PTA-Forum online
Nalmefen

Weniger ist mehr

27.10.2014  13:25 Uhr

Von Annette Mende, Berlin / Gar nichts mehr zu trinken, wäre für Menschen mit Alkoholsucht das Beste. Für viele ist das aber ein zu großer Schritt – und sie versuchen deshalb gar nicht erst, ihren Konsum einzuschränken. Doch schon weniger zu trinken kommt ihrer Gesundheit zugute. Seit Kurzem können sie dabei medikamentös unterstützt werden.

Barbara ist 51 Jahre alt und arbeitet im Management eines Möbelkonzerns. Ihr Beruf verpflichtet sie dazu, häufig an Geschäftsessen und anderen Abendterminen teilzunehmen. Wird dort Alkohol angeboten, verliert sie schnell die Kontrolle. »Es schmeckt mir einfach«, sagt sie. »Wenn ich einmal anfange zu trinken, kann ich nicht mehr aufhören.« Mit der Zeit wird ihr bewusst, dass sie ein Problem hat, und sie erzählt deshalb beim nächsten Besuch ihrer Hausärztin davon.

»Barbara war sehr besorgt, dass ihr Alkoholproblem bekannt wird«, berichtete die Berliner Hausärztin Dr. Petra Sandow bei einer Presseveranstaltung des Pharmakonzerns Lundbeck in Berlin. »Dann bin ich meinen Job los«, sagte sie sich – und nicht nur das. Auch im Bekanntenkreis wäre sie vermutlich unten durch gewesen, denn die gesellschaftliche Ächtung Alkoholkranker ist immens.

Eine klassische Entziehungskur mit mehrwöchigem Klinikaufenthalt kam für Barbara deshalb nicht infrage. Ihre Hausärztin Sandow bot ihr stattdessen an, das neue Medikament Nalmefen (Selincro®) zu testen. Der Opioid-Rezeptor-­Modulator ist seit September in Deutschland auf dem Markt und zugelassen zur Behandlung von Menschen mit Alkoholsucht, die ihre Trinkmenge reduzieren wollen. Er wird bei Bedarf eingenommen, das heißt an Tagen, an denen die Patienten merken, dass sie in Gefahr sind, Alkohol zu trinken. In Barbaras Fall war das immer dann, wenn ein Geschäftsessen im Terminkalender stand.

Nalmefen dämpft nicht die berauschende Wirkung des Alkohols, sorgt aber dafür, dass der Patient nach wenigen Gläsern aufhören kann. Erreicht wird dieser Effekt durch Modulation verschiedener Opioid-Rezeptoren im Gehirn. Diese spielen eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung einer Alkoholsucht, wie Professor Dr. Falk Kiefer vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim erläuterte.

Die von Nalmefen beeinflussten Opioid-Rezeptoren kontrollieren unter anderem dopaminerge Neuronen im mesolimbischen System. »Dieses dient dazu, dass der Mensch sich Situationen merkt, in denen er eine Belohnung erhalten hat, um diese künftig gezielt aufzusuchen«, erklärte Kiefer. Versuche an Affen hätten gezeigt, dass sich das System konditionieren lässt. Immer, wenn im Käfig der Tiere das Licht anging, erhielten sie eine Zuckerlösung. Nachdem sich die Affen an diesen Ablauf gewöhnt hatten, feuerten die dopaminergen Neuronen in ihrem Gehirn bereits, sobald das Licht anging. Die eigentliche Belohnung, also die Zuckerlösung, löste dagegen keine weitere Dopamin-Ausschüttung aus. »Dieses System reguliert sich mit der Zeit, wenn die Menge des ausgeschütteten Dopamins der Belohnungsvorhersage entspricht«, so Kiefer.

Im Unterschied zur eher harmlosen Zuckerlösung löst Alkohol über die Opioid-Rezeptoren selbst die Freisetzung von Dopamin aus. Das empfundene Glücksgefühl nach einem Drink übertrifft daher die Erwartung, was in der Folge zu einer noch höheren Dopamin-Ausschüttung beim Anblick alkoholischer Getränke führt – ein Teufelskreis entsteht. Hinzu kommen mit der Zeit Entzugserscheinungen beim Verzicht auf die Droge, die die Sucht noch verstärken. Der Patient macht also die Erfahrung, dass Zittern, Unruhe und Angstgefühle verschwinden, wenn er wieder etwas trinkt.

