Die Welt der Töne nutzen |
Isabel Weinert |
07.07.2022 15:00 Uhr |
Singen in der Gemeinschaft hat gleich mehrere die Stimmung positiv beeinflussende Effekte. / Foto: Getty Images/Jose Luis Pelaez Inc
PTA-Forum: Was unterscheidet Musiktherapie von einer pharmakologischen Therapie mit Medikamenten?
Tüpker: Der wesentliche Unterschied zwischen den künstlerischen Therapien und den Therapien mit Medikamenten im pharmakologischen Sinn besteht darin, dass Medikamente möglichst bei jedem Menschen dieselbe Wirkung zeigen sollen, wohingegen künstlerische Therapien immer sehr individuell und vielfältig sind.
PTA-Forum: Lässt sich über das Hören von Musik oder das selbst Musizieren die eigene Stimmung gezielt beeinflussen?
Tüpker: Das lässt sie sich auf jeden Fall. Das ist sowohl eine Alltagserfahrung als auch in einigen Studien gezeigt. Vielleicht kann man auch sagen, dass Kultur allgemein unsere Stimmung beeinflussen kann. Musik ist da nicht exklusiv, sondern man beeinflusst sich auch selbst, wenn man ein tolles Buch liest oder tanzt oder ins Museum geht, einfach eine Anregung bekommt, die uns aus dem Alltag ein bisschen herausnimmt. Und bei Musik geht das sehr in den Bereich der eigenen Stimmung.
PTA-Forum: Wenn es einem Menschen gerade seelisch schlecht geht, welche Art von Musik hilft dann am besten
Tüpker: Dazu gibt es einige Studien, die ganz klar zeigen, dass Menschen Musik hören, die die eigene Stimmung aufgreift, dass man also bei Traurigkeit durchaus traurige Musik hören kann und sollte. Das Seelische braucht eine Widerspiegelung im Außen. Das schafft Musik, die zur eigenen Stimmung passt. Es kann auch durchaus sein, dass man dasselbe Stück fünfmal hört. Auch wenn die eigenen Kinder das machen, muss man nicht erschrecken. Das Seelische fühlt sich in der Musik verstanden. Wenn man sich in der Musik verstanden fühlt, dann geht es einem hinterher etwas besser.
PTA-Forum: Und die Musik zieht den Menschen dann nicht nochmal mehr runter?
Tüpker: Nein, das sehe ich nicht so. Ich hätte auch keine Angst, wenn jemand im Alltag oft hintereinander immer dieselben traurigen Stücke hört. Ich würde darauf vertrauen, dass das Seelische daran etwas abarbeitet und irgendwann hat man auch genug davon.
PTA-Forum: Zeigt der Konsum von Musik ähnliche Wirkung wie das selbst Singen oder Musizieren?
Tüpker: Es gibt deutliche Unterschiede, weil man beim selbst Musizieren auch aktiv ist. Man bewegt die Finger, wenn man ein Instrument spielt, ist eben auch körperlich aktiv; und das eigene Musizieren ist meistens ein relativ kontinuierlicher Prozess, indem man etwa regelmäßig übt und damit noch ganz andere Prozesse anstößt. Die körperlichen Einflüsse, etwa die Atmung beim Singen, machen das Erleben sehr viel intensiver, als wenn man Musik passiv hört.
Hinzu kommt, dass Menschen oft gemeinsam musizieren, sei es im Chor oder in einem Ensemble. Auf diese Art fühlen sie sich miteinander verbunden. Das gelingt natürlich auch über ein Gespräch, aber das ist immer darauf angewiesen, dass man nacheinander spricht. Im Chor hingegen hat das Gleichzeitige noch einmal einen besonderen Effekt.
PTA-Forum: Bei welchen Krankheiten kann Musik helfen?
Tüpker: An dieser Stelle würde ich unterscheiden zwischen der Musiktherapie als Therapieverfahren und dem, worüber wir bisher sprachen, also einer Selbstfürsorge im Alltag mit Hilfe der Musik.
In der Musiktherapie kann man unterscheiden zwischen einem Bereich, in dem diese Methode eine Form von Psychotherapie ist. Das psychotherapeutische Gespräch wird hier durch Musik ergänzt. Dazu wählt man meist die freie oder angeleitete Musikimprovisation. Das ermöglicht den Patienten, einen Teil eines Konflikts, einer Depression oder eines Problems, die sich nicht so gut in Sprache auflösen lassen, erlebbar zu machen. Das ist gebunden an die therapeutische Beziehung. Möglich ist dieser Prozess auch in einer Gruppentherapie, in der die Beteiligten mit Hilfe der Musik intensive Erfahrungen machen.
Ein weiteres musiktherapeutisches Feld ist die Arbeit mit dementen Menschen. Hier spielt die Musik eine ganz besondere Rolle, weil die musikalischen Strukturen offensichtlich die Demenz ziemlich lange überstehen. So gibt es Menschen mit Demenz, denen nichts mehr richtig gelingt, die aber mühelos noch etliche Strophen verschiedener Lieder singen können. Das funktioniert immer nur, wenn es angeregt wird, aber die Menschen fühlen sich dann viel besser und intakt. Dieses Erleben, nicht immer nur mit den eigenen Schwächen konfrontiert zu sein, ist sehr wirksam. Es verändert zwar nichts an der Demenz, steigert aber die Lebensqualität.
