Diskriminierung der Alten |
Während in manch anderer Gesellschaft die Achtung der Menschen vor dem Alter kulturell etabliert ist, zeigt sich unter anderem in Deutschland eher ein gegenteiliger Trend. / Foto: Adobe Stock/digitalstock
Die Weltbevölkerung altert, und zwar schneller und stärker als je zuvor. Prognosen zufolge werden im Jahr 2050 mehr Menschen über 60 Jahre alt sein als unter 15. Für Deutschland nehmen Experten an, dass bereits 2030 35 Prozent der Bevölkerung älter als 60 Jahre sein wird. Und obwohl die meisten Menschen für sich selbst ein möglichst langes Leben herbeiwünschen, wird der wachsende Anteil älterer Menschen in der Gesellschaft von vielen kritisch gesehen. Wie sehr, zeigt die Studie »Ageismus – Altersbilder und Altersdiskriminierung in Deutschland« für die das Meinungsforschungsinstitut Kantar Public im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2000 Menschen ab 16 Jahren befragt hat. Demnach sind 53 Prozent der Befragten der Ansicht, dass ältere Menschen nicht zum Fortschritt der Gesellschaft beitragen. 40 Prozent sind der Meinung, dass sie jüngere Menschen bei der Bewältigung des Klimawandels im Stich lassen würden. Rund ein Drittel der Befragten stimmte der Aussage zu, dass ältere Menschen der jüngeren Generation Platz machen sollten, indem sie wichtige berufliche und gesellschaftliche Rollen aufgeben. Mehr als die Hälfte der Befragten sprachen sich für Altersgrenzen bei politischen Ämtern aus.
Rund um das Thema Alter existieren zahlreiche Stereotypien, Überzeugungen, Vorstellungen und Erwartungen. Die meisten davon sind defizitorientiert. So wird Alter und Altern von vielen Menschen mit Gebrechlichkeit, dem Nachlassen körperlicher Kräfte und geistiger Fähigkeiten, Hilflosigkeit und Abhängigkeit assoziiert. In der öffentlichen Diskussion sind die Themen Alter und demografischer Wandel eng mit der Knappheit wirtschaftlicher Ressourcen verknüpft. Es geht um die geringere Produktivität älterer Menschen, den länger werdenden Rentenbezug und die erhöhten Pflege- und Gesundheitskosten. Ältere Menschen werden als Belastung und Bedrohung für das Sozialleistungssystem gesehen.
In vielen Lebensbereichen werden ältere Menschen ungleich behandelt, benachteiligt oder eingeschränkt. Versicherungen erhöhen bei festgelegten Altersgrenzen die Beiträge, versichern ältere Menschen nicht oder verweigern bestimmte Behandlungen. Banken gewähren seltener Kredite. Trotz Fachkräftemangel ist es für Menschen ab 55 Jahren schwieriger, einen Job zu finden, in Stellenausschreibungen wird nach »jungen, dynamischen« Mitarbeitern gesucht. Und auch die medizinische Versorgung ist problembehaftet. Das Klischee, ältere Menschen würden Ärzte nur aufgrund von Einsamkeit aufsuchen und nicht wegen behandlungsbedürftiger Erkrankungen, hält sich hartnäckig und kann negative gesundheitliche Folgen haben. Auswirkungen auf die Lebensqualität hat es, wenn Behandlungen aufgrund des Alters abgelehnt werden, weil sie sich nicht mehr »lohnen« würden.
Dass es sich bei all diesen Beispielen um Altersdiskriminierung handelt, ist nur wenigen Menschen bewusst. Einschränkungen aufgrund des Alters gelten häufig als selbstverständlich, normal oder nachvollziehbar und werden nur selten angezweifelt. Die Definition der Antidiskriminierungsstelle des Bundes ist in diesem Zusammenhang allerdings eindeutig: Diskriminierung liegt immer dann vor, »wenn Menschen in einer vergleichbaren Situation schlechter behandelt werden, diese Schlechterbehandlung an ein schützenswertes Merkmal anknüpft und kein sachlicher Rechtfertigungsgrund dafür vorliegt«. Geschieht dies aufgrund des Lebensalters, handelt es sich um Altersdiskriminierung.
Nach Angaben der Antidiskriminierungsstelle zählt Altersdiskriminierung zu den häufigsten Diskriminierungsformen. Rund jede zehnte Beratungsanfrage bezog sich im Jahr 2020 auf das Alter. In den meisten Fällen auf ein höheres Lebensalter. Und das hat Folgen. So zeigt die Stude »ICH? Zu alt? Diskriminierung älterer Menschen« des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS), die im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend durchgeführt wurde, dass Altersdiskriminierung die Möglichkeiten der Teilhabe und des selbst bestimmten Handelns im Alter erheblich einschränkt. Das betrifft soziale Kontakte, Mobilität, Freizügigkeit und Gestaltungsspielräume. Aus subjektiver Perspektive trägt Altersdiskriminierung zum Erleben von (drohender) Isolierung, Verunsicherung, Ungerechtigkeit und Verletzung sowie zur Wahrnehmung, im Alter abgeschoben und nicht mehr wertgeschätzt zu werden, bei.
