Essen für den Eimer |
14.12.2015 10:48 Uhr |
Von Ulrike Becker / Europaweit landen pro Jahr knapp 90 Millionen Tonnen Lebensmittel auf dem Müll, die noch essbar wären. Eine gigantische Verschwendung von Ressourcen. Viele kreative Ansätze zeigen, wie sich die Verluste eindämmen lassen.
Im Gemüsefach liegen noch ein paar schrumpelige Möhren, der Salat ist etwas angewelkt, und vom Vortag sind gekochte Nudeln im Topf. Meist wandern solche Reste in den Abfall, obwohl sie noch genießbar wären. Man stelle sich vor: Jeder Bundesbürger wirft etwa 82 Kilogramm Lebensmittel pro Jahr in den Müll! Die Ursachen sind vielfältig: Zu viel gekocht, spontane Einkäufe, falsche Lagerung, zu große Mengen an Billigangeboten erworben und fehlendes Wissen sind einige davon. Hochgerechnet auf ganz Deutschland werden laut einer aktuellen Studie der Umweltorganisation WWF (World Wide Fund for Nature) jedes Jahr rund 18 Millionen Tonnen Lebensmittel entsorgt. Mehr als die Hälfte ließe sich laut der Studienautoren vermeiden.
Die Privathaushalte gelten als der größte Lebensmittelverschwender: 61 Prozent der Abfälle gehen laut Bundesministerium für Ernährung und der Universität Stuttgart auf ihr Konto. Doch Verluste entstehen auf allen Stufen der Warenkette, vom Feld bis zum Verbraucher. So bleibt ein Teil der Ernte stets bereits auf dem Feld zurück, weil Qualität, Norm oder Preis nicht stimmen. Hinzu kommen Verluste durch Wetterkapriolen, die ein ganzes Getreidefeld unbrauchbar machen können. Solche Ernteverluste summieren sich auf mehrere hunderttausend Tonnen jährlich.
Auch Kantinen, Krankenhäuser oder die Gastronomie haben einen erheblichen Anteil an der Lebensverschwendung. Reste, die auf den Tellern von Patienten in der Klinik oder im Restaurant liegen bleiben, falsche Planung im Restaurant oder bei Großveranstaltungen, unflexible Portionierung von Mahlzeiten, fehlerhafte Lagerhaltung oder Zubereitungsverluste tragen dazu bei, genauso wie strenge hygienische Bestimmungen. 46 bis 56 Prozent wären nach Recherchen der Experten der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen in diesem Bereich vermeidbar. Die Lebensmittel verarbeitende Industrie sowie Groß- und Einzelhandel sortieren ebenfalls viele noch essbare Lebensmittel aus. Optische Makel an frischer Ware oder Beanstandungen an Verpackungen können ein Grund für Ausmusterung sein. Die von den Supermarktkonzernen oft vorgeschriebene Wiederauffüllung des Frischeangebots bis zum Ladenschluss trägt mit zu den großen Abfallmengen bei. Zwar sorgen gefüllte Regale dafür, dass Kunden auch abends um 19 Uhr zwischen etlichen Brot- und Gemüsesorten wählen können. Doch erhöht sich so die Menge, die nicht mehr verkauft wird. Die größten Verluste entstehen bei Gemüse, Kartoffeln und Backwaren.
Verschwendung von Ressourcen
Das Problem an den großen Abfallmengen ist der unnötige Verbrauch wertvoller Ressourcen. Dazu zählen bewirtschaftete Acker- und Grünflächen, Wasser und Energie. Die Experten des WWF rechneten aus, dass für die weggeworfenen Lebensmittel jedes Jahr eine Fläche von 26 000 Quadratkilometern umsonst bewirtschaftet wird. Die Landwirtschaft verbraucht außerdem rund 70 Prozent des weltweit verfügbaren Frischwassers. Auch Verarbeitung, Verpackung und Transporte verschlingen enorme Mengen an Energie und belasten die Umwelt durch den Ausstoß von Treibhausgasen ebenso wie durch den Einsatz von Düngern und Pestiziden. Schweizer Forscher der Universität Zürich machen die Lebensmittelproduktion für 30 Prozent aller Umweltbelastungen verantwortlich.
