Chronische Erschöpfung nach Covid-19? |
Mittlerweile zeichnet sich ab, dass sich viele Menschen noch Wochen nach einer Infektion mit Covid-19 über die Maßen erschöpft fühlen. / Foto: Adobe Stock/sebra
Beim 30-jährigen Simon S. führte SARS-CoV-2 nur zu leichten, grippeähnlichen Beschwerden. Ein milder Verlauf mit Fieber und Husten als Leitsymptomen tritt laut Daten der Weltgesundheitsorganisation WHO bei circa 80 Prozent aller Patienten auf. Simon hatte keine Vorerkrankungen und gehörte nicht zu den klassischen Risikogruppen. Seine Beschwerden besserten sich rasch, und der PCR-Test fiel negativ aus. Doch bald darauf verschlechterte sich sein Gesundheitszustand wieder. Er musste zurück zu seinen Eltern ziehen, weil er seinen Alltag nicht mehr bewältigen konnte. Der Fallbericht zeigt: Nach Abklingen der Infektion sind viele Patienten noch lange nicht gesund.
Simon ist kein Einzelfall: Mehr und mehr ehemalige SARS-CoV-Infizierte berichten in Webforen oder Facebook-Gruppen über extreme Erschöpfung. Vermutlich handelt es sich um eine postinfektiöse Fatigue. Das Phänomen ist bekannt, etwa von Patienten mit Influenza. Man findet bei ihnen keine Viren mehr im Blut. Auch Röntgen- oder CT-Untersuchungen verlaufen ergebnislos. Extreme Müdigkeit und Erschöpfung zählen zu den wichtigsten Beschwerden.
Die post-infektiöse Fatigue dauert meist ein bis zwei Wochen, im Extremfall aber auch bis zu fünf Monaten. Sie ist Teil des normalen Regenerationsprozesses. Erst nach sechs Monaten sollte man vom Chronischen Fatigue-Syndrom (CFS) sprechen. Ob SARS-CoV-2-Infektionen auch zum CFS führen, weiß man nicht. Derartige Sorgen sind aber nicht von der Hand zu weisen. Virologen berichten über Erfahrungswerte, die sie während früherer Ausbrüche anderer Corona-Viren sammeln konnten.
Beispielsweise infizierten sich 2003 in Toronto 273 Menschen mit dem SARS-1-Virus. In der Kohorte starben 44 Personen. Die Überlebenden wurden auch nach ihrer Erkrankung in größeren Abständen medizinisch untersucht. Noch drei Jahre später litt jeder Zehnte unter den typischen CFS-Symptomen. Betroffene, darunter waren einige Angestellte im Gesundheitswesen, konnten teilweise nicht mehr arbeiten. Sie berichteten von Müdigkeit, Muskelschwäche, Depressionen und Schlafstörungen. Zu ähnlichen Beschwerden haben MERS-Infektionen geführt. MERS (Middle East Respiratory Syndrome) wird ebenfalls durch ein Coronavirus ausgelöst.
Anhand dieser historischen Aufzeichnungen haben US-Forscher eine Prognose gewagt. Daten zu SARS-CoV-2 kamen von den US Centers for Disease Control and Prevention (CDC). Die Simulation basiert auf etlichen Annahmen und ist sicher mit großen Fehlern behaftet. Lassen sich Ergebnisse aus SARS-Zeiten übertragen, würde das jedoch im Jahr 2020 zu 400.000 bis 3,6 Millionen Menschen mit CFS-ähnlichen Symptomen führen. Zwei Jahre nach der SARS-SoV-2-Pandemie gäbe es immer noch 175.000 bis 1,5 Millionen Betroffene.
In Deutschland haben sich bis Redaktionsschluss knapp 200.000 Menschen mit SARS-CoV-2 infiziert, etwas mehr als 9.100 sind gestorben, und knapp 183.000 haben sich wieder erholt. Mit einigen zehntausend neuen CFS-Patienten wäre auch bei uns zu rechnen, doch wissenschaftliche Fragen bleiben offen.
»Wir benötigen bei Covid-19-Erkrankten eine Nachverfolgung über die nächsten 24 Monate«, sagt Nicole Krüger, Vorsitzende der Lost Voices Stiftung, in einer Pressemeldung. »Es gibt Hinweise, dass die ersten drei Jahre eine Schlüsselrolle bei einer möglichen Chronifizierung spielen.« Die Lost Voices Stiftung engagiert sich für Menschen mit CFS. In der Corona-Pandemie sehen sie eine Chance, Prozesse hinter der enormen Müdigkeit besser zu verstehen. Bisher weiß man, dass virale oder bakterielle Infekte CFS triggern können. Forscher diskutieren immunologische, endotheliale und metabolische Anomalien als Erklärung.
Bekanntlich kann SARS-CoV-2 zu schweren Lungenentzündungen führen. Patienten erhalten Sauerstoff oder werden künstlich beatmet. Nach der Besserung ihrer Beschwerden verlassen sie die Intensivstation und einige Wochen später auch das Krankenhaus.
