Die Sucht nach immer mehr Muskeln |
Besonders junge Männer geraten in den Strudel eines übermäßigen Krafttrainings. / Foto: Adobe Stock/Staras
Bodybuilding ist gesellschaftsfähig geworden. Männer aus allen Gesellschaftsschichten wollen möglichst »breit« werden. »Strong, not skinny« ist das Motto vieler Frauen, die mit Sport ihren Körper formen und stählern wollen. Doch je fitter manche Menschen objektiv aussehen, desto weniger zufrieden sind sie mit sich selbst. Daraus kann sich eine Muskelsucht entwickeln.
Bei der »Muskelsucht« (Muskeldysmorphie) kann die eigene Muskelmasse nie mit den persönlichen Idealvorstellungen mithalten. Es handelt sich dabei um eine weitgehend unerforschte Körperwahrnehmungsstörung, die als muskeldysmorphe Störung bezeichnet wird. Dysmorphie kommt aus dem Griechischen und bedeutet »Missgestalt« oder »Hässlichkeit«. Die teilweise ebenfalls gebräuchliche Bezeichnung Bigorexie ist ein Kofferwort aus dem Englischen »big/bigger« und dem Griechischen »rexie« für Appetit. Die Bezeichnung »Adonis-Komplex« ist ein weiteres Synonym für das Störungsbild. Als Krankheit ist das Phänomen recht jung und wurde erstmals in den 90er-Jahren in einer Studie über Bodybuilder beschrieben.
Die Muskeldysmorphie erhielt 2013 Einzug in die fünfte Auflage des Diagnostischen und Statistischen Handbuchs Psychischer Störungen (DSM-5). Dort findet man sie als Variante der körperdysmorphen Störung unter den Zwangsspektrumsstörungen. ICD-10 beschrieb hingegen körperdysmorphe Störungen als somatoforme Störungen ohne Wahn oder als anhaltende wahnhafte Störung. Die aktuelle Version 11 des ICD klassifiziert die Muskelsucht ebenso wie DSM-5 als Form der Zwangsstörung. Es wird darauf hingewiesen, dass in der Regel Männer betroffen seien und diese ein erhöhtes Risiko für Komplikationen hätten, die eine ärztliche Behandlung erforderten. Mögliche Komplikationen seien Muskelrisse, Zerrungen oder Nebenwirkungen einer Steroideinnahme.
Eine Muskeldysmorphie manifestiert sich meistens im jungen Erwachsenenalter. Wie viele Menschen genau betroffen sind, ist unklar. Die Ursachen sind ebenfalls noch nicht ausreichend erforscht. Betroffene üben in der Regel Bodybuilding oder Gewichtheben aus. Daraus kann aber nicht zwangsläufig geschlussfolgert werden, dass diese Sportarten eine Muskeldysmorphie verursachen. Eher ist es so, dass sich bevorzugt Menschen zu diesen Sportarten hingezogen fühlen, die bereits anfällig für ein gestörtes Verhältnis zu ihrer Muskulatur sind. Muskeldysmorphie tritt häufig zusammen mit Angstzuständen und Depressionen auf. Bei manchen Patienten kann sie eine Reaktion auf körperliche oder psychische Misshandlungen sein. Die vielen Muskeln sollen dann dazu dienen, sich besser verteidigen und schützen zu können.
Jugendliche und junge Männer, die mit der Wahrnehmungsstörung zu kämpfen haben, berichten häufig über ein geringes Selbstwertgefühl. Einige von ihnen waren in ihrer Kindheit unter- oder übergewichtig und wurden gemobbt. Es gibt Hinweise darauf, dass die Muskeldysmorphie – ähnlich wie Essstörungen – durch soziokulturelle Einflüsse gefördert werden könnte. So scheint beispielsweise das von den Medien vermittelte ideale männliche Körperbild im Laufe der Jahre immer muskulöser geworden zu sein. Filmhelden der 1940er- und 1950er-Jahre waren nicht annähernd so muskulös wie viele der heutigen Action-Stars. Hinzu kommen die sozialen Medien, die zu einem Körperkult und zu ständigen Vergleichen verleiten.
Es gibt weitere Überschneidungen und Ähnlichkeiten mit Essstörungen. Menschen mit Anorexia nervosa und mit Muskeldysmorphien verbindet ein hohes Maß an Körperunzufriedenheit. In beiden Störungen spiegeln sich klassische kulturelle Körperideale. Männer können demnach nie muskulös und Frauen nie dünn genug sein. Zwanghafte Sport- beziehungsweise Diätgewohnheiten prägen den Alltag der Patienten. Auf psychologischer Ebene finden sich Gemeinsamkeiten wie ein geringes Selbstwertgefühl und Perfektionismus. Da sich die Krankheiten einerseits ähneln, dann aber wieder gegensätzlich sind, wurde vorgeschlagen, die Muskelsucht als »reverse anorexia nervosa« zu bezeichnen.
Treten folgende Verhaltensweisen gehäuft auf, kann möglicherweise eine muskeldysmorphe Störung vorliegen:
Obwohl die Muskeldysmorphie in der Regel mit Männern in Verbindung gebracht wird, tritt sie auch bei Frauen auf. Die Betroffenen haben einen vergleichsweise hohen Body-Mass-Index mit einem hohen Anteil an fettfreier Masse. Das trifft freilich auch auf einige Sportler ohne Körperbildstörung zu. Ebenso findet sich die Leidenschaft fürs Training bei vielen Amateur- und Profibodybuildern und Powerliftern.
