Der aufgeklärte Patient |
Der aufgeklärte, informierte Patient trifft gemeinsam mit dem Arzt die Entscheidung über alle Therapieschritte – so sieht zumindest die Idealvorstellung der Arzt-Patienten-Kommunikation aus. / Foto: Getty Images/Westend61
Die Medizin lebt von Diagnose und Behandlung. Traditionell folgen Ärzte im Umgang mit den Patienten dem sogenannten paternalistischen Modell. Dieses sieht den Mediziner in einer klaren Autoritätsstellung, Patientenautonomie ist nicht vorgesehen. Medizinische Informationen werden nur in einem Ausmaß geteilt, das dem Arzt angemessen erscheint. Auch therapeutische Entscheidungen sind dem Arzt vorbehalten, der Patient kann lediglich zustimmen oder ablehnen. Individuelle Bedürfnisse, Ängste oder Einstellungen des Patienten werden im Entscheidungsprozess nicht berücksichtigt, wodurch es zu einem Gefühl der Bevormundung bis hin zur teilweisen Entmündigung des Patienten kommen kann.
Doch vor gut 20 Jahren hat ein Wandel hin zu mehr Patientenautonomie begonnen. Verantwortlich dafür ist zum großen Teil der medizinische Fortschritt, der zunehmend mehr Behandlungsoptionen ermöglicht. Ihre Vor- und Nachteile auszuloten und eine Therapie zu beginnen, die vom Patienten getragen wird, kann allerdings nur optimal gelingen, wenn der Patient in den Entscheidungsfindungsprozess einbezogen wird. Was ist seine Vorstellung einer gelungenen Therapie? Welche Risiken ist er bereit zu tragen, wie ausgeprägt ist das Sicherheitsbedürfnis? Insbesondere bei schwerwiegenden oder chronischen Erkrankungen spielen Antworten auf diese und ähnliche Fragen sowie die Persönlichkeit eines Patienten eine entscheidende Rolle.
Als zweiter wichtiger Antreiber zum mündigen Patienten wirken Gesundheitsinformationen. Nie zuvor standen sie in so umfangreichem Ausmaß zur Verfügung wie heute. Von Selbsthilfegruppen über Patienteninformationen der Fachgesellschaften bis hin zu redaktionellen Inhalten, die Auswahl und Möglichkeit zur Informationsbeschaffung über das eigene Krankheitsbild ist insbesondere im Internet enorm. Viele Patienten erscheinen inzwischen gut informiert zum Arzttermin, sind nicht mehr ausschließlich auf die Information des Arztes angewiesen, stellen kritische Fragen oder hinterfragen Empfehlungen.
Eine zunehmende Patientenautonomie spiegelt sich auch in den Kommunikations- beziehungsweise Interaktionsmodellen des Gesundheitswesens. Das sogenannte Informationsmodell sieht ein Maximum an Patientenautonomie vor und bildet damit das Gegenstück zum paternalistischen Modell mit seinem Minimum an Patientenautonomie. Das Informationsmodell orientiert sich an Modellen der freien Wirtschaft und sieht den Arzt ausschließlich als Dienstleister. Er übernimmt die Rolle eines Experten und Informationsüberbringers, der alle medizinisch relevanten Informationen zur Verfügung stellt. In den Entscheidungsprozess wird er nicht involviert. Wie beim paternalistischen Modell werden auch keine behandlungsrelevanten persönlichen Informationen ausgetauscht. Es ist Aufgabe des Patienten, seine Bedürfnisse, Wünsche und Ängste mit den medizinischen Informationen abzugleichen. Insbesondere bei schwerwiegenden Erkrankungen birgt das Modell aber die Gefahr, dass Patienten sich überfordert fühlen. Häufig angewendet wird es im Bereich der Schönheitschirurgie, wenn nur der Patient beurteilen kann, ob ein Eingriff für ihn gerechtfertigt ist oder nicht.
Einen Mittelweg zwischen dem paternalistischen Modell und dem Informationsmodell geht das Modell der partizipativen Entscheidungsfindung. Kommunikationsexperten sehen es als besonders gelungene Form der Arzt-Patienten-Interaktion, da Autonomiewünsche des Patienten berücksichtigt werden, ohne einen möglichen Bedarf nach Anleitung durch den Arzt zu vernachlässigen. Diesen Balanceakt zu meistern, erfordert Einfühlungsvermögen und Fingerspitzengefühl auf Seiten des Behandlers. Arzt und Patient müssen sich auf Augenhöhe begegnen und als gleichberechtigte Partner in einem Entscheidungsprozess wahrnehmen. Der Austausch von umfassenden medizinischen Informationen ist ebenso wichtig wie das Teilen von behandlungsrelevanten persönlichen Informationen. Beachtet werden müssen aber auch die Grenzen des Patienten. Das »Erzwingen« einer Patientenbeteiligung kann als ebenso bevormundend empfunden werden wie der Ausschluss von Entscheidungen.
