Der Weg aus der Abhängigkeit |
Verena Schmidt |
20.10.2023 14:00 Uhr |
Nathalie Stüben ist eine erfolgreiche Journalistin und war selbst alkoholabhängig. Heute hilft sie anderen Menschen beim Ausstieg aus der Sucht. / Foto: @beech
PTA-Forum: Welche ersten Warnhinweise gibt es, dass ich selbst zu viel trinke? Wie haben Sie damals gemerkt, dass Sie ein Problem mit Alkohol hatten?
Stüben: Es gibt ein paar Warnhinweise, die darauf hindeuten, dass man zu viel trinkt. Sich immer wieder vornehmen, weniger zu trinken, es auf Dauer aber nicht durchzuziehen, ist einer. Zu scannen, wie viel andere trinken und seinen eigenen Konsum damit vergleichen, ist auch einer. Alkoholpausen zu machen, um sich zu beweisen, dass man das mit dem Alkohol im Griff hat, ein weiterer. Dinge googlen wie »wie viel Alkohol ok« ist auch einer. Wenn die Hobbys alle etwas mit Alkohol zu tun haben – oder ohne Alkohol weniger attraktiv erscheinen, ist das auch einer. Wenn andere einen ansprechen oder den Alkoholkonsum kommentieren, ist das auch ein Warnhinweis. Ich selbst habe gemerkt, dass ich ein Alkoholproblem habe, als all meine Versuche, »in Maßen zu trinken« über kurz oder lang immer wieder zu Totalabstürzen und Blackouts führten.
PTA-Forum: Was könnten »Red Flags« für Freunde, Familienangehörige, Kollegen sein? Und vor allem, wie sollten sie es am besten ansprechen, wenn sie ein Alkoholproblem bei einer Person vermuten?
Stüben: Wir leben in Deutschland in einem Hochkonsumland. Heißt: Ein überdurchschnittlich hoher, gefährlicher Konsum erscheint hierzulande normal. Heißt auch: Sobald sich jemand denkt, oha, der oder die trinkt vielleicht zu viel, können Sie das »vielleicht« streichen. Hier kann man sich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit auf sein Bauchgefühl verlassen. Damit umzugehen, ist schwierig, weil Menschen mit Alkoholproblem natürlich erstmal lange der Ansicht sind, sie hätten kein Alkoholproblem.
Ich finde gut, wenn man es trotzdem anspricht, aber man muss sich darüber im Klaren sein: Wahrscheinlich wird sich deswegen nicht von heute auf morgen etwas ändern. Es kann sein, dass der- oder diejenige aggressiv oder abweisend reagiert. Ich glaube, was beim Ansprechen wichtig ist, ist, dass man das nicht vorwurfsvoll macht, sondern dass man signalisiert: »Übrigens, wenn du aufhören möchtest, dann bin ich da und wir machen coole Sachen zusammen – nüchtern. Ich bin da, stärke dir den Rücken und feiere dich dafür, dass du das ausprobierst.«
Ansonsten, was auch hilft und noch deutlich niedrigschwelliger ist: mal einen Link verschicken, zum Beispiel zu meinem YouTube-Kanal »Ohne Alkohol mit Nathalie« oder zu meinem Podcast und zu sagen: »Hey, ich hab hier was gehört, das fand ich ganz interessant.« Viele, die ich kenne, haben so angefangen, umzudenken.
PTA-Forum: Wie haben Sie schließlich den Ausstieg geschafft?
Stüben: Mein Einstieg in den Ausstieg waren tatsächlich auch Podcasts, damals noch US-amerikanische, weil es in Deutschland noch keine Podcasts zu dem Thema gab. Da war meiner - »Ohne Alkohol mit Nathalie« - der erste. Leider musste mein Leidensdruck damals noch recht groß werden, um mich dazu durchzuringen, ganz mit dem Trinken aufzuhören. Davor hatte ich unglaubliche Angst. Ich dachte, dass ich mich dann ein Leben lang »Alkoholikerin« nennen muss. Ich dachte, Aufhören würde sozialen Abstieg, Ausgrenzung und ein Leben voller Langeweile bedeuten. Nichts davon ist eingetreten, im Gegenteil.
PTA-Forum: Wie gelingt es Ihnen, abstinent zu bleiben? Haben Sie Tipps, wie man dem gesellschaftlichen Druck widerstehen kann?
Stüben: Mit dem Trinken aufzuhören, war nicht einfach, aber tatsächlich leichter, als ich dachte. Ich habe meine Abstinenz sehr schnell als Erleichterung empfunden. Es fühlte sich an, als würde mir jemand einen tonnenschweren Rucksack von den Schultern nehmen. Ich merkte, wie klar ich im Kopf wurde. Wie diese undefinierbare Angst vorm Leben wieder verschwand. Wie mein Selbstbewusstsein wieder wuchs, wie viel ich aus einem Tag machen konnte. Ich war wieder zuverlässig, integer und musste nichts mehr verstecken. Das ist schon toll, das zu erleben.
Und um dieses Gefühl zu schützen und zu kultivieren, habe ich mir natürlich auch Strategien angeeignet. Ich habe zum Beispiel den ganzen Alkohol aus der Wohnung entfernt. Ich bin nach der Arbeit nicht an der Haltestelle beim Supermarkt ausgestiegen, wo ich sonst immer Wein gekauft habe, sondern eine Haltestelle früher und zu Fuß nach Hause gegangen. Für mich war die Zeit nach der Arbeit, abends, immer die schwerste. Oft bin ich dann einfach ganz früh schlafen gegangen.
Partys und Abendessen habe ich die ersten Wochen und Monate gemieden. Mir war so heilig, was da entstand, da habe ich sehr auf mich geachtet. Irgendwann bin ich dann wieder zu Feiern und Essen gegangen, aber da habe ich schon gar kein Verlangen mehr verspürt. Ich verspüre seit Jahren kein Verlangen mehr. Wenn ich Alkohol sehe, denke ich einfach nur: Danke, dass ich nicht mehr trinken muss.
PTA-Forum: Ganz kurz gesagt: Was bedeutet das Leben ohne Alkohol für Sie?
Stüben: Ganz kurz gesagt: Es bedeutet Freiheit. Etwas länger gesagt: Ich träume groß, anstatt mich selbst zu zerstören. Ich stelle kritische Fragen, anstatt mich zu betäuben. Ich nutze meine Energie für Projekte, die mich glücklich machen und uns weiterbringen, anstatt dazu, Katertage zu überstehen. Ich liebe tief und aufrichtig und mit allem, was ich habe – anstatt die Kontrolle zu verlieren und meine Grenzen verletzen zu lassen. Ich bin klar und unabhängig und ich liebe es.