Das erste Jahr nach dem Schlaganfall zählt |
Schlaganfall-Patienten müssen vieles wieder neu lernen. Besonders wichtig ist die Therapie im ersten Jahr nach dem Hirnschlag. / Foto: Adobe Stock/Viacheslav Iakobchuk
»Ich vergleiche einen Schlaganfall mit einem Erdbeben: Beide kommen plötzlich, wirken innerhalb von zehn Sekunden teils enorm zerstörend, und es braucht meist sehr lange, um den angerichteten Schaden zu reparieren«, sagt Gruhn gegenüber PTA-Forum. Der Physiotherapeut weiß, wovon er spricht: Seit knapp 30 Jahren begleitet er, spezialisiert auf die Bedürfnisse nach einem Schlaganfall, Patienten ambulant und bei Hausbesuchen. Dieses spezielle Therapiekonzept nach Bobath lehrt er selbst inzwischen andere Physio- und Ergotherapeuten und bildet sie damit zu Neurofachtherapeuten für Schlaganfallpatienten aus. Die Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe würdigte Gruhns Engagement für Schlaganfall-Patienten 2022 mit ihrem Motivationspreis. Sein Wissen hat Gruhn mit Co-Autor Niklas Schaab jetzt in dem Ratgeber »Neustart nach dem Schlaganfall – Was im ersten Jahr wichtig ist« gebündelt.
»Schlaganfall-Patienten werden auf den Stroke-Units in Deutschland sehr gut versorgt. Bei der nachfolgenden klinischen Rehabilitation ist noch sehr viel Luft nach oben. Was ich aber besonders bemängele, ist die gegenwärtige ambulante Versorgung dieser Patienten nach ihrer Entlassung aus der klinischen Reha«, sagt Gruhn. Da setzt das Buch an, denn aus der Neuroforschung ist bekannt, dass sich das Gehirn besonders im ersten Jahr nach einem Schlaganfall verändern und verbessern kann. Daher sollten Betroffene genau dieses Zeitfenster für eine gezielte Neuro-Rehabilitation nutzen.
Was einfach und logisch klingt, erweist sich in der praktischen Umsetzung jedoch als schwierig: Die Angehörigen sind mit der neuen Situation oft alleingelassen und völlig überfordert. Hinzu kommt, dass nicht jeder Schlaganfall-Patient auf Angehörige oder Freunde zurückgreifen kann, die sich um ihn kümmern. Auch im Idealfall »Angehöriger kümmert sich« werden die Patienten oft ausgebremst: »Sie wollen einen Physio- oder Ergotherapie-Termin? Den nächsten freien haben wir in circa acht Wochen.« »Was, noch mehr Krankengymnastik? Möglich sind aber nur maximal 20 Minuten einmal wöchentlich!«
»Wir mussten die bittere Erfahrung machen, dass wir für jede Hilfe außerhalb der Familie kämpfen mussten«, lässt Gruhn eine Angehörige in seinem Buch zu Wort kommen. Seine Tipps: Sich bereits kurz nach der Diagnose über das Krankheitsbild Schlaganfall und die Therapiemöglichkeiten informieren. Sich zügig um einen Reha-Platz und während der Patient in der Reha ist um ambulante Physio-, Ergo- oder Logopädietermine kümmern. Am besten bei Behandlern mit der Spezialisierung auf neurophysiologische Therapie und bei solchen, die interprofessionell zusammenarbeiten und den individuellen Bedürfnissen des Patienten entsprechend an und mit ihm arbeiten. Auch wichtig: Auf einen ausführlichen Entlassungsbericht aus der Reha mit Therapieempfehlung für den Hausarzt pochen.
Was viele Hausärzte und Betroffene laut Gruhn nicht wissen: Der Hausarzt kann einem Patienten im ersten Jahr nach seinem Schlaganfall bis zu fünfmal Ergo- und Physiotherapie verordnen, solange er das Gefühl hat, dass es dem Patienten hilft.
Es gibt unheimlich viel Potenzial aufzuwecken, gerade auch um zu verhindern, dass sich Gelenke aufgrund von Fehl- oder ausbleibender Bewegung versteifen, was mit Folgeproblemen für den Betroffenen und viel höheren Folgekosten für das Gesundheitssystem verbunden ist als eine intensive Therapie kurz nach dem Schlaganfall«, so Gruhn. Daher sollten sich Angehörige nicht von Ärzten oder Krankenkassen abwimmeln lassen. Im Gegenteil: Sie müssten »lernen, zu drängeln«.
Gruhn empfiehlt eine intensive Therapiephase für vier bis acht Wochen: je zwei bis vier Behandlungen Physio- und Ergotherapie für je 50 bis 60 Minuten pro Woche (am besten neurophysiologische Therapie) im zweiten und dritten Monat nach einem Schlaganfall. Zusätzlich sollten die Betroffenen täglich zu Hause Übungen machen und bei Bedarf logopädische Hilfe in Anspruch nehmen. Die neurophysiologische Therapie fördere die Wahrnehmung, sei spannungsregulierend, mache aktiver und sei prinzipiell nicht anstrengend. Dennoch sei es wichtig, auf Zeichen von Überlastung zu achten und regelmäßig Pausen einzulegen.
»Diese intensive Therapiephase zielt darauf ab, den Alltag wieder so eigenständig und frei wie möglich gestalten zu können«, sagt Gruhn. Die Behandlung könne man anschließend ausschleichen lassen, sie könne in den Folgejahren jedoch ein- bis zweimal jährlich für eine Woche je nach Bedarf durchgeführt werden.
Gruhn hat auch die Angehörigen von Schlaganfall-Patienten im Blick: Mit Beginn der Diagnose Schlaganfall sind sie extrem gefordert, körperlich und seelisch, und das über längere Zeit. »Ich rate jedem Angehörigen, sich selbst Hilfe zu holen, etwa weitere Familienmitglieder, Freunde oder professionelle Hilfsdienste.« Das neue Leben nach einem Schlaganfall sollten möglichst viele Schultern tragen. Wichtig für die Angehörigen sei, auch die eigenen Interessen im Blick zu behalten, sich Freiräume zu schaffen für ein eigenes zufriedenes Leben, was »eine absolute Herausforderung sein kann«.
Neben praktischen Tipps und vielen Checklisten zur Therapie und Organisation vermittelt das Buch dem Leser aber auch vor allem durch Schilderungen von Fallbeispielen ein Gefühl von Verständnis für den teilweise sehr langen Weg nach einem Schlaganfall zurück ins möglichst aktive Leben. Und dass dieses Leben wahrscheinlich nicht mehr so sein wird wie das frühere. Aber dass es vor allem auf einen selbst ankommt, die neue Situation anzunehmen und das Beste daraus zu machen, um letztendlich glücklich zu sein und mit sich im inneren Frieden zu leben. »Dabei helfen selbst gesteckte Ziele ungemein«, sagt Gruhn.
Manchmal aber, und auch das muss angenommen werden, macht der Betroffene trotz eifrigstem Bemühen keine Fortschritte, und manchmal ist die Zeit für die Familie gekommen, den Schlaganfallpatienten gehen zu lassen. Im Ganzen strahlt das Buch jedoch Mut, Hoffnung und Neugier zur Neuorientierung des Lebens nach einem Schlaganfall aus.