Private Initiativen und die Bundesregierung haben längst erkannt, dass gegen die Abfallberge in unserer Überflussgesellschaft etwas getan werden muss. Im Frühjahr 2012 startete das Verbraucherministerium die Kampagne »Zu gut für die Tonne« mit dem Ziel, das Bewusstsein der Verbraucher beim Einkauf und Konsum zu schärfen. Auch Landwirtschaft, Industrie, Großverbraucher und Einzelhandel wurden aufgerufen, sorgsamer mit Lebensmitteln umzugehen. Seit März 2015 nehmen beispielsweise immer mehr Restaurants an der Kampagne »Restlos genießen« teil, bei der den Gästen signalisiert wird: »Wir packen Ihnen Ihre Reste ein.« Für interessierte Gastronomen gibt es kostenfreie Reste-Boxen, Einleger für die Speisekarten sowie Aufkleber, die das Mitmachen kommunizieren. Die staatlich geförderten Verbraucherzentralen klären die Bundesbürger regelmäßig über eine gute Einkaufsplanung und die richtige Lagerung auf. Im Internet finden sich zahlreiche Tipps und eine Online-Rezept-Datenbank, wie Lebensmittelreste sinnvoll und lecker verwendet werden können. Für die kreative Resteverwertung entwickelten die Experten extra eine App für Tablet-Computer und Smartphones, die aktuell 340 Rezepte enthält.
Selbst auf europäischer Ebene tut sich etwas: 2011 wurde das Projekt FUSIONS (Food Use for Social Innovation by Optimising Waste Prevention Strategies) initiiert, mit dem Ziel, in ganz Europa Strategien zur Lebensverschwendung zu entwickeln und zu fördern. Das von der EU-Kommission unterstützte Projekt mit 21 Partnern aus 13 Ländern will Universitäten, Fachinstitute, Verbraucherorganisationen und Unternehmen zusammenbringen und läuft noch bis Juli 2016.
Die Kampagnen gegen Lebensmittelverschwendung zielen auf mehr Wertschätzung gegenüber Lebensmitteln ab. Denn hierzulande können es sich die Menschen leisten, mehr zu kaufen, als sie tatsächlich brauchen. Lebensmittel werden nach Ansicht von Verbraucherschützern in Deutschland viel zu preiswert angeboten. Denn externe Kosten, die durch die Lebensmittelproduktion und den Vertrieb entstehen, spiegelten sich nicht im Preis wider.
Der Wettbewerb der Supermärkte und Discounter mit besonders preisgünstigen Lebensmitteln trägt dazu bei, dass die Wertschätzung für Lebensmittel verloren geht. Ein Kilogramm Bananen für 39 Cent beispielsweise kann unmöglich die Produktions-, Transport- und Lagerkosten abdecken. Im Bewusstsein der Verbraucher verankert sich so aber die Billigmentalität. Diese Haltung führt dazu, dass Essen kaum etwas kosten darf und Unschönes oder Überflüssiges schnell im Abfallkorb landet.
Eine interessante Gegenüberstellung der Schweizer Wissenschaftler verdeutlicht diesen Zusammenhang: In der Schweiz geben die Menschen im Schnitt 7 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel aus, und die Verluste liegen bei 45 Prozent. Im afrikanischen Kamerun müssen die Menschen dagegen 45 Prozent des Einkommens für Lebensmittel verwenden, und nur 5 Prozent davon landen im Abfall. Nicht zuletzt ist es unter ethischen Gesichtspunkten als verwerflich anzusehen, dass angesichts von knapp 800 Millionen hungernden Menschen tonnenweise genießbares Essen im Müll landet.
Manko Mindesthaltbarkeit
Als einen Grund für das unnötige Wegwerfen von Lebensmitteln ermittelten Studien das Mindesthaltbarkeitsdatum. Viele Verbraucher denken, wenn der aufgedruckte Termin erreicht ist, müsste das Lebensmittel entsorgt werden. Doch mit der verpflichtenden Angabe des Datums bei verpackten Lebensmitteln garantiert der Hersteller lediglich, dass bis zu diesem Termin die Qualität in punkto Geruch, Geschmack, Farbe, Konsistenz und Nährwert stimmt. Ist das Datum überschritten, ist die Mehrzahl der Produkte noch einwandfrei. Verbraucherschützer empfehlen, sich ruhig auf die eigenen Sinne zu verlassen. Wenn das Produkt noch unverändert aussieht, gut riecht und schmeckt, ist es in der Regel auch genießbar. Gerade Milchprodukte wie Joghurt, Buttermilch oder Sahne sind oft deutlich über den Termin der Mindesthaltbarkeit hinaus noch absolut in Ordnung.
Anders ist das bei verderblicher Ware wie frischem Hack- oder Geflügelfleisch. Hier muss ein sogenanntes Verbrauchsdatum auf der Verpackung angegeben sein. Die Ware sollte nach diesem Termin tatsächlich nicht mehr auf den Teller kommen, weil Verkeimungsgefahr besteht. Wirklich wegwerfen sollten Verbraucher natürlich verdorbene Lebensmittel, die säuerlich riechen, eine schmierige Oberfläche zeigen oder verfärbt sind. Auch bei Schimmelbildung sollte das Lebensmittel entsorgt werden. Lediglich bei Hartkäse reicht es aus, die sichtbaren Stellen großzügig abzuschneiden.
