Immunsystem in Balance |
12.12.2016 11:33 Uhr |
Von Inga Richter / Eine intakte körpereigene Abwehr bewahrt weitgehend vor Erkrankungen. Besonders in Herbst und Winter möchten viele Menschen ihre Abwehrkräfte stärken, um sich vor grippalen Infekten zu schützen. Die beste Prophylaxe ist jedoch nach wie vor eine gesunde Lebensweise.
Tag für Tag kämpfen Heerscharen von Immunzellen gegen Erreger aller Art. »Doch das Immunsystem unspezifisch zu stärken, macht keinen Sinn und ist sogar gefährlich«, sagt Professor Dr. Lothar Rink, Direktor des Instituts für Immunologie an der Universitätsklinik Aachen, im Gespräch mit PTA-Forum. Unser Anspruch auf Gesundheit sei extrem hoch. Dabei seien bei gesunden Erwachsenen zwei bis vier und bei Kindern sogar bis zu acht Erkältungen im Jahr unauffällig und gewissermaßen normal: »Wenn das Immunsystem in Ordnung ist, sollte man es in Ruhe lassen«, so Rink.
Nur ein vernünftig ausbalanciertes Immunsystem ist in der Lage, angemessen auf Bedrohungen zu reagieren. Eine überaktive Abwehr hingegen kann krank machen. Reagiert sie übermäßig auf normalerweise ungefährliche Substanzen wie Pollen oder Hausstaub, entstehen Allergien. Richtet sich eine überschießende Immunantwort gegen körpereigene Zellen oder Gewebe, können Autoimmunkrankheiten die Folge sein: »Stark ist nicht immer gut.« Nur wenn das Immunsystem tatsächlich geschwächt ist, solle man stimulierende Maßnahmen einleiten, empfiehlt Rink.
Mit den Abwehrkräften hat sich im Laufe der Evolution ein System gegen schädliche Erreger entwickelt, welches an Komplexität kaum zu überbieten ist. Bis zu einer gewissen Anzahl an Keimen verhindern Haut und Epithelien eine Infektion. Der erste Angriff erfolgt über die Mechanismen der angeborenen Abwehr. Pro Minute werden beispielsweise etwa 80 Millionen Fresszellen, fachsprachlich neutrophile Granulozyten genannt, im Knochenmark produziert und kreisen daraufhin einige Stunden im Blut. Sie erkennen körperfremde Erreger, nehmen diese in sich auf und zersetzen sie.
»Um die Schleimhäute feucht zu halten und für die Fließfähigkeit des Blutes ist es wichtig, ausreichend zu trinken«, sagt Rink. Empfohlen werden gemeinhin möglichst viel Wasser und Kräutertees. Wenn der Ansturm an Erregern zu hoch ist und sie es schaffen, die angeborenen Barrieren zu durchbrechen, kommt das spezifische (adaptive) Immunsystem ins Spiel. Dieses entwickelt sich im Laufe der frühen Lebensphase durch den Kontakt mit verschiedenen körperfremden Stoffen, die durch ein System aus verschiedenen Lymphozyten gebunden und damit sozusagen im Gedächtnis behalten werden. Bei erneutem Kontakt mit den entsprechenden Oberflächenstrukturen können die Lymphozyten binnen kürzester Zeit massenhaft spezifische Antikörper bilden, welche wiederum die Antigene binden und unschädlich machen. Sämtliche Elemente beider Systeme arbeiten kontinuierlich zusammen und damit auch die Gewebe, Organe und Körperflüssigkeiten, in denen sie produziert und durch die sie im Körper verteilt werden. Viele Faktoren sind erforscht, jedoch längst noch nicht alle.