Im Idealfall steht am Ende einer partizipativen Entscheidungsfindung ein Therapieweg, der ebenso wie die Verantwortung für die Umsetzung der Behandlung von beiden Parteien getragen wird. Besonders häufig eingesetzt wird das Modell bei langfristigen Therapieentscheidungen, die eine Therapietreue des Patienten erfordern. Aber auch bei Entscheidungen zur Durchführung von diagnostischen Tests oder Screeningmaßnahmen sowie Behandlungsorten oder dem Beenden einer Behandlung hat es seine Berechtigung.
Studien zeigen, dass sich die Mehrheit der Menschen eine partnerschaftliche Entscheidungsfindung bei medizinischen Fragestellungen wünscht. Das gilt sowohl für Patienten als auch Mediziner. Dennoch wird das Modell in der täglichen Praxis oft nur unzureichend umgesetzt. Insbesondere bei medizinischen Maßnahmen, deren Bedeutsamkeit für den Patienten gering ist oder wenn nur eine mögliche Therapie existiert, folgen Ärzte in der Regel dem paternalistischen Modell. Dasselbe gilt bei Notfällen sowie emotionaler oder kognitiver Überforderung.
Aber auch bei geplanten Eingriffen oder langfristigen Therapieentscheidungen haben Patienten mitunter den Eindruck, dass ihnen Vor- und Nachteile verschiedener Behandlungen nicht ausreichend erklärt wurden oder ihre Wünsche nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Ursächlich dafür sind neben dem in der Medizin vorherrschenden Zeitdruck oft mangelnde Kommunikationsfertigkeiten auf beiden Seiten. Insbesondere ältere Menschen sehen den Arzt nach wie vor als Autoritätsperson und empfinden den Wissensunterschied als Hemmfaktor. Ältere Mediziner sind in ihren Kommunikationsstrategien mitunter so verwurzelt, dass ihnen der Wechsel zu mehr Patientenbeteiligung schwerfällt.
Das Konzept der partizipativen Entscheidungsfindung stammt ursprünglich aus dem angloamerikanischen Raum und setzt sich erst seit etwa 20 Jahren in Deutschland immer weiter durch. Als wichtiger Startschuss gilt die Gründung des Förderschwerpunkts »Patient als Partner im medizinischen Entscheidungsprozess« durch das Bundesministerium für Gesundheit im Jahr 2001. Damals war die partizipative Entscheidungsfindung im deutschen Gesundheitssystem vollständig unbekannt, es gab lediglich einige internationale Studien. Ziel war es, mit Modellprojekten zu prüfen, inwieweit sich die positiven Effekte aus anderen Ländern auf Deutschland übertragen lassen. Inzwischen besteht im deutschen Gesundheitswesen ein Konsens, dass Patienten bei medizinischen Entscheidungen einbezogen werden sollten.
Fühlen sich Patienten von ihrem Arzt übergangen, suchen sie manchmal Rat in der Apotheke. PTA und Apotheker können Kunden unterstützen, indem sie beispielsweise noch einmal darstellen, welchen Nutzen ein verschriebenes Medikament im individuellen Fall haben soll, mit welchen Nebenwirkungen zu rechnen ist und wie wahrscheinlich diese sind. Dabei ist es wichtig, auf Sorgen und Befürchtungen des Kunden einzugehen und ihn nicht, wie zuvor beim Arzt erlebt, abermals zu übergehen. Stehen wichtige Entscheidungen an, kann der Hinweis auf medizinische Entscheidungshilfen den Prozess für den Kunden erleichtern. Sie bieten Informationen über verschiedene Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten, beleuchten Vor- und Nachteile der Optionen und stellen Risiken und Nutzen der einzelnen Verfahren einander gegenüber. Zusätzlich unterstützen sie den Anwender beim Abwägen zwischen den verschiedenen Optionen. Ziel ist es, den Nutzer in eine Lage zu versetzen, in der er seine persönlichen Bedürfnisse und Präferenzen in Bezug auf die verschiedenen Optionen für sich selbst erfassen und in weiterer Folge den behandelnden Ärzten mitteilen kann.
Entscheidungshilfen zum Ausdrucken bei verschiedenen Krebserkrankungen, gynäkologischen Erkrankungen, Mandelentzündungen und Schulterbeschwerden finden sich zum Beispiel auf der Patienteninformations-Website des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Die Krankenkasse AOK stellt Materialien zum Thema Brustkrebs und künstliche Ernährung im Alter zur Verfügung. Eine Übersicht über viele verschiedene Entscheidungshilfen bei unterschiedlichen Anbietern bietet das Deutsche Netzwerk Gesundheitskompetenz (DNGK) auf seiner Website an.