Das Mindesthaltbarkeitsdatum führt auch im Einzelhandel zu unnötigen Verlusten. Häufig räumen die Marktbetreiber die Ware kurz vor dem Termin schon aus dem Regal. Die Produkthaftung geht dann nämlich vom Hersteller auf den Einzelhandel über. Statt diese Lebensmittel zu entsorgen, könnten sie jedoch mit Hinweis auf die abgelaufene Mindesthaltbarkeit auch günstiger verkauft werden.
Überfluss und Mangel
Schon vor 20 Jahren sind die Gründer der Tafeln angetreten, um gegen die Lebensmittelverschwendung aktiv zu werden. Mittlerweile verstehen sich die gemeinnützigen Vereine als Brücke zwischen Überfluss und Mangel. Denn parallel zu der tonnenweisen Vernichtung von Lebensmitteln gibt es hierzulande eine große Zahl an Menschen, die nicht ausreichend zu essen hat. Inzwischen versorgen bundesweit 900 Tafeln über 1,5 Millionen Bedürftige mit kostenlosen oder sehr günstigen Lebensmitteln, die die Supermärkte aussortierten. Rund 50 000 ehrenamtlichen Helfer sammeln die genießbare Ware ein, sortieren sie und verteilen sie in der Regel an einer Ausgabestelle an Bedürftige. Die große Nachfrage zeigt, dass die in vielen Städten aktiven Vereine eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe übernehmen, ganz ohne Unterstützung von politischer Seite. Aktuell meldet der Bundesverband der Tafeln besorgt, dass sich zusätzlich 200 000 Flüchtlinge in die Schlange der Bedürftigen einreihen. Das bringt die ehrenamtliche Arbeit an ihre Grenzen.
Der Film »Taste the Waste« von Regisseur Valentin Thurn hat entscheidenden Anteil daran, dass das Thema Lebensmittelverschwendung die Bevölkerung erreicht hat. Mit eindrucksvollen Bildern von gewaltige Mengen Brot, die jeden Tag vernichtet werden, und vielen weiteren Beispielen, führte er den Zuschauern 2011 den Unterschied zwischen Überfluss in den reichen Industriegesellschaften und hungernden Menschen in den Entwicklungsländern vor Augen. 2013 rief Thurn die Internetplattform www.foodsharing.de ins Leben. Mehr als 10 000 Menschen sind dort registriert und wollen etwas gegen die Lebensmittelverschwendung unternehmen. Sie holen zum Beispiel aussortierte, aber genießbare Lebensmittel von Unternehmen, Erzeugerbetrieben oder privaten Haushalten ab und geben sie kostenlos weiter.
Mittlerweile haben sich auch zahlreiche unkonventionelle Arten der Lebensmittelrettung etabliert. Nicht normgerechtes Gemüse, das auf dem Acker liegen bleibt, sammeln beispielsweise die Initiatoren von Culinary Misfits ein. Der Begriff steht für die missgebildeten, aber durchaus essbaren Exemplare, die zwei Berlinerinnen verkaufen, einkochen oder als Speisen fürs Catering anbieten. Reste-Restaurants, die nur übrig gebliebene Lebensmittel für ihre Gerichte verwenden, gibt es in Kopenhagen und in Berlin. Kleine, regionale Unternehmen kochen übrig gebliebene Lebensmittelreste ein und verkaufen so bunt zusammengestellte Marmeladen und Chutneys. Eine prima Idee sind auch Brotläden, die Brot vom Vortag vergünstigt abgeben, beispielsweise Second Bäck in Berlin und sogenannte Yesterday- oder Vortags-Brotläden in Mainz, Tübingen und anderswo.
Bewusster essen
Schon Kindern sollte in den Familien und der Schule vermittelt werden, dass Lebensmittel energieintensiv produziert und nicht unbedacht entsorgt werden sollten. Erleben Kinder von klein auf, dass die Familie das Einkaufen, Zubereiten und gemeinsame Essen wichtig nimmt, werden sie einen anderen Blick auf Lebensmittel entwickeln, als wenn nur Fertigpackungen aus der Mikrowelle auf den Tisch kommen.
Für mehr Wertschätzung im Umgang mit Essen kommt es letztendlich darauf an, bewusster zu essen. Wer sich vergegenwärtigt, was er isst, wo es herkommt und welchen Genuss das Essen verspricht, geht achtsamer mit Lebensmitteln um. Der Schritt zu einem überlegten Einkauf mit qualitativ guter Ware, fernab von Massenproduktion und Billigpreisen, führt zum Genuss mit allen Sinnen und mehr Wohlbefinden. Und das Gute: Jeder kann direkt damit anfangen. Wer sich dann noch von einer kreativen Resteküche inspirieren lässt, verringert seine Lebensmittelabfälle bestimmt. /