Drei von sechs Kriterien

Entzugserscheinungen und die Tatsache, dass Abhängige mit der Zeit immer mehr Alkohol vertragen (Toleranzentwicklung) sind zwei Symptome der Alkoholkrankheit. Kiefer nannte noch vier weitere: den starken Wunsch, Alkohol zu konsumieren, Schwierigkeiten, den Konsum zu kontrollieren, einen anhaltenden Alkoholkonsum trotz schädlicher Folgen und das Bestreben, dem Alkoholkonsum Vorrang vor anderen Aktivitäten und Verpflichtungen zu geben. Drei dieser sechs Kriterien müssen erfüllt sein, damit ein Arzt die Diagnose Alkoholkrankheit stellt. Viele Menschen halten Toleranzentwicklung und Entzugssymptome für die wichtigsten Zeichen. »Die meisten Alkoholkranken werden aber anhand der anderen Kriterien diagnostiziert«, sagte Kiefer.

Nalmefen ist zugelassen zur Behandlung erwachsener Alkoholabhängiger, deren Konsum sich auf einem hohen Risikoniveau befindet (siehe Kasten). Betroffene nehmen möglichst eine bis zwei Stunden vor dem voraussichtlichen Konsum eine Tablette ein. Die begleitende psychosoziale Unterstützung ist Pflicht. Patienten mit körperlichen Entzugserscheinungen dürfen kein Nalmefen erhalten. Da bei ihnen die Gefahr besteht, dass sie bei Alkoholentzug Krampfanfälle oder andere schwerwiegende körperliche Symptome entwickeln, müssen sie stationär entgiftet werden.

Maximal drei Monate

Abstinenz bleibt auch bei Nalmefen-unterstützter Reduktion des Alkoholkonsums das Fernziel, weshalb die Therapiedauer auf maximal drei Monate beschränkt ist. In begründeten Ausnahmefällen kann sie um weitere drei Monate verlängert werden. Kiefer riet dazu, bei Patienten, die erfolgreich mit Nalmefen therapiert wurden, nach drei Monaten einen Absetzversuch zu machen, das Präparat aber weiter zu verordnen, wenn dieser erfolglos verläuft.

In Studien sank die Trinkmenge unter Nalmefen rasch und anhaltend auf weniger als ein Drittel der ursprünglich konsumierten Menge (minus 67 Prozent). Allerdings schaffte es auch die Placebogruppe, ihre Trinkmenge auf die Hälfte zu verringern. Kiefer führte das auf die Motivation zurück, die allein die Teilnahme an einer klinischen Studie bei den Betroffenen auslöste. Trotz des beachtlichen Placeboeffekts bleibt bezüglich der Reduktion der Trinkmenge ein Unterschied zwischen beiden Teilnehmergruppen.

Nur bestimmte Patienten

Welch große Rolle die Motivation für den Therapieerfolg spielt, zeigt auch ein weiteres bemerkenswertes Ergebnis der Zulassungsstudien. Etwa die Hälfte der Patienten profitierte von der Nalmefen-Einnahme überhaupt nicht, weil sie bereits unmittelbar nach der Randomisierung, aber noch vor dem Start der Behandlung ihren Alkoholkonsum stark reduziert hatte. Diese sogenannten frühen Reduzierer brauchen laut Kiefer keine Pharmakotherapie. Deshalb werden sie auch in der Fach­information ausgeschlossen: Die Behandlung mit Nalmefen sollte »nur bei Patienten eingeleitet werden, deren Alkoholkonsum sich zwei Wochen nach einer initialen Untersuchung weiterhin auf einem hohen Risikoniveau befindet«, heißt es dort.

Und Barbara? »Sie schaffte es, mit Nalmefen ihre Trinkmenge auf maximal 40 g Alkohol zu senken«, erzählte Sandow. Für eine Frau ist das zwar immer noch recht viel, aber auf jeden Fall besser als ihr früheres unkontrolliertes Trinkverhalten. Denn für Menschen mit riskantem Alkoholkonsum gilt: Jedes nicht getrunkene Glas zählt. /

Wie viel Alkohol ist gefährlich?

