Diabetes belastet auch die Psyche |
Mit Diabetes kann man doch ach so gut leben? Das stimmt nur teilweise. Um trotz der Krankheit stark zu bleiben, sind auch gute Freunde wichtig. / Foto: Adobe Stock/Photographee.eu
Blutzuckerkontrollen und die konsequente medikamentöse Therapie erzeugen einen andauernden Stress, hinzu kommt die Angst vor Folgeerkrankungen. Das kann sich seelisch bemerkbar machen. Studien zeigen, dass Patienten mit Diabetes häufiger als andere Menschen psychische Erkrankungen wie Burnout und Depressionen, Angst- und Essstörungen entwickeln. Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) schätzt, dass nahezu ein Drittel aller Betroffenen an depressiven Symptomen wie Konzentrationsproblemen, Angst, Minderwertigkeits- und Schwächegefühlen, sexuellen Problemen, Schlafstörungen, Appetitverlust und Interessenlosigkeit bis hin zu körperlichen Schmerzen leidet. Etwa jeder zehnte Mensch mit Diabetes entwickelt sogar eine manifeste Depression. Bei einer schlechten Stoffwechseleinstellung und wenn diabetische Folgeerkrankungen vorliegen, ist das Risiko besonders hoch.
»Menschen mit einer Depression fehlt es an Antrieb«, sagt Kulzer, der auch Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Diabetes und Psychologie der DDG ist. »Die Patienten sind weniger adhärent gegenüber therapeutischen Empfehlungen.« Vor allem im Bereich der Ernährung fällt es depressiven Patienten schwer, sich an die Empfehlungen zu halten. Übergewichtige brechen bei Depressionen besonders häufig Programme zur Gewichtsreduktion ab. Auch zu mehr Aktivität und Bewegung können sie sich oft kaum überwinden. Die Komorbidität von Diabetes und Depression führt dadurch zu einer ungünstigeren Stoffwechseleinstellung und häufigeren Begleit- und Folgeerkrankungen. Das erhöht das Mortalitätsrisiko. Aus ökonomischer Sicht ist zu bedenken, dass die Kosten für die medizinische Versorgung steigen.
Auch andere Störungen können bei Menschen mit Diabetes häufiger auftreten. Der mit der Krankheit verbundene Stress kann sich negativ auf die Schlafqualität auswirken. Zwangsstörungen können resultieren, wenn Betroffene sich getrieben fühlen, ständig die Blutzuckerwerte zu kontrollieren. Unter den Angststörungen ist besonders an diabetesbezogene Ängste zu denken, etwa die Angst vor Hypoglykämien, also die übermäßige Angst vor einer Unterzuckerung. Um möglichen Hypoglykämien vorzubeugen, werden mitunter deutlich überhöhte Blutzuckerwerte in Kauf genommen. Andere Patienten fürchten sich vor einer Insulinbehandlung. Auch die Angst vor Diabetesfolgen oder einem Fortschreiten der Krankheit kann immens belasten. Spritzenphobien sind jedoch selten. Weiterhin besteht eine Wechselwirkung zwischen Diabetes und Essstörungen.
Psychische Belastungen können den Diabetes aber nicht nur verschlechtern, sondern sind möglicherweise auch an seiner Entstehung beteiligt. Der zugrundeliegende Mechanismus kann bei Gefahr über Leben und Tod entscheiden: Über die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse von engl. hypothalamus-pituitary-adrenocortical axis, auch als »Stressachse« bezeichnet) wird vermehrt das Stresshormon Cortisol ausgeschüttet. Cortisol befähigt den Organismus, sich an eine akute Stresssituation anzupassen, was lebensnotwendig sein kann und den Menschen zur schnellen Flucht- oder Kampfreaktion befähigt. Das Hormon mobilisiert dazu über die Gluconeogenese Energieressourcen und sorgt dafür, dass kurzfristig entbehrliche Funktionen herunterreguliert werden. Vermehrt ausgeschüttetes Cortisol führt auch dazu, dass die Insulinsensitivität der Zellen zurückgeht. Rein physiologisch gesehen ist das sinnvoll, da dem Körper durch das Extra an zirkulierendem Zucker mehr Energie zur Verfügung steht.
Ist die Stresssituation bewältigt, ist es wichtig, dass die Anpassungen über eine schnelle Rückregulation der HPA-Achse zurückgenommen werden. Bei chronischer Belastung oder auch einer akuten depressiven Episode bleibt diese Rückregulation aus. Die anhaltende HPA-Hyperaktivität mit Hypercortisolismus führt zu Störungen in den Bereichen Stoffwechsel, Immunabwehr, Herz-Kreislaufsystem oder kognitive Fähigkeiten. »Der Überschuss an Cortisol führt über eine verstärkte Insulinresistenz zu einem erhöhten Risiko für die Manifestation des Typ-2-Diabetes«, sagt Kulzer. Bei Menschen, die bereits an Diabetes erkrankt sind, kann Stress laut dem Experten den Gesundheitszustand verschlechtern: »Bei andauerndem Stress nehmen Entzündungsprozesse in den kleinen und großen Blutgefäßen zu. Das Risiko für diabetische Folgeerkrankungen wie Augen- oder Nierenschäden steigt.« Stellen sich mehr Beschwerden und Schäden auf körperlicher Ebene ein, schlägt das den Betroffenen noch stärker auf die ohnehin schon angeschlagene Psyche – ein Teufelskreis kommt in Gang.
