Der optimierte Seniorenteller |
Gemeinsam backen und kochen, gemeinsam essen: Geselligkeit weckt die Lust an ausgewogener Ernährung. / Foto: Getty Images/Kelsey Smith Photography
Orte, deren Namen uns meist nicht einmal bekannt sind: Ikaria in Griechenland, Ogliastra auf Sardinien, die Inseln Okinawa (Japan) und Nicoya (Costa Rica) sowie das kalifornische Loma Linda. Laut National Geographic Magazin findet man nirgendwo sonst auf der Welt mehr über 100-Jährige und weniger Menschen mit Übergewicht, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs als in diesen Blue Zones genannten Gebieten.
Befragungen der Bevölkerung und Beobachtung des Lebensstils lassen Rückschlüsse zu, was zur Langlebigkeit in diesen Gebieten maßgeblich beiträgt: Das sind der Verzehr regionaler naturbelassener Produkte, oft pflanzenbasierte Ernährung, regelmäßige Bewegung beziehungsweise Arbeit an der frischen Luft, genauso wichtig ist das soziale Eingebundensein in Familie und Freundeskreis sowie eine traditionelle und spirituelle Lebensweise.
Hierzulande stieg die Lebenserwartung in den vergangenen fünf Generationen immerhin um fast 40 Jahre, und so darf sich ein heute 65-jähriger Deutscher durchaus auf seinen 83. Geburtstag freuen, eine gleichaltrige Frau hat beste Voraussetzungen, noch mindestens 21 Jahre zu leben. Auch die Chancen, diese Ehrentage rüstig begehen zu können, stehen günstig: Laut einer aktuellen Befragung des Statistischen Bundesamtes schätzt fast die Hälfte der über 65-Jährigen den eigenen Gesundheitszustand als gut oder sehr gut ein, bei Personen über 85 immerhin noch jeder vierte.
Im Alter verändert sich der Organismus nicht nur äußerlich sichtbar, die Leistungsfähigkeit innerer Organe nimmt ab, die Aktivität des Immunsystems sinkt, die Energie- und Nährstoffzufuhr bedarf daher einer Neuregelung: Es werden weniger Kohlenhydrate und Fette benötigt, während der Bedarf an Proteinen, Vitaminen und Mineralstoffen gleich bleibt, wenn nicht sogar leicht ansteigt. Folglich sollten ältere Menschen Lebensmittel mit hoher Nährstoffdichte wie Gemüse, Obst und Vollkornprodukte bevorzugen.
Eine Reihe von Studien liefert auch Hinweise darauf, dass jenseits der Lebensmitte im wahrsten Sinne des Wortes nichts läuft ohne Proteine als Baustoffe: Die Muskelmasse nimmt ab, das Risiko für Gebrechlichkeit steigt, wenn der Eiweißverzehr zu gering ist. Und selbst bei ausreichender Zufuhr, so erläutern Experten, können Ältere sich die verzehrten Proteine schlechter zunutze machen.
Eiweiß essen allein ist dem Muskel allerdings nicht genug. Das Trainieren von Kraft ist der zweite Reiz, den er zum Aufbau braucht. Zu bedenken: Auch vom Training muss es im Alter etwas mehr sein, um die gleiche Muskelmasse zu erreichen, denn jährlich verlieren bereits über Fünfzigjährige ein bis zwei Prozent davon.
Doch nicht nur für die Strukturproteine des Muskels ist die regelmäßige Eiweißaufnahme unentbehrlich, beispielsweise benötigen auch Transportproteine wie Hämoglobin, Immunglobuline oder das Peptidhormon Insulin ständig Eiweiß. Aminosäuren sind außerdem Vorstufen in der Synthese zahlreicher Stoffwechselprodukte wie Serotonin oder Histamin.
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) trägt daher seit 2017 den Ansprüchen des alternden Organismus Rechnung und gibt den geschätzten täglichen Proteinbedarf des gesunden Menschen ab 65 mit 1 g/kg Normalgewicht an, während Jüngeren eine Zufuhr von 0,8 g/kg KG empfohlen wird. Im Klartext sind das abhängig von der Körpergröße 57 bis 67 g pro Tag. Hat die Muskelmasse bereits abgenommen, empfehlen Experten 1,4 g/kg Körpergewicht.
Schon in den Jahren 2005/2006 hat die Nationale Verzehrstudie II (NVSII) ans Licht gebracht, dass 11 % der Männer und 15 % der Frauen unter der täglichen empfohlenen Proteinzufuhr bleiben. Durch den seit 2017 angehobenen Schätzwert der DGE dürfte dieser Anteil bei den über 65-Jährigen inzwischen deutlich höher liegen.
Auch Unterschiede zwischen pflanzlichem und tierischem Eiweiß fließen seit dem Zeitpunkt erstmals in die DGE-Empfehlung ein. Tierische Quellen wie Fisch, Fleisch, Milch und Eier liefern höherwertiges Eiweiß, dessen Bausteine unser Körper besser für seine Zwecke nutzen kann. Dagegen halten pflanzliche Proteinlieferanten meist nicht alle acht unentbehrlichen Aminosäuren bereit.