»Die Grenzen zwischen einer ambitionierten und krankhaften Einstellung zum Training können in der Tat verschwimmen«, sagt Professor Dr. Christian Strobel, psychologischer Psychotherapeut und ehemaliger Leiter der einzigen Spezialberatung für Muskeldysmorphie in der Caritas-Fachambulanz für Essstörungen in München gegenüber PTA-Forum. »Kennzeichnend für ein sportsüchtiges Verhalten ist der Zwang, mit dem die Patienten ihren Sport betreiben.« Die Betroffenen trainieren nicht mehr aus Lust, sondern aus Angst, dass sie sonst Muskeln verlieren. Die Gedanken kreisen ständig um die eigene Muskulatur.
Die strikten Trainings- und Diätprogramme engen das Leben ein. Arbeitsplatzverlust und Beziehungsabbrüche können die Folge sein. Die Patienten investieren viel Geld in Fitnessstudio, Supplemente und andere Hilfsmittel. Das Verhalten kann selbstschädigendes Ausmaß annehmen. Trotz Verletzungen führen Menschen mit Muskeldysmorphie ihr Training weiter durch. Schmerzen unterdrücken sie mit Analgetika. Bei Müdigkeit erzwingen Koffein und andere Stimulanzien die Trainingseinheit. Nicht zu unterschätzen ist der Konsum an gesundheitsgefährdenden Muskelaufbaupräparaten, wie anabole Steroide.
Viele Patienten sind uneinsichtig, dass ihr Verhalten nicht gesund ist und die Muskeln längst überproportional erscheinen. Bei Krankheitseinsicht ist es nicht zielführend, wenn Patienten in Eigenregie versuchen, sich aus den Zwängen zu befreien. Strobel rät, sich so schnell wie möglich professionelle Hilfe zu holen. Die Behandlung ist selbst für Fachkräfte herausfordernd. »Es mangelt noch an evidenzbasierten Kenntnissen, wie wir Menschen mit einer muskeldysmorphen Störung am besten helfen können«, sagt der Experte. Interventionen orientieren sich meistens an der Therapie von Anorexia nervosa, Zwangsspektrumsstörungen oder Verhaltenssüchten. Unter den Arzneimitteln können Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer Erfolg versprechend sein.
»Langfristig scheint eine kognitive Verhaltenstherapie am wirkungsvollsten zu sein«, sagt der Psychotherapeut. Bei der kognitiven Verhaltenstherapie allein oder in einer Gruppe werden Strategien entwickelt, um das krankhafte Denken und die verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpers zu überwinden. Patienten sollen erkennen lernen, welche Funktion die Zwänge für sie haben. Der Therapeut bestärkt in gesunden Verhaltensweisen und unterstützt dabei, eine wohlwollende und liebevolle Einstellung zum eigenen Körper zu entwickeln. Die Patienten lernen Wege, mit ihren Gefühlen umzugehen und einen Sinn im Leben außerhalb des Trainings zu finden.
Bei Jugendlichen kann eine familienbasierte Therapie erforderlich sein. Eine Ernährungstherapie ist angezeigt, wenn Betroffene Hilfe benötigen, um zu einem gesunden Essverhalten zurückzufinden. Es gilt, dem Patienten wieder zu mehr Freiheiten in seiner Ernährung zu verhelfen und Ängste vor bestimmten Lebensmitteln abzubauen. Zu beachten ist, dass Folgeschäden oder Abhängigkeiten vorliegen können, die einer gesonderten Behandlung bedürfen. Patienten, die Steroide oder andere leistungssteigernde Medikamente einnehmen, setzen diese am besten kontrolliert und unter Aufsicht eines Endokrinologen ab.
Die oft unterschätzte oder verkannte Krankheit kann viel Leid erzeugen und ist schwer zu behandeln. Daher sollte Prävention an erster Stelle stehen. Dabei kommt dem Elternhaus eine wichtige Funktion bei. Wenn Eltern Anzeichen von Mobbing erkennen, braucht das Kind ihre Unterstützung. Anhaltendes Mobbing kann zu Problemen mit dem Körperbild und dem Selbstwertgefühl führen. Ess- und Angststörungen, aber auch körperdysmorphe Störungen wie die Muskelsucht können die Folge sein. Soziale Medien sind Fluch und Segen zugleich. Zahlreiche Influencer stellen es als normal dar, sich ständig mit dem Körper zu befassen und geben Tipps, wie ihre Anhänger ihn optimieren können. Sie fördern es, dass sich junge Menschen zu dick, zu klein oder eben auch zu schmal empfinden.
Eltern können gegensteuern. Sie können das Selbstwertgefühl des Kindes fördern und männlichen Jugendlichen ein differenzierteres Konzept von Männlichkeit vermitteln und gesunde Verhaltensweisen vorleben. Jugendlichen tut es gut zu hören, dass in ihrem Alter eine gewisse Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper verbreitet ist und dass sie nicht allein sind. Das Apothekenteam kann dazu ermutigen, dass die Generationen im Gespräch bleiben, Eltern Interesse an den sportlichen Ambitionen des Kindes zeigen und seine Sorgen ernst nehmen. Wenn Eltern Sportarten wie Bodybuilding kategorisch ablehnen, führt das möglicherweise dazu, dass sich der Teenager nur noch weiter zurückzieht und tiefer in seinem Sportwahn versinkt. Wichtiger ist es, die Botschaft zu vermitteln, dass körperliche Betätigung und eine bewusste Ernährung grundsätzlich gut sind. Beides darf jedoch nicht zur Obsession werden.