Bauchweh durch Regulationsstörung |
Auch der Sohn unserer Autorin war ein Schreibaby. Blähungen steckten nicht dahinter. Geholfen haben viel Körperkontakt und Reizabschirmung – und letztlich die Zeit. / Foto: Miriam Castle-Weiss Fotografie
Schreit das Baby, sind Eltern in Alarmbereitschaft: Ist die Windel voll? Hat es Hunger? Muss es ein Bäuerchen machen? Manchmal hilft nichts, und der Nachwuchs lässt sich einfach nicht beruhigen. Viele Eltern fürchten, dass Schmerzen dahinterstecken könnten. Doch die Bezeichnung »Dreimonatskoliken« ist irreführend. Zwar haben sogenannte Schreibabys tatsächlich oft einen aufgeblähten Bauch. Blähungen treten jedoch als Folge des Schreiens auf, weil das Baby dabei hastig große Mengen Luft verschluckt, und nicht als Urheber. Ursächlich dahinter steckt eine Regulationsstörung.
Betroffene Säuglinge können sich kaum selbst beruhigen und häufig nur schwer an Veränderungen anpassen. Dabei bringt das Kind bestimmte Faktoren mit: Unreife, ein leicht irritables Temperament oder ein hohes Aktivitäts- und Erregegungsniveau. Selbst Eltern, die Bedürfnisse und Müdigkeit ihres Kindes schnell erkennen, angemessen darauf reagieren und auf Reizabschirmung achten, kommen so an ihre Grenzen. Denn Babys mit einer Regulationsproblematik sind einfach schwieriger zu beruhigen.
Schreibabys erfüllen die »Dreier-Regel«: Mindestens drei Stunden Schreien pro Tag an wenigstens drei Tagen pro Woche über mindestens drei Wochen. Oft beginnt das Schreien in der zweiten Lebenswoche und steigert sich mit Höhepunkt im Alter von etwa sechs Wochen. Rund 15 bis 30 Prozent der Kinder haben dieses exzessive Schreien in den ersten drei Monaten. Entscheidend ist nicht die tatsächliche Schreidauer, sondern der Leidensdruck der betroffenen Familie.
Für den Alltag helfen einige grundlegende Maßnahmen. Es ist sehr wichtig zu vermeiden, dass das Kind übermüdet ist. Dafür müssen Eltern ihr Kind viel öfter hinlegen, als es Müdigkeit anzeigt, also bereits nach einer bis anderthalb Stunden Wachzeit. Eltern sollten probieren, einen regelmäßigen Schlaf-Wach-Rhythmus anzubahnen, dem Tag Struktur zu geben und ein reizarmes Umfeld zu schaffen.
Was in der konkreten Schreisituation hilft, dafür gibt es kein Patentrezept. Denn Säuglinge und Kleinkinder müssen die Selbstregulation ihrer Gefühle erst lernen. Bis sie dies können, sind sie auf die Beruhigungshilfe von außen angewiesen (»Co-Regulation«). Ablenkung wie ein Bad, Wickeln oder Wippen auf einem Gummiball durchbricht zwar manchmal das Schreien, kann jedoch zusätzlich überreizen. Stattdessen helfen sanftes Wiegen auf dem Arm sowie Spazieren mit dem Kinderwagen oder im Tragetuch.
Um das Schreien besser auszublenden und bei sich zu bleiben, haben sich auch Ohrenstöpsel oder Singen bewährt. Denn je ruhiger die Eltern selbst bleiben, desto besser können sie ihren Nachwuchs beruhigen. Idealerweise wechseln sie sich ab. So bleibt beiden Partnern die nötige Kraft, um für ihr Kind da zu sein. Keinesfalls sollten sie jedoch alle fünf Minuten etwas Neues probieren oder das Baby hin- und herreichen, sondern sich für eine Beruhigungsstrategie entscheiden und zunächst dabeibleiben.
Oft hilft Eltern das Wissen, dass für ihr Kind der Übergang vom wachen Zustand in den Schlaf mit Schreien verbunden ist und deshalb die Stunden am späten Nachmittag und Abend so anstrengend werden. Sie müssen es dabei zwar begleiten, nicht aber durch aufwendige Aktionen beruhigen.
Doch ab und zu sind Eltern so erschöpft, dass sie kurz davor sind, es zu schütteln. Dann müssen sie ihr Kind schleunigst in Sicherheit legen, zum Beispiel in das Gitterbettchen, und rausgehen, um erst einmal tief durchzuatmen. Sie sollten sich dafür wirklich einige Minuten Zeit nehmen und erst zurückkommen, wenn sie sich beruhigt haben. Schuld- oder Versagensgefühle, das Kind allein schreien zu lassen, sind dabei völlig fehl am Platz. Es ist hingegen essenziell, auf die eigenen Grenzen zu achten und immer wieder Entlastung im Alltag zu finden.
Zum Ende des dritten Lebensmonats endet das Schreien oft so abrupt, wie es begonnen hat. Nur bei etwa 8 % geht es über den dritten Monat hinaus. Diesen Kindern bereiten meist auch andere Entwicklungsaufgaben mehr Schwierigkeiten, etwa Schlafen sowie Füttern. Fühlen sich junge Eltern durch das Schreien belastet, ist der erste Ansprechpartner der Kinderarzt. Er kann körperliche Gründe für das Schreien ausschließen und an spezialisierte Einrichtungen weiterverweisen. Beratungsstellen wie Schreiambulanzen helfen Eltern, mit diesen Herausforderungen umzugehen und verständliche negative Gefühle und Selbstzweifel zu überwinden. Oft arbeiten dabei Ärzte und Psychologen Hand in Hand.
Eltern zögern besser nicht zu lange: Wenn Betroffene schon in der dritten, vierten Woche Hilfe holen, haben sich ungünstige Interaktionsmuster noch nicht verfestigt und man kommt schneller aus dem Teufelskreis heraus. Oft verbessern schon wenige Gespräche die Situation merklich. Dies spielt auch präventiv eine Rolle. Denn werden Eltern durch das Schlafdefizit und Schreien so erschöpft und frustriert, dass vorwiegend nur noch negative Interaktionen stattfinden, leidet am Ende die Eltern-Kind-Bindung.
Allerdings dürfen sich Eltern nicht zu sehr über die Zukunft sorgen. Legen sie den Fokus auf die schönen Momente, gelingt eine bessere Interaktion zwischen Eltern und Kind. Das spendet Kraft, um auch schwierige Situationen besser zu meistern. Daher wirken sich Interaktionsangebote wie Babymassage oder Prager Eltern-Kind-Programm langfristig positiv aus, indem sie die Eltern-Kind-Bindung fördern. Fürchten Eltern, dass ihr Nachwuchs durch Blähungen zusätzlich geplagt wird, können aber durchaus Simeticon-haltige Tropfen oder Kümmelöl in Form von Zäpfchen oder einer Windsalbe empfohlen werden.