Dennoch ist die Zufuhr dieser Eiweißquellen uneingeschränkt zu empfehlen, um den Mehrbedarf im Alter zu decken. So punkten Vollkorngetreide und Hülsenfrüchte zusätzlich mit Ballaststoffen und sekundären Pflanzenstoffen. Das bedeutet für Gemüse und Obst: Nimm »5 am Tag« lautet eine der zehn Regeln der DGE und so können Bohnen, Linsen und Co. dabei schon eine der drei Gemüsemahlzeiten sein.
Darüber hinaus schneiden Pflanzenproteine in Studien meist sehr gut ab, möglicherweise minimieren sie Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes. Im Alter darf man aber bei einer zusätzlichen mageren Geflügelportion und vor allem Fischmahlzeit ein Auge zudrücken, während es ein klares Nein zu noch mehr an rotem Fleisch oder Wurst gibt - schließlich wird auch eine zusätzliche Portion Purine, gesättigte Fettsäuren und Cholesterin dabei mit verzehrt.
Je geschickter man Proteine aus verschiedenen Quellen kombiniert, desto leichter kann der Körper seinen Aminosäurebedarf vollständig decken. »Keine Mahlzeit ohne« lautet die Devise für Senioren, denn ein Zuviel auf einmal kann sich negativ bemerkbar machen. Eine relativ junge Studie der Universität Birmingham hat überdies ergeben, dass die Proteinverwertung dann am effektivsten ist, wenn Eiweiße dem Organismus über den Tag verteilt angeboten werden.
Was die Überforderung der Niere bei der Ausscheidung eines eventuellen Eiweißüberschusses anbetrifft, gibt Professor Dr. Jürgen Bauer, Direktor des Netzwerks Altersforschung der Universität Heidelberg, Entwarnung. Sofern die Niere gesund ist, sei das kein Problem. Bei Nierenerkrankungen sollte jedoch die Zufuhr altersunabhängig auf 0,8 g/kg Körpergewicht begrenzt werden, bei Dialysepatienten auf 1,2 g/kg KG, so der allgemeine Rat.
Eiweißreiche Ess-Ideen | Proteinmenge pro 100 g |
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Frühstück | |
Haferflocken mit Joghurt, Früchten, gehackten Walnüssen, Vollkornbrötchen mit Frischkäse, Gurke und Tomate | Haferflocken 13 g, Naturjoghurt (3,5%) 4 g, Walnüsse 16 g, Vollkornbrötchen 8 g, Frischkäse 11 g |
Zwischenmahlzeit | |
Vollkornbrot mit Emmentaler und Rohkost, Knäckebrot mit Räucherlachs und Kresse | Vollkornbrot 7 g, Emmentaler 34 g, Knäckebrot 10 g, Räucherlachs 28 g |
Mittagessen | |
Erbsensuppe mit Reis und Rindfleisch, Vollkornnudeln mit Linsenbolognese, Parmesan und Salat, Fischfilet auf Quinoa-Kichererbsensalat | Erbsen 23 g, Vollkornreis 6 g, Rindfleisch 26 g, Vollkornnudeln gegart 6 g, Rote Linsen 24 g, Parmesan 35 g, Fischfilet 17–18 g (sortenabhängig), Quinoa 12 g, Kichererbsen 19 g |
Zwischenmahlzeit | |
Beerenquark mit Cashew- oder Sonnenblumenkernen, Fruchtsmoothie mit Sojadrink und Süßlupine | Quark (20 %) 12,5 g, Cashewkerne 17 g, Sonnenblumenkerne 22 g, Sojadrink 3,5 g, Süßlupinensamenpulver 43 g |
Abendessen | |
Pellkartoffeln mit Kräuterquark und Karottenrohkost, Rührei mit Tofu und Champignons, Brokkolisalat | Kartoffeln 2 g, Magerquark 13,5 g, Ei (pro Stück Gr. M) 6,5 g, Tofu 9 g, Champignons 4 g |
Der sogenannte Body-Mass-Index (BMI) ist das gängigste Kriterium zur Bewertung des Körpergewichtes beim Erwachsenen. Von der Weltgesundheitsorganisation WHO wird seit dem Jahr 2000 ein Wert von 18,5 bis 24,9 kg/m2 als normal angegeben. Im Alter erfolgt bezüglich des idealen Körpergewichtes allerdings inzwischen ein Umdenken.
Als optimal sieht beispielsweise die Österreichische Gesellschaft für Ernährung (ÖGE) einen BMI zwischen 22 und 27 kg/m2 an, damit der Körper im Krankheitsfall auf vorhandene Energiereserven zählen kann. Liegt der BMI oberhalb der Norm, sollte im höheren Lebensalter das Gewicht lediglich stabil gehalten werden. Eine moderate Gewichtsreduktion ist nur unter ärztlicher Aufsicht beispielsweise bei Diabetes, Fettstoffwechselstörungen oder kardiovaskulärer Vorgeschichte anzustreben, zusammen mit gesteigerter körperlicher Aktivität, um eine Abnahme an Muskelmasse zu verhindern.