Probleme im Winter
Warum dieses ausgefeilte System in der kalten Jahreszeit schlechter funktioniert, dafür gibt es eine einfache Erklärung mit vielen Folgen: »Wir sitzen zuviel in der warmen Stube.« Durch die Heizungsluft trocknen einerseits die Schleimhäute aus, und ohne entsprechende Flüssigkeitszufuhr dickt das Blut ein. Zudem funktioniert im Sitzen der Transport der Immunzellen zwischen Blutbahnen, Geweben, Lymphbahnen und Lymphknoten nur mit Einschränkungen. »In den Lymphknoten vermehren sich die weißen Blutkörperchen und werden durch Muskelarbeit förmlich in den Kreislauf zurückgequetscht«, erklärt Rink.
Ohne Bewegung verlangsamen sich diese Abläufe, die Lymphknoten schwellen an: Ein spürbar erstes Anzeichen für eine aufkeimende Infektion, die nicht ausreichend bekämpft werden kann. Zum Dritten bildet der Organismus zu wenig Vitamin D, welches für die Reifung der Fresszellen mitverantwortlich ist. Im Sommer reiche für eine ausreichende Produktion etwa eine halbe Stunde Aufenthalt im Freien, im Winter müsse es wegen des diffuseren Tageslichtes etwas länger sein, informiert Rink. Zwar lässt sich aktives Vitamin D3 auch über die Ernährung zuführen, allerdings in nennenswerten Mengen allein über Fisch.
Ersetzen, was fehlt
Neben Vitamin D gibt es laut Informationen der Harvard Medical School* manche Nachweise, dass der Mangel an gewissen Mikronährstoffen wie beispielsweise Zink, Selen, Eisen, Kupfer, Folsäure, Vitamin A, B6, C und E die Immunantwort verändern. Bei Verdacht auf ein geschwächtes Immunsystem durch mögliche Ernährungsmängel empfehlen die Verfasser hochwertige Ergänzungspräparate, die allerdings mit Bedacht und skeptisch eingesetzt werden sollten. Niemand wisse, in welchem Ausmaß die Immunzellen Unterstützung benötigen und welche Nährstoffe genau auf welche Zellen wirken. »Im Winter ernähren wir uns einseitiger«, sagt der Aachener Experte. Man müsse auch jetzt auf eine ausgewogene Ernährung mit vielen frischen Früchten, Gemüse, Fleisch und Fisch achten.
Die Nährstoffe aus den Lebensmitteln aufzuschließen, ist zum großen Teil die Aufgabe des Mikrobioms im Darm. Geschätzte 100 Billionen Bakterien aus mehr als 1000 verschiedenen Arten besiedeln unseren Darm. Darunter gibt es »gute« und »schlechte«: Die guten Bakterien zersetzen und verdauen die Nahrungsfasern, produzieren Vitamine und helfen durch die Stimulation von Immunzellen, den Körper vor ihren krankheitserregenden Verwandten zu schützen. Die schädlichen Mikroben führen zu Fäulnis- und Gasbildung, bewirken Entzündungen und Infektionen. Ist das Gleichgewicht der guten und schlechten Keime durch einen Mangel an gewissen Nährstoffen gestört, können daraus vielfältige Erkrankungen erwachsen.
Immunsystem unter Stress
»Auch die Psyche hat einen direkten Einfluss auf das Immunsystem«, sagt Rink. Ob nun physischer oder psychischer Stress sei egal. In jedem Fall werden Stresshormone wie Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin ausgeschüttet, die ihrerseits wiederum viele weitere Botenstoffe aktivieren. Diese treiben Blutdruck und Herzschlag in die Höhe, damit bei Gefahren schnellere Reaktionen möglich sind: Zu Urzeiten war es überlebenswichtig, bei einer Konfrontation mit dem viel zitierten Säbelzahntiger schnell rennen oder kämpfen zu können. Für den letzteren Fall veranlassen die Botenstoffe ebenfalls, dass Immunzellen ins Gewebe wandern, um dort mögliche Wunden zu beheben und Entzündungen als Abwehr gegen Krankheitserreger zu verursachen.
