Diabetes und Essverhalten |
Isabel Weinert |
01.07.2020 13:00 Uhr |
Es sind vor allem die jüngeren Frauen unter den Typ-1-Diabetikern, die für ihre schlanke Linie bereit sind, ihre Gesundheit zu opfern. / Foto: Adobe Stock/zigres
Menschen ohne Typ-1-Diabetes beziehungsweise ohne insulinpflichtigen Typ-2-Diabetes verstehen deren Essverhalten oft überhaupt nicht. Da gibt es in fünf Minuten Mittagessen, und der Diabetiker im Freundeskreis beginnt plötzlich, Traubenzucker zu futtern. Kann doch nicht wahr sein. Ist es aber und noch dazu logisch, denn die Therapie mit Insulin, die einzig mögliche für Menschen mit Typ-1-Diabetes, hat eine sehr häufige Nebenwirkung: Das gespritzte Insulin senkt den Blutzucker unter verschiedenen Umständen einfach zu weit ab. Der Diabetiker bekommt eine Unterzuckerung (Hypoglykämie), die er mit Süßem, am wirkungsvollsten mit Traubenzucker, sofort bekämpfen muss. Sonst droht schlimmstenfalls ein Unterzucker-Schock. Er kann also nicht noch fünf Minuten auf die Hauptmahlzeit warten, deren Kohlenhydrate zudem nicht so schnell wirken wie Traubenzucker.
Dieses »Zwischenrein und manchmal zur Unzeit essen müssen« ist kein Zeichen einer Essstörung. Es kann aber dazu führen, dass das natürliche Essverhalten des Betroffenen immer wieder gestört wird. Am besten erklären Diabetiker das den Menschen, mit denen sie zu tun haben. So kommen keine Missverständnisse auf.
Von den circa 340.000 Typ-1-Diabetikern in Deutschland handelt es sich bei 320.000 um Kinder und Jugendliche unter 19 Jahren. In der Gruppe der Jugendlichen und der jungen Erwachsenen sind es besonders junge Typ-1-Diabetikerinnen, die häufig ein Verhalten entwickeln, das nur der insulinpflichtige Diabetes ermöglicht. Sie lassen bewusst Insulininjektionen aus. Im Körper zeigt sich der dadurch bedingte Insulinmangel in einem Anstieg der Blutzuckerwerte. Das hat gesundheitsschädliche, aber schlankmachende Folgen: Ab der Nierenschwelle für Glucose, die bei etwa 160 mg/dl liegt, wird die Glucose in großen Mengen über den Urin ausgeschieden. Mit ihr verlassen große Harnmengen den Körper. Beides macht schlanker, weniger Wasser im Körper und der Verlust des Energiespenders Glucose.
Diese, als Insulin-Purging bezeichnete Störung kann gefährliche Folgen haben. Akut in Form einer Ketoazidose, einer schnell lebensgefährlichen Übersäuerung des Blutes, langfristig durch die Entwicklung von Diabetes-Folgeschäden aufgrund der durch den Insulinmangel zu hohen Blutzuckerwerte. Ein Diabetiker mit Ketoazidose leidet unter Übelkeit, Erbrechen, häufigem Wasserlassen, Durst, Schwäche und Benommenheit. Der Betroffene braucht sofort ärztliche Hilfe im Krankenhaus.
Die negativen Dauerfolgen der durch das Insulin-Purging zu hohen Blutzuckerwerte zeigen sich deutlich häufiger als bei gut eingestellten Diabetikern unter anderem in Nierenschäden bis hin zur Dialyse und in Nervenschäden, der sogenannten diabetischen Polyneuropathie. Das Risiko, zu sterben, liegt sogar dreifach höher.
Neben dem Insulin-Purging erkranken vor allem die jungen Frauen unter den Typ-1-Diabetikern auch doppelt so häufig an einer Bulimie, verglichen mit Menschen ohne Diabetes. Sie essen und erbrechen. Damit gesellt sich zum für den Organismus ohnehin schon schädlichen Diabetes eine weitere Erkrankung, die dem Körper Energie und Nährstoffe raubt.
Essstörungen treten aber auch bei Typ-2-Diabetes vermehrt auf, der mit circa sieben Millionen Fällen allein in Deutschland klar dominiert. Hier überwiegt das sogenannte »Binge-Eating«, übersetzt als »Essgelage«. Die Betroffenen bekommen immer wieder unkontrollierte Fressattacken, erbrechen das Essen im Gegensatz zu Bulimikerinnen aber nicht. Damit nehmen sie mehr und mehr zu. Besonders fatal, weil Übergewicht in vielen Fällen Typ-2-Diabetes überhaupt erst entstehen lässt.
Eine Spielart des Binge-Eatings ist die »Night eating disorder«. Wer daran leidet, nimmt ein Viertel bis die Hälfte seines täglichen Energiebedarfs erst nach 19.00 beziehungsweise nachts zu sich. Jeder Diabetiker weiß, dass spätabendliches ausgiebiges Essen die Blutzuckerwerte über Nacht meist durcheinanderbringt. Den Blutzuckerwert am nächsten Morgen kann man so getrost vergessen, er liegt oft viel zu hoch. Zudem steigern sowohl Binge-Eating als auch das nächtliche Futtern die Insulinresistenz und verschlimmern auf diese Weise den Diabetes.
Die Quintessenz für alle Essstörungen bei Diabetikern: Die Blutzuckereinstellung verschlechtert sich. Die Betroffenen schämen sich in aller Regel für ihr selbstschädigendes Verhalten und vertuschen es so gut wie möglich, kommen aber ohne Hilfe auch nicht davon los. Deshalb müssen alle, die in die Therapie eingebunden sind, und damit auch PTA und Apotheker, ein Auge darauf haben, ob sich bei einem Diabetiker eine Essstörung entwickelt haben könnte. Einfach ist das nicht. Deutliche Gewichtsschwankungen und sehr hohe Blutzuckerwerte können darauf hinweisen. Bei jungen Typ-1-Diabetikern könnten PTA und Apotheker falls erreichbar womöglich die Eltern des Betroffenen vorsichtig ansprechen. Den Betroffenen selbst kann man, wenn die Situation es zulässt, zu einer Psychotherapie raten. Dabei ist es wichtig, dass sich der behandelnde Therapeut mit Diabetes auskennt. Er bezieht unter Umständen auch die Familie des Diabetikers in die Therapie mit ein. Die Resultate der Intervention sind häufig positiv. Die Diabetiker essen wieder so normal, wie es ihre Erkrankung zulässt und stabilisieren sich. Unter https://www.diabetes-psychologie.de/ können Angehörige und Diabetiker versuchen, einen geeigneten Therapeuten in ihrer Umgebung zu finden. Ergibt die Suche kein Resultat, können sie sich auch an ihre Krankenkasse wenden, die Listen von Psychotherapeuten führt.