Senioren sollten nicht mit Diäten herumexperimentieren, die heute störenden Pölsterchen federn vielleicht schon bald das Abrutschen in die Mangelernährung im Krankheitsfall ab. Zu deren Früherkennung empfehlen Fachgesellschaften neben dem BMI die Messung des Oberarmumfangs sowie der Trizepshautfaltendicke. Mit dem Mini Nutritional Assessment (MNA) kann außerdem die Ernährungssituation mit Hilfe eines Kurzfragebogens einfach erfasst werden.
Gewichtsverlust im Alter birgt das Risiko der sarkopenischen Fettleibigkeit, »dem Bierbauch auf Stelzenbeinen«, wie Professor Dr. Cornel Sieber, Präsident der European Geriatric Medicine Society (EuGMS) recht drastisch, aber anschaulich warnt. Dabei wird Muskelmasse beim Abnehmen durch Fettzellen ersetzt, die sich um die Organe im Bauchraum ablagern. Erhöhte Blutfettwerte, Atherosklerose, Bluthochdruck, Diabetes Typ 2 und eine nicht-alkoholische Fettleber lauern als gefährliche Folgen.
Menschen in höherem Lebensalter essen häufig zu wenig oder unausgewogen. So stehen oft zu wenig Obst, Gemüse und Fisch auf dem Speiseplan und unter dem Strich stehen dann zu wenig Vitaminen C, D und E, Folat, Thiamin und Calcium in der Bilanz. Häufig trinken sie auch aufgrund eines nachlassenden Durstempfindens zu wenig. So ist zumindest das Fazit der ErnSiPP-Studie zur Ernährungssituation von pflegebedürftigen Senioren in Privathaushalten, die unter der Federführung der DGE durchgeführt wurde. Die Gründe dafür sind vielfältig.
Zu wenig gegessen wird etwa, weil durch altersbedingt nachlassende Magendehnung der Appetit nachlässt, die Aktivität der gastrointestinalen Sättigungsfaktoren wie Sekretin und Cholecystokinin aber zunimmt. Aufgrund von Geschmacks- und Geruchseinschränkungen stört Höherbetagte eine wenig abwechslungsreiche Kost oft jedoch nicht. Der Genuss eines knackigen Apfels oder eines Steaks scheitert bisweilen an Kau- oder Schluckbeschwerden. Und auch Mundtrockenheit kann die Lust am Essen nehmen.
Nicht selten sind es aber ganz praktische Fragen, die eine ausgewogene Ernährung der Senioren vereitelt. Einkaufen erfordert oft Hilfe, nicht mehr Autofahren zu können und die Verlagerung der Einkaufmöglichkeiten hinaus aus den Innenstädten kann zu Schwierigkeiten in der Versorgung mit frischen Lebensmitteln beitragen. Für Lieferdienste fehlt manchem das Geld, in vielen Kommunen gibt es jedoch Shuttlebusse zu Einkaufszentren. Ebenso beklagen Senioren die für den kleinen Haushalt oft zu großen Abpackungen von Lebensmitteln und die dadurch eingeschränkte Abwechslung beziehungsweise Auswahl.
Ein weiterer Faktor: Oft wird selten, aber zu viel eingekauft. Der Vitamingehalt von Obst und Gemüse reduziert sich bei langer Lagerung. Folgenreicher noch: Diese Überbevorratung birgt sogar Gefahren. Durch nachlassendes Geruchs- und Sehvermögen werden verdorbene Speisen nicht erkannt, Mindesthaltbarkeitsdaten übersehen und so haben Salmonellen, Listerien und Co leichtes Spiel.
Auch die Mahlzeitenzubereitung wird mitunter beschwerlich: Verschweißte Verpackungen und Flaschen lassen sich laut ErnSiPP-Studie von betagten Frauen schwer öffnen, Männer tun sich mit dem Gemüseschneiden schwer. Zu hohe Schränke und zu tiefe Geräte können zur Gefahrenquelle werden. Tipp: In eine altersgerechte Küchenausstattung zu investieren, kann demnach einer abwechslungsreichen Ernährung dienlich sein.
Die Freude an ausgewogener Ernährung geht häufig durch Einsamkeit, beispielsweise mit Verlust des Partners, verloren. Darf man einer Studie aus dem Jahr 2017 glauben, beeinflusst ein Spiegel oder das eigene Foto auf dem Esstisch die Lebensmittelauswahl und Verzehrmenge positiv. Die Geselligkeit hat auch In FORM im Blick: Deutschlands Initiative für gesunde Ernährung und Bewegung bietet unter dem Leitspruch »Auf Rädern zum Essen« Senioren die Möglichkeit, sich auf den Weg zum gemeinsamen Mittagstisch mit Gleichgesinnten zu machen. Auch mit Fahrrad, Rollator oder Rollstuhl.