Welche Auswirkungen negativer Altersbilder und Altersdiskriminierung auf den gesamten Alterungsprozess haben, zeigt die Psychogerontologie eindrücklich. So konnten Studien nachweisen, dass eine positive Einstellung zum eigenen Älterwerden, die Lebenszeit verlängert. Durchschnittlich sieben Jahre waren es in einer Langzeitstudie in den USA. Die deutschen Forscherinnen Susanne Wurm und Sarah Schäfer von der Universität Greifswald kamen zu einem noch erstaunlicheren Ergebnis. Menschen, die das Altern als Entwicklungsprozess betrachteten, nicht aufhörten Ideen und Pläne umzusetzen, Neues zu lernen und Ziele zu verfolgen, lebten im Durchschnitt 13 Jahre länger. Ausgewertet wurden die Daten von 2400 Studienteilnehmern zwischen 40 und 85 Jahren, die 1996 im Rahmen des Deutschen Alterssurveys zu ihrer Sicht auf das eigene Älterwerden befragt worden waren. Auch in der Lebensweisheit »Man ist so alt, wie man sich fühlt« steckt mehr Wahres, als man vermuten würde. Studien konnten zeigen, dass ein gefühltes jüngeres Alter ein höheres Wohlbefinden, eine bessere Gedächtnisleistung und eine gesteigerte körperliche Gesundheit begünstigt.
Die Gründe dafür haben Wissenschaftler vom Deutschen Zentrum für Altersfragen untersucht. Sie befragten im Abstand von drei Jahren mehr als 5000 Menschen über 40 Jahre aus ganz Deutschland dazu, wie alt sie sich fühlen, wie sie ihren aktuellen Gesundheitszustand beschreiben und wie viel Stress sie empfinden. Hierbei zeigte sich, dass Studienteilnehmer, die sich angespannt und belastet fühlten, drei Jahre später mehr gesundheitliche Einschränkungen aufwiesen. Reduziert wurde dieser Zusammenhang, wenn die Teilnehmer sich subjektiv jünger fühlten, als sie es objektiv waren. Die schützende Wirkung des gefühlten Alters stieg mit zunehmendem Alter der befragten Menschen an. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass ein subjektiv jüngeres Alter dazu beiträgt, die negativen Auswirkungen von Stress auf die geistige und körperliche Gesundheit zu reduzieren. Denn bekannt ist, dass Menschen, die sich jünger fühlen, glücklicher sind, mehr Sport treiben und sich gesünder ernähren.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat die Jahre 2021 bis 2030 als Dekade des gesunden Älterwerdens ausgerufen und zum Ziel gesetzt, Altersbilder zu hinterfragen und Altersdiskriminierung zu reduzieren. Ein erster Schritt sind verbindliche rechtliche Regelungen. Derzeit fällt Altersdiskriminierung in eine Art »Grauzone«, die von vielen Organisationen und Institutionen, die sich für die Rechte älterer Menschen einsetzen, kritisiert werden.
In Deutschland soll Artikel 3 des Grundgesetzes vor Diskriminierung schützen. Er enthält eine Auflistung von Merkmalen, aufgrund derer keine Benachteiligung oder Bevorzugung stattfinden darf. Einen ausdrücklichen Schutz des Alters umfasst das Grundgesetzt jedoch nicht. Ein explizites Verbot findet sich nur im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Dieses gilt allerdings nicht für alle Lebensbereiche, sondern regelt nur das Arbeitsrecht sowie den Zugang zu Dienstleistungen und Gütern.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen e. V. (BAGSO) fordert deshalb, den Artikel 3 des Grundgesetzes um das Merkmal »Lebensalter« zu erweitern. Zudem setzt sie sich ebenso wie das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) für eine UN-Altenrechtskonvention ein. Zwar sichere das derzeit bestehende Menschenrechtsschutzsystem allen Menschen, unabhängig vom Alter, die gleichen Menschen- und Grundrechte zu, allerdings zeige die Situation in Deutschland und weltweit, dass Ältere nicht ausreichend geschützt werden und sie ihre Rechte seltener wahrnehmen können, schreiben die Experten auf der Website des Instituts.
Die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e. V. sieht rechtliche Regelungen ebenfalls als wichtigen Schritt zur Bekämpfung von Altersdiskriminierung, ist aber auch überzeugt, dass sich die gesellschaftliche Wahrnehmung älterer Menschen ändern müsse. Durch die steigende Lebenserwartung, bessere Gesundheitsversorgung und demografische Umstände würden ältere Menschen – oft unbemerkt – neue, wichtige Rollen in der Gesellschaft einnehmen. Auf Dauer an der negativen Wahrnehmung des Alters festzuhalten, verkennt das Potenzial unzähliger Menschen und wirkt sich negativ auf die Gesellschaft als Ganzes aus.
Die Mehrheit der Menschen, die das Meinungsforschungsinstitut Kantar Public für die Studie „Ageismus – Altersbilder und Altersdiskriminierung in Deutschland“ befragt hat, gab auf diese Frage ein Alter ab 60 Jahren an. In der Gerontologie wird ein Mensch als alt definiert, wenn die Hälfte seiner Geburtenkohorte bereits verstorben ist. Dass ist heute weder bei den 60- noch bei den 70-Jährigen der Fall. Ausgehend von der heutigen Lebenserwartung wäre ein Mensch erst alt, wenn er das 80. Lebensjahr überschritten hat. In der Praxis sprechen Gerontologen deshalb bei Menschen zwischen dem 60. und 85. Lebensjahr von jungen Alten, bei Menschen über 85 Jahre von Hochbetagten.