»CT-Bilder der Lungen von genesenen COVID-19-Patienten legen nahe, dass viele von ihnen nicht wirklich gesund sind, sondern als Folge der Infektion mehr oder weniger starke Lungenschäden aufweisen«, sagt Professor Dr. med. Andreas Rembert Koczulla in einer Pressemeldung. Er ist Chefarzt des Fachbereichs Pneumologie der Schön Klinik Berchtesgadener Land. Man müsse davon ausgehen, dass selbst nach Ende der Akutphase der Gasaustausch der Lunge langfristig beeinträchtigt sei. Dies könne Koczulla zufolge auch Patienten betreffen, die im Krankenhaus nicht beatmet worden seien: eine weitere Erklärung für starke Müdigkeit.
Forscher aus dem französischen Strasbourg warnen, nur an die Lunge zu denken. In der Fachzeitschrift »New England Journal of Medicine« berichten sie über Nierenstörungen bei COVID-19-Patienten. Teilweise mussten Dialysen durchgeführt werden. Auch zu Entgleisungen des Blutzuckers ist es mitunter gekommen. Solche Beschwerden normalisierten sich oft wieder, blieben mitunter aber auch bestehen. US-amerikanische Ärzte berichten auf Plattformen auch von Übelkeit und Erbrechen – hier handelte es sich ebenfalls um eine bislang unbekannte Symptomatik der SARS-CoV-2-Infektion.
Zum Hintergrund: Heute weiß man, dass SARS-CoV-2-Viren über den ACE2-Rezeptor in Zellen eindringen. Diese Bindungsstelle ist nicht nur auf Lungenzellen, sondern auf etlichen Zelltypen im Körper zu finden. Deshalb gehen Forscher davon aus, dass die neuartigen Coronaviren etliche Organsysteme befallen. Bei der Autopsie von Todesfällen vor einigen Jahren, damals zirkulierte das SARS-1-Virus, hat man bereits gesehen, dass etliche andere Organe beteiligt waren.
Auch die Blutgerinnung wird durch SARS-CoV-2 in Mitleidenschaft gezogen, wie Ärzte in der Fachzeitschrift »Annals of Internal Medicine« berichten. Erste Hinweise kamen aus einer Studie mit zwölf Personen, die an COVID-19 gestorben waren. Sie waren im Mittel 73 Jahre alt und hatten häufig Vorerkrankungen. Genannt werden Asthma, die chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (COPD), aber auch die koronare Herzkrankheit. Bei sieben Obduktionen fanden Pathologen tiefe Venenthrombosen, ohne dass es einen Verdacht darauf gegeben hätte. Und bei vier Patienten waren Lungenembolien selbst die Todesursache.
Dass virale Infektionen die Blutgerinnung stören, kennt man von Infektionen mit Ebola- oder Dengue-Viren. Wissenschaftler erklären das anhand endothelialer Dysfunktionen, also Funktionsstörungen der Gefäßinnenhaut, oder aufgrund einer direkten Aktivierung der Gerinnungskaskade aufgrund der Entzündung. Jetzt stoßen sie bei SARS-CoV-2 auf ähnliche Befunde. Aspekte der Antikoagulation werden in der S1-Leitlinie zur intensivmedizinischen Therapie von Patienten mit COVID-19 berücksichtigt. Wie lange Patienten solche Medikamente benötigen, ist unklar. Ihre Gerinnungsparameter werden jedenfalls auch nach Ende des Aufenthalts auf der Intensivstation erfasst.
Forscher sehen noch andere Gefahren durch Coronaviren. Meldungen kommen derzeit aus vielen Ländern, etwa von Marc S. (39), der in London behandelt worden ist. Er entwickelte nach der Genesung eine Psychose. Britische Ärzte haben systematisch nach Fallberichten gesucht und diese in der Fachzeitschrift »Lancet Psychiatry« veröffentlicht. Ihre Studie umfasst 125 Patienten aus dem Vereinigten Königreich, die vom 2. bis 26. April 2020 stationär behandelt worden waren. Sie waren im Mittel 71 Jahre alt.
62 Prozent von ihnen hatten zerebrovaskuläre Ereignisse. Meist handelte es sich um Schlaganfälle (82 Prozent). Die Betroffenen waren mindestens 60 Jahre alt. Eine weitere Erkenntnis kam deutlich überraschender: 31 Prozent aller Patienten zeigten psychiatrische Symptome. Dazu zählten Psychosen, Änderungen im Verhalten, Verwirrung, Demenz und Depressionen. Auffällig war, dass 92 Prozent zuvor keine psychiatrische Diagnose gehabt hatten. In der Gruppe waren mit 49 Prozent viele jüngere Patienten zu finden. Ob Ärzte diese früher als ältere Patienten zum Psychiater geschickt haben, wie die Autoren spekulieren, ist unklar.
Zuvor hatte die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) bereits von Daten aus dem chinesischen Wuhan berichtet. 40 von 88 Patienten mit schweren COVID-19-Verläufen hatten neurologische Symptome. Allein fünf von ihnen erlitten einen Schlaganfall. Alle Daten zeigen bislang, dass auch Neurologen und Psychiater bei COVID-19 einzubeziehen sind – sowohl während der akuten Infektion als auch danach.
Coronaviren lösten bereits 2002 eine Pandemie aus: SARS. Ende 2019 ist in der ostchinesischen Millionenstadt Wuhan eine weitere Variante aufgetreten: SARS-CoV-2, der Auslöser der neuen Lungenerkrankung Covid-19. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronaviren.