Das Klingeln im Ohr |
Dauerhafte Ohrgeräusche können Betroffene stark belasten. / © Adobe Stock/Prostock-studio
Ein ständiges Rauschen, Pfeifen oder Klingeln im Ohr – Tinnitus betrifft laut einer aktuellen europäischen Studie fast 15 Prozent der Erwachsenen. Besonders im Alter und bei nachlassendem Gehör steigt das Risiko, an Tinnitus zu erkranken. Doch auch Jugendliche sind zunehmend gefährdet, etwa durch lautes Musikhören.
Beim Tinnitus, auch Tinnitus aurium genannt, nehmen Betroffene Geräusche wahr, obwohl keine äußere Schallquelle vorhanden ist. Diese können sich als Pfeifen, Piepen, Rauschen oder Zischen äußern. Manche hören sie nur auf einem Ohr, andere auf beiden Seiten oder diffus »im Kopf«. Auch Lautstärke und Dauer variieren individuell. Die Ohrgeräusche können dauerhaft oder nur gelegentlich auftreten, manchmal auch als rhythmisches Pochen synchron zum Puls.
Beim objektiven Tinnitus hören Betroffene Geräusche, die ihr Körper selbst erzeugt – zum Beispiel durch Gefäße oder Muskeln im oder in der Nähe des Ohres. Ein subjektiver Tinnitus, unter dem die Mehrheit der Betroffenen leidet, hingegen entsteht ohne äußere oder körperliche Schallquelle und ist nur für den Betroffenen hörbar. Während viele die Ohrgeräusche noch erträglich empfinden, hat circa 1 Prozent so starke Symptome, dass ihre Lebensqualität stark eingeschränkt ist.
Ab einem Alter von etwa 65 Jahren tritt Tinnitus häufiger auf, oft im Zusammenhang mit Hörverlust. Frauen und Männer sind etwa gleich oft betroffen. Bestehen die Beschwerden länger als drei Monate, spricht man von chronischem Tinnitus. Dieser lässt sich in vier Schweregrade einteilen: Bei Tinnitus der Schweregrade 1 und 2 fühlen sich die Betroffenen kaum beeinträchtigt. Anders sieht es bei Grad 3 und 4 aus: Patienten leiden dann häufig zusätzlich unter Beschwerden wie Schlaflosigkeit oder Angststörungen.
Tinnitus hat viele Ursachen – bis heute sind nicht alle vollständig geklärt. Beim objektiven Tinnitus lässt sich die Ursache meist bestimmen: Neben Schallquellen im oder nahe des Ohres kommen auch andere Auslöser infrage, etwa Herzklappenerkrankungen, Blutarmut (Anämie) oder eine offene Tube (Eustachi-Röhre). In seltenen Fällen kann auch ein gutartiger Tumor an der Halsschlagader verantwortlich sein.
Beim subjektiven Tinnitus bleibt die Ursache häufig unklar. Forscher vermuten, dass das Gehirn Geräusche falsch verarbeitet. So können zum Beispiel geschädigte Haarzellen im Innenohr fehlerhafte Signale weiterleiten, die das Gehirn dann als Tinnitus wahrnimmt. Ebenso kann die Ursache direkt im Gehirn liegen. Studien zeigen, dass eine Überaktivität im Hörzentrum oder ein gestörtes Zusammenspiel mit anderen Netzwerken für Aufmerksamkeit, Ruhe und Sinnesverarbeitung Töne stärker ins Bewusstsein rücken könnten.
Erst kürzlich konnten Forscher mithilfe KI-gestützter Analysen zeigen, dass Tinnitus durch das Zusammenspiel zweier Prozesse entstehen kann: dem »Predictive Coding«, bei dem das Gehirn versucht, Geräusche vorherzusagen, und der »Adaptive stochastic resonance«, bei der das Gehirn mithilfe neuronalen Rauschens leise Töne besser wahrnehmbar macht. Beide Mechanismen zusammen könnten erklären, warum Betroffene Töne hören, die in Wirklichkeit gar nicht existieren. Daraus könnten sich in Zukunft weitere Therapieansätze ergeben.
Fachleute diskutieren zahlreiche Auslöser und Risikofaktoren für einen Tinnitus, die eine solche Fehlverarbeitung begünstigen können. Dazu zählen unter anderem eine anhaltende Lärmbelastung, Knalltraumata oder altersbedingte Schwerhörigkeit. Auch ein Verschluss des Gehörgangs durch Ohrenschmalz (Cerumen obturans) oder Erkrankungen des Ohres wie Mittelohrentzündungen oder Verknöcherungen im Bereich des Mittel- und Innenohrs (Otosklerose) können eine Rolle spielen. Darüber hinaus gelten auch bestimmte Medikamente als mögliche Auslöser, etwa bestimmte Antibiotika aus der Gruppe der Aminoglykoside, hoch dosierte Salicylate, Diuretika oder Zytostatika. Nicht zuletzt können auch psychische Belastungen, anhaltender Stress, Schlafmangel, Muskelverspannungen sowie Kiefergelenksprobleme das Auftreten oder die Wahrnehmung von Tinnitus begünstigen und verstärken.
Werden die Beschwerden chronisch und fühlen sich die Betroffenen in ihrer Lebensgestaltung eingeschränkt, sollte ärztlicher Rat eingeholt werden. Besonders bei pulsierendem Tinnitus ist es wichtig, Gefäßveränderungen auszuschließen. Aber auch Herz-Kreislauf- und Zahnerkrankungen können eine Rolle spielen. Um Tinnitus umfassend besser einschätzen zu können, nutzen HNO-Ärzte häufig standardisierte Fragebögen.
Liegt der Verdacht auf zentrale Ursachen nahe, können bildgebende Verfahren wie Magnetresonanztomografie (MRT), Computertomografie (CT) oder Ultraschall zum Einsatz kommen. Werden gefäßbedingte Ursachen ausgeschlossen, folgen im Anschluss weitere Untersuchungen des Hörsystems wie Hörtests, mikroskopische Ohruntersuchungen, Ohrdruckmessungen sowie Untersuchungen der Nasennebenhöhlen und des Rachens. Im sogenannten Tinnitus-Matching wird außerdem festgestellt, wie laut ein Patient seinen Tinnitus im Vergleich zur Hörschwelle empfindet (Tinnitusintensität in dB) und welche Tonhöhe die Ohrgeräusche haben (Frequenzcharakteristik in kHz).
Tritt ein Tinnitus akut auf und ist mit einer Hörminderung oder einem Hörverlust verbunden, erfolgt die Behandlung meist mit Corticosteroiden – ähnlich wie bei einem Hörsturz. Bislang gibt es nur wenige evidenzbasierte Therapien zur Behandlung von subjektivem chronischem Tinnitus. Eine davon ist die kognitive Verhaltenstherapie. Sie gilt als effektive und nebenwirkungsarme Behandlung und wird auch in der aktuellen S3-Leitlinie »Chronischer Tinnitus« der Deutschen Gesellschaft für HNO-Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie mit hoher Evidenzstärke empfohlen. Sie kann sowohl in Einzel- als auch in Gruppensitzungen sowie online durchgeführt werden. Häufig beginnt die Behandlung mit einem sogenannten Tinnitus-Counseling, das Betroffene umfassend über Entstehung und Mechanismen des Tinnitus aufklärt und Strategien für einen besseren Umgang vermittelt. Ziel ist die Habituation, also eine Gewöhnung, sodass der Tinnitus weniger stört.
Bei Tinnitus-Patienten mit Hörverlust empfehlen die Leitlinienautoren Hörgeräte, bei hochgradiger Schwerhörigkeit oder Ertaubung auch Cochlea-Implantate, die das Hören verbessern und oft auch Tinnitus-Symptome lindern. Spezielle Hörtherapien mit Übungen zur Hörwahrnehmung können unterstützend wirken, obwohl die Evidenzlage hierzu begrenzt ist.
Sogenannte Noiser und Masker, die durch leises, gleichmäßiges Rauschen Gegentöne zum Tinnitus erzeugen oder ihn überdecken sollen, werden nicht empfohlen, da ihre Wirksamkeit nicht ausreichend belegt ist. Ähnlich verhält es sich mit der Tinnitus Retraining Therapie (TRT): Die Kombination aus akustischer Stimulation und psychologischem Counseling erzielte in Studien geringe oder gar keine Effekte. Lediglich langfristige Anwendungen über mindestens zwölf Monate zeigten geringe Wirkung und können in Erwägung gezogen werden.
Auch Musik- und Sound-Therapien, elektrische Stimulation (wie transkranielle Elektrostimulation, Vagusnerv-Stimulation, TENS) sowie die Low-Level-Lasertherapie konnten in Studien keine überzeugenden Ergebnisse liefern. Auch zur Wirksamkeit von Medikamenten oder Nahrungsergänzungsmitteln bei chronischem Tinnitus gibt es keine ausreichenden Daten – sie sollen den Leitlinienautoren zufolge nicht empfohlen werden. Einzig bei begleitenden Depressionen oder Angststörungen kann die Gabe von Arzneimitteln sinnvoll sein.
Nach wie vor ist weitere Forschung nötig, um wirksame Therapien zu entwickeln. Prävention bleibt wichtig: Gehörschutz bei Lärmexposition schützt vor Tinnitus und Hörverlust. Bestimmte Apps können zudem Schallpegel messen. Auch Akupunktur, Sport, autogenes Training und gute Schlafhygiene können helfen, Stress zu reduzieren und das Wohlbefinden zu fördern, auch wenn die Wirkung bei Tinnitus nicht eindeutig belegt ist.