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Dem Schwindel auf der Spur

Luthers Leiden

21.09.2015  10:29 Uhr

Von Katrin und Tim Schüler / Schwindel kann viele Ursachen haben. Daher erfordert die richtige Diagnose eine gründliche Untersuchung der Erkrankten. Je nach Ergebnis sind die Behandlungsmöglichkeiten allerdings bis heute sehr begrenzt.

Zur Wartburg im Thüringer Wald kommen jährlich unzählige Besucher. Bekannt ist diese mittelalterliche Bastion allerdings nicht wegen prunkvoller Säle und Feste, sondern weil dort Anfang des 16. Jahrhunderts Junker Jörg alias Martin Luther lebte. Vom Papst verfolgt und als vogelfrei erklärt übersetzte der junge Adelige in seiner Kammer die lateinische Bibel ins Deutsche. Der Legende nach soll er in einer schlaflosen Nacht versucht haben, eine Teufelsfratze mit dem Wurf eines seiner Tintenfässer zu vertreiben.

Historisch gesichert ist, dass sich der Reformator von Kindesbeinen an vom Teufel verfolgt und bedroht fühlte und diesen auch für seine anhaltenden Schwindelattacken verantwortlich machte.

Schwindel, in der Fachsprache Vertigo genannt, ist keine Erkrankung, sondern ein Symptom. Die Betroffenen haben entweder den Eindruck, dass ihr eigener Körper schwankt (innerer Schwindel) oder die Umwelt (äußerer Schwindel). Ursache einer Schwindelattacke können neuro­logische Probleme wie Migräne oder kardiovaskuläre Erkran­kungen wie Hypotonie und auch Herzrhythmusstörungen sein. Aber ebenso können Muskelverspannungen im Hals- oder Nacken­bereich, Erkrankungen des peripheren Gleichgewichtsystems sowie psychiatrische Beschwerden wie Angsterkrankungen zu Schwindelanfällen führen.

Komplexes System

Das Gleichgewichtsystem – oft auch als der 6. Sinn bezeichnet – besteht aus verschiedenen Komponenten. Eine davon ist das periphere Gleichgewichtsystem im Innenohr mit seinem Labyrinth aus intrakraniellen Gängen. Es ist eng verbunden mit der Hörschnecke (Kochlea) und gefüllt mit Lymphflüssigkeit, die bei Bewegungen kleine Haarsinneszellen erregt. Diese senden über den Hör- und Gleichgewichtsnerven (Nervus vestibulocochlearis) Informationen vor allem an das Kleinhirn und die vier Gleichgewichtskerne im Hirnstamm (siehe auch Grafik 1). Das Gehirn gleicht dann diese Informationen mit den optischen Eindrücken und auch mit den »Meldungen« der Muskeln ab und leitet bei Bedarf Gegenmaßnahmen ein.

Das Zusammenspiel der einzelnen Komponenten des Gleichgewichtsystems kann jeder gut selbst über den sogenannten vestibulookkulären Reflex beobachten: Wer seinen Kopf dreht, aber dabei gleichzeitig einen Gegenstand fixiert, wird feststellen, dass sich die Augen im Gegensatz zum Kopf nicht bewegen. Damit trotz gegenläufiger Kopfbewegung der Seheindruck nicht verwackelt, spannen sich gezielt bestimmte Augenmuskeln an. Auch einen sicheren Stand auf wackeligen Flächen garantieren Verschaltungen im Gleichgewichtsystem.

In bestimmten Situationen ist dieses System allerdings oft überfordert: Bei Wellengang wird ungeübten Seefahrern meist schwindelig und übel. Vor allem unter Deck nehmen die Augen nicht wahr, dass sich die Körperlage gegenüber der Umwelt verändert. Hingegen senden gleichzeitig das Gleichgewichtsystem im Innenohr und die Muskulatur Signale einer Körperbewegung an das zentrale Nervensystem (ZNS). Diese Widersprüche erzeugen im ZNS das Schwindelgefühl. Weitere Beispiele dafür sind das Drehgefühl nach einer Karussellfahrt sowie Übelkeit und Schwindel bei Bus- oder Autofahrten, vor allem wenn die Reisenden nicht hinausschauen, sondern lesen. Bekanntermaßen kann auch Alkoholgenuss Schwindel auslösen, da Alkohol unter anderem die Kommunikationsmöglichkeiten des Kleinhirns einschränkt.

