eröffnen, die vielen eine große Hilfe sind.« Dazu komme, dass Kinder meist mehr Raum für Bewegung brauchen, als wir ihnen heute in der Regel zugestehen. »Dabei baut gerade körperliche Bewegung Spannungen und Unruhegefühle ab.«

Gene und Umfeld

Trotz der bedeutenden Rolle, die das soziale Umfeld spielt, gehen Wissenschaftler davon aus, dass die Erkrankung ADHS zu 70 bis 90 Prozent genetisch bedingt ist. So verweist das Kölner Kompetenznetzwerk ADHS (www.zen trales-adhs-netz.de ) auf wissenschaftliche Untersuchungen der Neurotransmitter im Gehirn, die typische Veränderungen bei Kindern mit ADHS nachgewiesen haben. Diese würden vermutlich durch erbliche Faktoren besonders beeinflusst. Gleichzeitig besteht aber eine starke Wechselbeziehung zwischen Genen und Umweltfaktoren.

Hier kommt auch der Faktor Bildung ins Spiel, erläutert Schlack: »Die Erfahrung zeigt, dass Eltern mit einem höheren Grad an Bildung nicht nur eher professionelle Hilfe suchen, sondern auch im eigenen Umgang mit dem Kind therapie-unterstützender wirken, zum Beispiel indem sie im Alltag auf Rhythmus und Rituale achten oder bewusst ruhig auf das Kind eingehen. Das kann im besten Fall dazu führen, dass die Disposition beziehungsweise ADHS-typische Symptome gar nicht erst voll zum Tragen kommen.«

Die medikamentöse Therapie von Kindern mit ADHS kann eine wichtige Ergänzung der Behandlung darstellen, betont Professor Dr. Manfred Döpfner vom Kompetenznetzwerk ADHS. »Manchmal ist sie sogar eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die anderen Behandlungsformen erfolgreich eingesetzt werden können.« Mittel der Wahl bei ausgeprägten ADHS-Symptomen ist die Therapie mit dem indirekten Sympathomimetikum Methylphenidat, das die Wiederaufnahme von Dopamin aus dem synaptischen Spalt hemmt. Mediziner vermuten, dass der Botenstoff bei ADHS-Patienten in bestimmten Hirnarealen zu schnell abgebaut wird.

Mehrjährige Behandlung

Ist die individuelle Methylphenidat-Dosis ermittelt, verbessern sich laut Kompetenznetzwerk ADHS Wahrnehmung und Aufmerksamkeitsfunktionen bei mindestens 70 Prozent der Kinder mit ausgeprägter ADHS deutlich. Allerdings hält die Wirkung nur solange an, wie das Medikament gegeben wird. Deshalb ist in der Regel eine mehrjährige medikamentöse Behandlung notwendig, gegebenenfalls in Kombination mit anderen Behandlungsmaßnahmen.

Die guten Ergebnisse unter Methylphenidat gelten aber nur für Kinder mit ausgeprägter ADHS, nicht für die große Gruppe der Kinder mit leichteren ADHS-typischen Auffälligkeiten. »Diese Kinder benötigen aber in der Regel auch keine medikamentöse Behandlung«, so der Experte Döpfner. Viele Psychologen kritisieren immer wieder, dass teils auch Kinder mit weniger ausgeprägten Symptomen Methylphenidat verschrieben bekommen.

Dass der Verbrauch von Methylphenidat in Deutschland 2014 um 5 Prozent – und 2013 um 2 Prozent – zurückgegangen ist, liegt daran, dass die Anwendungsbedingungen wegen der zuvor stark gestiegenen Verordnungszahlen in einem europäischen Risikobewertungsverfahren neu definiert wurden. Seit drei Jahren dürfen Arzneimittel zur Behandlung von ADHS bei Kindern und Jugendlichen nun nur noch von Spezialisten für Verhaltensstörungen verordnet und unter deren Aufsicht angewendet werden. Bei der Diagnosestellung müssen medizinische und psychologische Aspekte sowie das soziale und das schulische Umfeld berücksichtigt werden. »Der erneute Rückgang zeigt, dass wir mit den geänderten Anwendungsbedingungen auf dem richtigen Weg sind«, betont BfArM-Präsident Professor Dr. Karl Broich in einer Pressemitteilung. »Der Umgang mit Methylphenidat braucht aber auch weiterhin besonderes Augenmaß, damit Patientinnen und Patienten von einer gezielten Therapie profitieren und zugleich vor unkritischer Überversorgung geschützt werden.«

Die Nebenwirkungsrate von Methylphenidat ist in den meisten Fällen gering. Die meisten unerwünschten Wirkungen treten nur vorübergehend auf. Häufige Nebenwirkungen sind eine Verminderung des Appetits und Schlafstörungen, manchmal auch Weinerlichkeit oder Zuckungen im Gesicht (Tics).

Ob die Häufigkeit der Erkrankung im Laufe der vergangenen Jahrzehnte zugenommen hat, lässt sich nicht belegen, so der Psychologe Viquerat. »Wir Wissenschaftler denken eher nein. Schon der Kinderarzt und Schriftsteller Heinrich Hoffmann hat ja mit dem Zappelphilipp und dem Hans-Guck-in-die-Luft prominente Beispiele für das Hyperkinetische Syndrom und das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom geschaffen.« Vermutlich hat es diese Störungen vor 100 Jahren schon im gleichen Ausmaß gegeben wie heute. Erst in jüngerer Zeit wurden jedoch Kinder und Jugendliche systematisch untersucht und die Symptomatik diagnostisch eingeordnet.

Langfristig mehr Kosten

Trotz des Rückgangs an Methylphenidat-Verschreibungen: Gesundheitsökonomen sagen langfristig eine Steigerung der Behandlungskosten für ADHS voraus: Zum einen ist das Bewusstsein bei Fachleuten und Laien gleichermaßen gestiegen, pharmakologische und verhaltenstherapeutische Behandlungen werden besser akzeptiert. Im Rahmen der Langzeitbeobachtung der KiGGS-Teilnehmer werden die Forscher des Robert Koch-Instituts die Störung auch in den kommenden Jahren weiter untersuchen. /

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