Dieses ausgefeilte System ist dafür angelegt, kurzfristige Angriffssituationen zu meistern. Doch solche bestehen heutzutage kaum mehr. Dafür aber leben viele Menschen mit nahezu dauerhaft stressenden Gefühlszuständen wie Ärger, Ängsten, Sorgen oder Depressionen. »Somit ist das Immunsystem ständig aktiviert und ohne Ruhepause«, erläutert Rink. Werde es dann wirklich gebraucht, könne es die erforderliche Leistung gegen Krankheitserreger nicht bringen, verursache aber im Gegenzug chronisch entzündliche Prozesse.
Zum Stressabbau werden daher häufig Maßnahmen wie etwa Yoga oder Autogenes Training empfohlen. Der Entspannung und dem psychischen Wohlbefinden dienen ebenfalls regelmäßige Bewegung sowie mindestens sechs bis acht Stunden Schlaf pro Nacht.
Hygiene mit Augenmaß
Hygiene kann helfen, den Krankheitserregern das Eindringen zu erschweren. Das »Händewaschen nach der Türklinke« sei deshalb Pflicht, weil wir uns am Tag so häufig ins Gesicht fassen, erklärt der Experte. Über die Hände können die Erreger nicht in den Körper gelangen, wohl aber über Nase, Augen und Mund. Rink spricht von »vernünftigen Hygienemaßnahmen«.
Angeborene Immunabwehr:
Spezifische Immunabwehr:
Viel diskutiert wird die »Hygiene-Hypothese« von David Strachan (1989), nach der übertriebene Hygienemaßnahmen im Haushalt mit entsprechenden antimikrobiellen Mitteln die körperlichen Abwehrmaßnahmen schwächen. Viele Forscher machen das heutzutage vielfach sterile Umfeld von Kindern und deren seltenere Kontakte mit Geschwister- oder Hortkindern für den Anstieg an Allergien und Autoimmunerkrankungen in den industrialisierten Ländern verantwortlich. Als Grund wird angenommen, dass die Konfrontation mit Erregern jeglicher Art das Immunsystem trainiert, ähnlich wie es die Muskeln bei sportlicher Betätigung tun.
Der so genannte Bauernhof-Effekt ist unbestritten. Durch entsprechende Vergleiche ist längst bekannt, dass Menschen, die auf einem Bauernhof oder auch in der ehemaligen DDR aufwuchsen, wesentlich seltener an Allergien oder Atopien erkranken als jene, die in westdeutschen Stadtgebieten und somit in reinlichen Wohnungen groß wurden. Demnach scheint das Lebensumfeld größeren Einfluss auf die Entwicklung und das Training des Immunsystems zu haben als der frühkindliche Kontakt mit vielen anderen Menschen.
Das Immunsystem trainieren sollen auch gewisse Aktivitäten zur Abhärtung des Körpers. »Es gibt keine einzige wissenschaftliche Untersuchung, die belegt, dass das so genannte Abhärten einen Einfluss auf das Immunsystem hat«, sagt Rink. Dennoch gelten regelmäßige Saunabesuche oder Wechselduschen insofern als förderlich als dass sie die Thermoregulation des Körpers sowie die Modulationsfähigkeit der Gefäße anregen und sich damit positiv auf das Herz-Kreislauf-System auswirken. Manche Untersuchungen ergaben eine erhöhte Anzahl an Leukozyten nach dem Saunabesuch. Allerdings ist dabei nicht mit einbezogen worden, dass durch das Schwitzen das Blut kurzfristig eindickt und sich somit das Verhältnis der zellulären Bestandteile zum Plasma verändert.
Auch wenn konkrete wissenschaftliche Nachweise für manche Ratschläge fehlen mögen: »Alles, was der physiologischen Gesundheit gut tut«, so der Experte, »tut auch dem Immunsystem gut.« /
Quelle: Harvard Medical School (modifiziert und erweitert)