Dann gibt es den Bereich der Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung oder mit Menschen, die im Koma sind. In der Musiktherapie mit Kindern geht es eher um Entwicklungen, die angeregt werden können.
PTA-Forum: Welche Möglichkeiten existieren im Alltag gesunder Menschen, die Musik zu nutzen?
Tüpker: Musik kann helfen, sich seinen Tag zu strukturieren. So kann man sich etwa abends immer eine halbe Stunde nehmen, um bewusst schöne Musik zu hören. Auch das Radiohören kann man bewusster zelebrieren als mit dem dauernden Konsum im Hintergrund. So kann man etwa morgens seiner Lieblingsplaylist eine Chance geben, statt den Nachrichten. Dann gibt es auch Menschen, die mit Musik besser arbeiten können. Gerade Jugendliche lernen dann oft konzentrierter. Deshalb sollten Eltern die musikalische Untermalung der Hausaufgaben nicht verbieten, sondern den Kindern zutrauen, dass sie wissen, wie sie das am besten erledigen können.
PTA-Forum: Spielt es eine Rolle, ob man sich immer wieder für neue Lieder begeistert oder lieber stets die alten Lieder hört?
Tüpker: Es spricht überhaupt nichts dagegen, immer dieselben alten Lieder zu hören. Das ist oft auch eine Zeitfrage. Solange man beruflich noch sehr eingespannt ist, dienen die immer gleichen musikalischen Rituale wie andere Rituale auch oft der Stabilisierung und der Entspannung. Neue Arten von Musik lernen die Menschen am ehesten durch Beziehungen zu anderen Menschen kennen. Aber es ist nicht das eine besser oder schlechter.
PTA-Forum: Der Unterschied klassische und moderne Musik – spielt das in der Musiktherapie eine Rolle?
Tüpker: In dem aktiven Bereich der Improvisation lässt sich die Frage nicht beantworten, weil die Therapeuten sich nach dem richten, was aus dem Patienten mit den zur Verfügung gestellten Instrumenten herauskommt. Das ist nicht Klassik oder Pop, sondern oft etwas ganz eigenes, was sich keinem Stil zuordnen lässt.
Bei der Musikrezeption werden verschiedene Stücke zusammengestellt, die zum Beispiel der Entspannung oder einer emotionalen Anregung dienen sollen. Hier wählen die Therapeuten meist klassische Musik, aber auch gemischt mit bestimmter Popmusik.
Wenn man mit Jugendlichen arbeitet, ist es immer unsere Aufgabe, uns dem anzunähern, was der Patient so hört. Ich habe durch Patienten sehr viel Musik kennengelernt, die ich mir sonst eher nicht angehört hätte.
Es gibt hier auch kein besser oder schlechter der einzelnen Musikrichtungen untereinander.
PTA-Forum: Wer zahlt die Kosten einer Musiktherapie?
Tüpker: Der größte Anwendungsbereich der Musiktherapie ist im stationären Kontext. Da wird es über die Pauschalen abgerechnet. Ambulant zahlen es die Kassen bis auf ein paar Privatkassen eher nicht, außer bei bestimmten Arten von Behinderungen. Es gibt auch ein paar niedergelassene Musiktherapeuten mit Patienten, die das selbst zahlen können oder über Berufsgenossenschaften überwiesen werden, aber dieser Bereich ist relativ klein.
PTA-Forum: Wie geht es nach einer Musiktherapie weiter?
Tüpker: Das ist sehr individuell und hängt davon ab, wie das ins Leben passt. Die ehemaligen Patienten können sich zum Beispiel einem Chor anschließen, Jugendliche, die sich stark zurückgezogen haben, lassen sich vielleicht in eine Bandarbeit einbinden, so dass sie wieder im positiven Sinne Gemeinschaft erfahren.
PTA-Forum: Kann man auch noch in höherem Lebensalter einen Zugang zur Musik finden?
Tüpker: Auf jeden Fall. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt. Es gibt auch den Begriff der Musikgeragogik, der sozusagen die musikalische Bildungsarbeit im Alter beschreibt. Da kann es darum gehen, nochmal ein Instrument zu lernen und sich damit auf etwas völlig Neues einzulassen. Manchen gelingt es sogar, ein schwieriges Instrument zu erlernen. Der Umgang mit dem Instrument und mit der Musik verlangt Körper und Geist auch noch einmal neue Fertigkeiten ab. Und ältere Menschen haben auch den Vorteil, meist disziplinierter zu sein.
PTA-Forum: Hat Stille auch Musik?
Tüpker: Ja, und es ist eigentlich sehr sinnvoll, die Stille in sein Leben zu lassen, denn unter einer dauernden musikalischen Dauerberieselung stumpft man auch ab. Es gibt zur Stille in der Medizin einen interessanten Befund. Dabei ging es um eine Untersuchung bei Schmerzpatienten. Besserten sich ihre Schmerzen eher mit einer extra dafür komponierten Musik, mit der eigenen Lieblingsmusik oder in Stille? Das erstaunliche Ergebnis: Es war die Stille, die die Schmerzen besser linderte.