Manche Menschen vertragen von Natur aus viel Alkohol, andere sind schon nach einem halben Glas Bier betrunken. Trotz dieser individuellen Unterschiede gibt es eine Faustregel der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zum Gesundheitsrisiko verschiedener Trinkmengen. Demnach haben Männer, die täglich bis 40 g reinen Alkohol konsumieren, ein niedriges Risiko, bei 40 bis 60 g pro Tag ein mittleres, bei 60 bis 100 g ein hohes und ab 100 g ein sehr hohes. Frauen vertragen weniger: Hier liegen die Grenzen bei bis zu 20 g (niedriges Risiko), 20 bis 40 g (mittel), 40 bis 60 g (hoch) und über 60 g (sehr hoch). 20 g reiner Alkohol sind etwa in 200 ml Wein beziehungsweise 500 ml Bier enthalten.

Die experimentelle KI
von PZ und PTA-Forum
Die experimentelle KI
von PZ und PTA-Forum
Die experimentelle KI
von PZ und PTA-Forum
 
FAQ
SENDEN
Wie kann man die CAR-T-Zelltherapie einfach erklären?
Warum gibt es keinen Impfstoff gegen HIV?
Was hat der BGH im Fall von AvP entschieden?
GESAMTER ZEITRAUM
3 JAHRE
1 JAHR
SENDEN
IHRE FRAGE WIRD BEARBEITET ...
UNSERE ANTWORT
QUELLEN
22.01.2023 – Fehlende Evidenz?
LAV Niedersachsen sieht Verbesserungsbedarf
» ... Frag die KI ist ein experimentelles Angebot der Pharmazeutischen Zeitung. Es nutzt Künstliche Intelligenz, um Fragen zu Themen der Branche zu beantworten. Die Antworten basieren auf dem Artikelarchiv der Pharmazeutischen Zeitung und des PTA-Forums. Die durch die KI generierten Antworten sind mit Links zu den Originalartikeln. ... «
Ihr Feedback
War diese Antwort für Sie hilfreich?
 
 
FEEDBACK SENDEN
FAQ
Was ist »Frag die KI«?
»Frag die KI« ist ein experimentelles Angebot der Pharmazeutischen Zeitung. Es nutzt Künstliche Intelligenz, um Fragen zu Themen der Branche zu beantworten. Die Antworten basieren auf dem Artikelarchiv der Pharmazeutischen Zeitung und des PTA-Forums. Die durch die KI generierten Antworten sind mit Links zu den Originalartikeln der Pharmazeutischen Zeitung und des PTA-Forums versehen, in denen mehr Informationen zu finden sind. Die Redaktion der Pharmazeutischen Zeitung verfolgt in ihren Artikeln das Ziel, kompetent, seriös, umfassend und zeitnah über berufspolitische und gesundheitspolitische Entwicklungen, relevante Entwicklungen in der pharmazeutischen Forschung sowie den aktuellen Stand der pharmazeutischen Praxis zu informieren.
Was sollte ich bei den Fragen beachten?
Damit die KI die besten und hilfreichsten Antworten geben kann, sollten verschiedene Tipps beachtet werden. Die Frage sollte möglichst präzise gestellt werden. Denn je genauer die Frage formuliert ist, desto zielgerichteter kann die KI antworten. Vollständige Sätze erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer guten Antwort.
Wie nutze ich den Zeitfilter?
Damit die KI sich bei ihrer Antwort auf aktuelle Beiträge beschränkt, kann die Suche zeitlich eingegrenzt werden. Artikel, die älter als sieben Jahre sind, werden derzeit nicht berücksichtigt.
Sind die Ergebnisse der KI-Fragen durchweg korrekt?
Die KI kann nicht auf jede Frage eine Antwort liefern. Wenn die Frage ein Thema betrifft, zu dem wir keine Artikel veröffentlicht haben, wird die KI dies in ihrer Antwort entsprechend mitteilen. Es besteht zudem eine Wahrscheinlichkeit, dass die Antwort unvollständig, veraltet oder falsch sein kann. Die Redaktion der Pharmazeutischen Zeitung übernimmt keine Verantwortung für die Richtigkeit der KI-Antworten.
Werden meine Daten gespeichert oder verarbeitet?
Wir nutzen gestellte Fragen und Feedback ausschließlich zur Generierung einer Antwort innerhalb unserer Anwendung und zur Verbesserung der Qualität zukünftiger Ergebnisse. Dabei werden keine zusätzlichen personenbezogenen Daten erfasst oder gespeichert.