»Epidemiologische Studien zeigen, dass Diabetes und Depression bidirektional miteinander verbunden sind«, erklärt Professor Dr. Christian Herder, Leiter der Forschungsgruppe Inflammation und stellvertretender Direktor des Instituts für Klinische Diabetologie am Deutschen Diabetes-Zentrum (DDZ) an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf gegenüber PTA-Forum. Beide Erkrankungen haben dieselben Risikofaktoren wie psychosoziale Stressfaktoren und ein ungesunder Lebensstil. Weiterhin spielen jeweils subklinische chronische Entzündungen im Körper eine Rolle, die aber noch nicht völlig verstanden sind. Im Blut können Entzündungsmarker wie der Wert des C-reaktiven Proteins (CRP), Zytokine und andere Immunmediatoren erhöht sein. Auch gering ausgeprägte systemische Entzündungen beeinflussen das Gleichgewicht bestimmter Neurotransmitter und Hormone. Das begünstigt die Entstehung von Depressionen und kann bestehende Depressionen verstärken. Niederschwellige chronische Entzündungen senken aber auch die Insulinsensitivität der Gewebe. Daraus kann sich eine Insulinresistenz entwickeln.
Bei Diabetespatienten mit psychischen Problemen ist professionelle Hilfe wichtig. Allerdings erhalten diese nur wenige. Ein Grund ist, dass die psychischen Probleme oft unerkannt sind. So wird nur etwa die Hälfte der Depressionen bei Menschen mit Diabetes erkannt. »Damit Ärzte nicht nur Blutzuckerwerte und körperliche Folgeschäden im Auge behalten, empfehlen wir, auch mindestens einmal jährlich auf eine mögliche Depression zu prüfen«, sagt Kulzer. »Dafür eignen sich bewährte Fragebögen wie der WHO-Five Well-being Index (WHO-5), der im Gesundheitspass Diabetes integriert ist.« Den Gesundheits-Pass Diabetes können Patienten gegen einen Unkostenbeitrag bestellen: https://www.deutsche-diabetes-gesellschaft.de/patienten/gesundheits-pass-diabetes .
Bei einer manifesten Depression ist in der Regel eine Psychotherapie Mittel der Wahl. Kulzer rät Betroffenen mit psychischen Problemen, gezielt nach einem Therapeuten mit psychodiabetologischen Kenntnissen zu suchen. Unterstützung bei der Suche bietet die Arbeitsgemeinschaft Diabetes und Psychologie der DDG: https://www.diabetes-psychologie.de/Psychotherapeutensuche .
Ärzte versuchen bei einer mittelgradigen oder schweren Depression zumeist auch, den Teufelskreis durch Medikamente zu durchbrechen. Bei der Wahl des Antidepressivums ist die Stoffwechsellage eines Menschen mit Diabetes zu berücksichtigen. Insbesondere trizyklische Antidepressiva können als Nebenwirkung zu einer Gewichtszunahme und zu einer Erhöhung des Blutzuckers führen. »Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Inhibitoren (SSRI) sind bei Menschen mit Diabetes meistens besser geeignet«, erklärt Kulzer. Unter der Therapie kann allerdings die Insulinsensitivität steigen. Patienten müssen dann möglicherweise in Absprache mit ihrem Arzt die Diabetestherapie anpassen.
Vor dem Hintergrund der subklinischen Entzündungen könnte auch eine antiinflammatorische Pharmakotherapie sinnvoll sein. »Erste Studien und Metaanalysen deuten darauf hin, dass der Einsatz verschiedener antiinflammatorischer Medikamente, in der Regel zusätzlich zur antidepressiven Therapie, auch die Depressivität beziehungsweise Depression klinisch relevant verbessern kann«, sagt Herder. Allerdings litten die Patienten in den Studien häufig noch an anderen Erkrankungen, zum Beispiel rheumatoider Arthritis. »Bislang ist nicht klar, ob sich die Depressivität vielleicht nur sekundär verbessert, weil sich die Erkrankung, die primär entzündungshemmend behandelt wurde, bessert.« Weitere Forschungen sind in diesem Bereich wünschenswert. »Für das Ziel einer modernen Präzisionsmedizin ist es wichtig zu wissen, ob und für welche Personen immunmodulatorische Therapien als Add-on zu Verhaltenstherapien oder Antidepressiva sinnvoll sein könnten.«
Bei hohen diabetesbezogenen Belastungen kann die PTA die Teilnahme an einem Diabetesschulungs- und Behandlungsprogramm empfehlen. Die Patienten lernen darin, ihre Krankheit zu akzeptieren und mit den Einschränkungen zu leben.
»Bei Depressionen wirkt sich Bewegung nachgewiesen positiv auf die Stimmung aus«, betont Kulzer und rät Menschen mit Diabetes und depressiver Stimmungslage, mehr körperliche Aktivität in ihren Alltag einzubauen. Interventionen zur Stressreduktion wie Yoga, progressive Muskelentspannung, Qi Gong oder Tai-Chi können die glykämische Kontrolle und die Lebensqualität ebenfalls verbessern. Auch ein guter sozialer Rückhalt kann sich bei Patienten mit Diabetes positiv auf die Blutzuckereinstellung auswirken. Um den Alltag zu bewältigen, hilft es, Routinen und Strukturen zu etablieren. Dazu gehören auch bewusste Auszeiten, um sich selbst etwas Gutes zu tun.