Beim Klimawandel sind auch Gesundheitsberufe gefragt |
Die Gesundheit und Zukunft der nachfolgenden Generation wird ganz entscheidend von der Bewältigung der Klimakrise abhängen. / Foto: Getty Images/Alistair Berg
»Die Heilberufe müssen vermehrt nicht nur über die Notwendigkeit eines planetaren Gesundheitsverständnisses aufklären und informieren, sondern zudem Kommunikationsmöglichkeiten schaffen, die Gefühle wie Verzweiflung, Scham, Schuld und Trauer zulassen«, so Nikendei. »Erst die Möglichkeit, diese Affekte offen zur Sprache zu bringen, löst Individuen aus ihren emotionalen Schutzmechanismen und bringt sie zum Handeln«, betonte der Psychotraumatologe und fordert eine adäquate Klimakommunikation und -edukation.
Diesbezüglich komme den Heilberufen eine zentrale Rolle zu. Denn eines sei gewiss: »Der Klimawandel wird sich immer mehr auch im medizinischen und therapeutischen Raum abzeichnen.« »Geopolitische Spannungen und die schockierende Wirklichkeit von Flucht und Krieg werden Angst, Ambivalenzen und Depressionen produzieren und verstärkt Patienten mit psychischen und psychosomatischen Störungen in die Praxen führen«, so Nikendeis Prognose.
»Alpengletscher schmelzen, Hitzewellen und Buschbrände treten vermehrt auf, der Meeresspiegel steigt, Ernteausfälle, Hungertod und Massenflucht in unbekanntem Ausmaß nehmen zu. Die wissenschaftliche Evidenz der Folgen der Klimakrise ist bereits jetzt erdrückend«, machte der Mediziner im weiteren Verlauf seiner Ausführungen deutlich. Dennoch löse die sich abzeichnende globale Krise keinen kollektiven Alarm und keine angemessenen Reaktionen aus.
»Mechanismen wie Profitmaximierung und fehlende technische Lösungen allein erklären diese Nach-uns-die-Sintflut-Haltung nicht«, so der Mediziner. Der für die globale und individuelle Gesundheit schädliche Nihilismus sei aus Sicht der Psychosomatik nur durch die seelische Abwehr unerträglicher Emotionen und den Versuch der psychischen Entlastung durch kognitive Verzerrung, Projektion und Dissoziation zu erklären.
»Die Klimakrise ruft tiefgreifende Gefühle von Schuld, Scham und Verzweiflung hervor – Schuldgefühle aufgrund der eigenen Mitverantwortung, Scham über die leidvollen Konsequenzen für unsere Kinder, Verzweiflung darüber, dass sich die Ergebnisse des Hyperkonsums und der Entgrenzung nicht einfach umkehren lassen«. Die Empfindungen seien so unerträglich, dass sie aus dem Bewusstsein verbannt werden müssten. »Dabei helfen Strategien der Verleugnung und Dissoziation«, so Nikendei.
»Diese Strategien führen dazu, dass selbst umweltbewusste Menschen kurze Strecken mit dem Auto fahren, weil es bequemer ist, oder ein neues Smart-Phone kaufen, obwohl sich das alte reparieren ließe. Sie ermöglichen es anderen, den Fleischkonsum zu reduzieren, sich jedoch regelmäßig auf einen Langstreckenflug in den Urlaub zu begeben«, so der Mediziner. Er sprach von Phänomenen wie »kollektiver Wahrnehmungsverzerrung, Verdrängung, Selbsttäuschung und unangemessenen Sorglosigkeit«, die zu weiteren Lasten der Umwelt gehen und die Entwicklungen noch zusätzlich beschleunigen.
Es sei für den Menschen offenbar leichter, die Bedrohung der physischen Existenz tatenlos hinzunehmen als der Wahrheit ins Gesicht zu sehen und aktiv zu werden. Jedoch werde die Gesundheit und Zukunft der nachfolgenden Generation ganz entscheidend von der Bewältigung der Klimakrise abhängen. Mehr denn je gehe es für alle darum, der Angst ins Auge zu schauen.
»Es bleiben uns nur noch wenige Jahre, um die drohenden Gefahren für den Globus und für die Menschen signifikant abzuschwächen«, warnte Nikendei, der mehr »Bewusstwerdung« und gezielte Aktivitäten im Rahmen des Medizin- und Gesundheitswesens nicht zuletzt in Form entsprechender Aus-, Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen sowie verstärkter Aufklärungs- und Informationskampagnen forderte. Wenngleich es im Moment noch unvorstellbar scheine: »Die gesellschaftlichen, psychosozialen und gesundheitlichen Schwierigkeiten und Probleme, die im Kontext der Erderwärmung auf uns zukommen, werden die der aktuellen Pandemie weit in den Schatten stellen.«
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