Symptome und Diagnostik

Den Fall »Luther« betrachten Medizinhistoriker inzwischen differenziert. Sie nehmen an, dass Luther an einer Störung des Gleichgewichtsorgans im Innenohr litt, da er in zahlreichen Briefen über charakteristische Schwindelprobleme berichtete. Es ist nicht genau bekannt, ob Luther an Drehschwindel, Schwank-/Boot- oder Liftschwindel litt. Bei den beiden letzteren fällt das zentrale Gleichgewichtsystems aus. Zur Schwindelsymptomatik kommen Nebensymptome wie Übelkeit, Erbrechen, Stand- und Gangunsicherheiten, Tinnitus, Hörminderung, Ohrdruck oder Nystagmus (unwillkürliche, schnelle Augenbewegungen) hinzu.

Um den Schwindel genauer zu charakterisieren, fragt der Arzt nach Art und Dauer der Attacke, nach möglichen Auslösern und, ob körperliche Ruhe oder das Schließen der Augen den Schwindel lindern. Zu den bewährten diagnostischen Methoden zählen Hörtests, makro- und mikroskopische Untersuchungen des Ohrs sowie Ver­fahren der Bildgebung, allen voran die Computertomografie (CT) und die Magnetresonanztomografie (MRT). Bei der Hirnstammaudiometrie (BERA = brainstem evoked response audiometry) wird über ein EEG die Geschwindigkeit getestet, mit der Hörnerven Reize weiterleiten. Um die gängigen Erkrankungen des Gleichgewichtsystems abzuklären, überprüft der Facharzt zusätzlich die Augenbewegungen und provoziert Schwindelsymptome, indem er den Körper des Patienten in verschiedene Positionen versetzt oder führt eine thermische Labyrinthprüfung (Kalorimetrie) durch. Bei der Kalorimetrie spült er das Innenohr des Pa­tienten mit warmem Wasser aus und erzeugt dadurch bei Menschen mit intakten Gleichgewichtsnerven Schwindel und die zugehörigen Nebensymptome.

Häufigste Form

Die häufigste Erkrankung des Gleichgewichtsystems im Innenohr ist der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel (BPLS). Nach einem Positionswechsel treten bei den betroffenen Patienten innerhalb von 10 Sekunden Schwindelattacken auf, die etwa eine halbe Minute dauern. Außerdem beobachtet der Arzt Nystagmen als typisches Begleitsymptom. BPLS ist zwar prinzipiell harmlos, aber für die Patienten sehr unangenehm.

Die Ursache erschließt sich bei einem Blick auf die Anatomie des peripheren Vestibularorgans. Das Zusammenspiel von fünf Komponenten ermöglicht es uns, Bewegungen, Beschleunigungen und die Schwerkraft wahrzunehmen. Zu diesen fünf Komponenten zählen die drei C-förmigen Bogengänge (Bogengangsorgane), die in den drei Raumrichtungen zueinander stehen und an zwei kugelartigen Membrankonstrukten befestigt sind, in denen sich die beiden sogenannten Makulaorgane (Sacculus und Utriculus) befinden. Über den Haarsinneszellen der Bogengangsorgane befindet sich eine gallertartige Kuppel, deren Spitze am gegenüberliegenden Pol befestigt ist. Hingegen ist die Gallertkuppel der Makulaorgane an ihrer Basis angeheftet und enthält feste, vor allem calciumhaltige Kristalle – den sogenannten Gehörsand (die Statolithen). Eine Bewegung der Flüssigkeiten innerhalb dieser Gänge, reizt die Haarsinneszellen in der Gelmatrix und letztlich den Nervus vestibulocochleares (siehe auch Grafik 2). Bei der Erkrankung können sich Statolithen aus der Gelmatrix lösen und in die Bogengänge oder in die Gallertkuppel gelangen und so für Fehlinformationen sorgen.

Warum sich die Statolithensteine ablösen, ist nicht bekannt. Allerdings erhöht sich die Wahrscheinlichkeit im Alter, nach Ohroperationen sowie bei Patienten mit Migräne, Neuritis vestibularis und Morbus Menière. Durch spezielle Lagerungen des Patienten versucht der Arzt, die irritierenden Statolithen aus den Bogengängen zu entfernen. Oft bringt die Einnahme von Methylprednisolon zusätzlich Besserung.

Neuritis vestibularis

Charakteristisch für diese Erkrankung ist der akut einsetzende, über Stunden bis Tage anhaltende Schwindel. Zusätzlich machen den Patienten Übelkeit und Erbrechen zu schaffen, ihr Hörvermögen ist jedoch nicht beeinträchtigt.

Wissenschaftler vermuten eine Infektion des Hörnervs durch Viren, zum Beispiel Herpes-simplex-Virus Typ 1. Die Schwellung des Nerven kann zu dessen Funktionsverlust führen. Allerdings gelingt es dem ZNS innerhalb weniger Tage, die fehlenden Signale des ausgefallen Nerven zu kompensieren: Es beschränkt sich dann auf die Wahrnehmung der Muskelspannung und den Seheindruck. Deshalb lässt der Schwindel trotz fortbestehender Entzündung des Hörnervs nach einigen Tagen nach.

Ärzte empfehlen den Patienten körperliche Ruhe und verordnen ihnen für kurze Zeit Prednisolon, das sie gegebenenfalls zu Beginn mit einem Sedativum kombinieren. Im Anschluss kann der Patient sein Gehirn durch spezielle physiotherapeutische Übungen trainieren und so den Ausfall des Nerven zu kompensieren.

Morbus Menière

Im 19. Jahrhundert beschrieb der französische Arzt Prosper Menière (1799-1862) erstmals die drei charakteristischen Symptome dieser chronisch fortschreitenden Erkrankung: Drehschwindel mit Übelkeit und Erbrechen, Tieftonschwerhörigkeit und Tinnitus. Zusätzlich klagen die Patienten oft auch über Ohrdruck und eine Anfalls­aura. Aufgrund seiner Verdienste wurde die Erkrankung später nach Menière benannt.

Die Krankheit beginnt meist einseitig mit »Drehschwindelattacken«, die mehrere Stunden anhalten. Im weiteren Verlauf verschlechtert sich das Hörvermögen immer mehr, bis die Patienten hochgradig schwerhörig sind.

Die Ursache des Morbus Menière ist unbekannt. Epidemiologische Daten weisen darauf hin, dass die genetische Veranlagung eine Rolle spielt. Außerdem vermuten Wissenschaftler, dass sich die Endolymphe in den Labyrinthgängen aufgrund erhöhter Produktion oder verringerter Resorption aufstaut. Durch den zunehmenden Druck reißt die Trennmembran zwischen dem Raum der Endolymphe und dem Raum der Perilymphe außerhalb des knöchernen Labyrinths. Wenn sich beide Lymph­arten durchmischen, bewirken ihre unterschiedlichen Elektrolytkonzentrationen die erhöhte Erregung des Hör- und Gleichgewichtsnerven.

Eine Kausaltherapie dieser chronisch verlaufenden Erkrankung steht derzeit nicht zur Verfügung. Die Gabe von Aminoglykosiden direkt in den Gehörgang kann den Schwindel langfristig beheben, da die Arzneistoffe den peripheren Gleichgewichtsapparat irreversibel ausschalten. Leider führt diese Behandlung oft zur Taubheit der Patienten.

Zur Rezidivprophylaxe dient das Antivertiginosum Betahistin, das die Mikrozirkulation im Innenohr verbessert. Verursacht das Medikament Magenbeschwerden, sollte der Patient es während oder nach der Mahlzeit einnehmen. Hörgeräte oder Cochlea-Implantate sind für die Betroffenen wichtige Hilfen. Physiotherapeutische Übungen zum Erhalt der Stand- und Bewegungssicherheit runden das Behandlungsprogramm ab.

In Martin Luthers Fall gehen Medizinhistoriker davon aus, dass er an Morbus Menière erkrankt war. Damit reiht sich der Reformator in eine nicht unbeträchtliche Zahl prominenter Leidensgenossen wie Charles Darwin, Julius Cäsar oder Marylin Monroe ein. /

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